Direkt zum Seiteninhalt

Alexander Kappe: nachreden auf dunkelengel

Rezensionen/Lesetipp > Rezensionen, Besprechungen


Kristian Kühn

Alexander Kappe: nachreden auf dunkelengel. Gedichte. Mit Fotografien von Michael Wagener. Frankfurt a.M. (gutleut Verlag) 2023. 104 Seiten. 29,00 Euro.

Der brausende, zerspringende Avalokiteshvara


Jetzt ist bei gutleut in Frankfurt ein Buch von Alexander Kappe erschienen, ein kleiner fast unscheinbarer Lyrikband, der sechs Kapitel enthält, angekündigt sind sieben, und tatsächlich, wenn man den Schutzumschlag auseinanderfaltet, erscheint auf der Innenseite als siebtes ein Rätsel namens „auf der dunklen seite des kometen“, das auf die Länge eines Prosagedichts um die „mysterien der milchstraße“ handelt, im Eiltempo und apokryph. Schon von der undurchsichtigen äußeren Aufmachung her ist klar: hier geht es um eine vielschichtige Metaphorik, die mit zumindest einer doppelten, wenn nicht mehrfach überlagerten Sicht, changierend zwischen Comic, Wissenschaft und Mystik, ihre Metonymien aufgebaut hat, als wolle jemand die feinstoffliche Welt, sich auf Bilder fixierend, durchdringen oder zumindest als Feuerwerk sie im Gedankenflug auseinanderstieben lassen.

Auf S. 60 beginnt ein Gedicht „wie verzweifeln, um zu wachsen?“ mit

vielkopf
der mit lederjacke – der brausende.

Und da sind wir dann zwischen Orpheus und Avalokiteshvara, denn jener hatte bekanntlich, statt wie Orpheus mit abgeschnittenem Kopf das Seelenmeer zu durchkräuseln – aus allerbarmendem Mitleid sein Haupt in unendlich viele Splitter platzen lassen, wobei seitdem auch etwas Abschreckendes, etwa Totengott oder Richter, seine vielfache Figur annehmen kann.

Und noch mehr, Kappe zieht obendrein eine romantische Ebene mit ins Narrativ des Weltraums hinein, nämlich die der doppelten Welt, die auch lustig ist und ironischen Abstand verheißen kann, etwa so wie sie bei ETA Hoffmann im „Goldnen Topf“ zu lesen ist – Kappes Lyrikzyklus also durchaus als ein Märchen, ähnlich einem Mysterienroman wie beispielsweise „Der goldene Esel“, über ein Leben in einem verzauberten Körper, auf ziemlich vergeblicher Suche nach dem Ursprung, bis die Erlösung kommt – im „Goldnen Topf“ als Entrückung in das verheißene Wunderland Atlantis (mit Augenzwinkern), bei Apuleius als Aufnahme in die Gemeinschaft des Isiskults.

Und so haben wir es auch hier bei Kappe mit Suchenden zu tun, seien es Argonauten, Kosmonauten oder mystische Seelenreisende, die eigentlich zuhause im Bett liegen oder im Schneidersitz meditieren. Oder von der NASA träumen. Aber zusätzlich draußen studierend / dozierend in Lederjacke auf der Suche nach einem Einweihungsweg sind. Bis ein Avalokiteshvara, „der gütig Herabblickende“, erscheint. So dass man gewillt ist, im Weltraum-anzug zu lesen. Und die Wandlungen mitzuerleben.

Wer ist dieser Alexander Kappe, der in seinem Debüt „nachreden auf dunkelengel“ so viele Fäden zieht? Und dabei eine Geschwindigkeit aufnimmt, als habe er vor, rückwirkend noch dabei zu sein, wie dem Barmherzigen der „Gottballon“ platzt (um auch Yevgeniy Breygers Poetik-vorlesung vom 5. Dezember 2023 in München noch mit ins Spiel zu bringen).

Alexander Kappe studierte Philosophie sowie Literaturwissen-schaften, dann auch Philosophie (alles in Berlin) und Literari-sches Schreiben (in Leipzig). Seit Oktober 2022 ist er wissen-schaftlicher Mitarbeiter am Institut für Germanistische und Allgemeine Sprachwissenschaft der RWTH Aachen. Zudem geschäftsführend in der „Gesellschaft für Afrikanische Philo-sophie“ tätig und gibt zusammen mit Saskia Warzecha und David Frühauf die Literaturzeitschrift "Transistor – Zeitschrift für zeitgenössische Lyrik" heraus. Außerdem ist er bei der Hyperidean Press tätig, in der die Übersetzung des ersten Gedichtbands Yevgeniy Breygers (flüchtige monde) auf Eng-lisch erscheinen soll. Wissenschaftlich orientiert sich Kappe, wie er sagt – anhand von Schlüsseltexten der Autoren Roland Barthes, Jacques Derrida und Michel Foucault – an dem „Untauglichwerden des Universellen als kultureller Leitidee“. Aus den Scherben des Universums, soweit wir es verstehen können, sind für Kappe „drei Einzelwerte“ entstanden, das Singuläre, das Plurale und das Inkommensurable. Zusammen bildet diese „Werte-Trias“ als Leitwert die ‚Unverfügbarkeit‘.

Man könnte, ganz im Sinne dieser Theorie, sagen, auch in Kappes Buch ist alles so da und doch zugleich unverfügbar. Balkenartige Unterteilungen trennen die Gedichte von einem Oben und einem Unten, bilden eine Trias aus Kopfzeile schwarz mit weißer Schrift, gefolgt vom Gedichttext, der durchaus wie eine Anweisung von oben wirken kann, und unten dann wie Fußnoten dazu in Empfindungen ausläuft – aus dem Untergrund bzw. der Dämonenwelt hochquellend. Oder alles umgekehrt – weiß mit schwarzer Schrift. Gespickt ist der Band zudem mit Fotocollagen von dem Verleger Michael Wagener, die Astronautisches aus Labor und All simulierend belegen (mit der Serie „danahsahda [für john heartfield und konsorten]“. Die Wertigkeit der Texte ist, wie sollte es anders sein, changierend wie der Reiseverlauf durch die Ebenen mal positiv gesetzt, mal negativ, ein Dia desselben. Alles ist von der Lichtquelle abhängig, oder um es mit Kappes Schlussworten im 7. Kapitel (versteckt im Schutzumschlag) zu sagen:

„lösung: am sonnentag bleiben die lichter aus!“

Oder wie Rolf Dieter Brinkmann es in „Westwärts 1 & 2“ andeutet mit dem antiken liturgischen Fragment: „Glutwindröhre“ von Anaximander, einer Röhre, in der man unter Umständen nach dem Tod dem Licht entgegentreten kann. Hieronymus Bosch hat sie gemalt, die Figuren weiß mit Engelsflügeln, in „Der Aufstieg in das himmlische Paradies“.

        deine sonne ist ein gelber transistor. kraftvoll
        wie ein dicker regenbogen. die hütte
        im nachtumschreinten hof, sie wandert herzwärts.
        das geklimper der eicheln ein seufzen
        du sprichst ihnen nach, liegst still da, atmest. (S. 10)

Schon die Personenbeschreibung „Dunkelengel“ deutet das Changierende bei Kappe an. In letzter Zeit war in der Lyrik nicht sehr viel von Engeln zu lesen. Ganz früher, die Zeit von Milton etwa oder Klopstock, mit ihren rebellischen Engeln und ihren höllischen Geistern, sei hier gar nicht erwähnt, doch Thomas Mann spielte immer mal wieder auf ihre Erscheinungen an, meistens weibliche, in etwa entsprechend dem, was Rilke in seinem Gedicht „Die Engel“ über sie sagt:

Sie haben alle müde Münde
und helle Seelen ohne Saum.
Und eine Sehnsucht (wie nach Sünde)
geht ihnen manchmal durch den Traum.

Dann Robert Musil, Ernst Penzoldt, alle gehen auf ein düsteres Spiegelbild des Eros als Engel ein, das die Dunkelheit sucht und eine Art „Gefährte“ ist, wie Ernst Penzoldt sagt:

Wir bauen uns entgegen …*

Vor allem direkt nach dem Krieg war es Franz Werfel, der in seinem Reiseroman „Stern der Ungeborenen“ eine entfernte Zukunft beschreibt, in der man, „um sie zu schauen, entweder tot sein muß oder ein Dichter.“ Und tatsächlich retten den bruchgelandeten Erzähler in dieser entfernten Welt zwei „Melangeloi“, im Gegensatz zu den dort auch herumgeisternden Leukangeloi, von Werfel so genannt, „weil sie sich dem Atom entrangen.“ Wir nehmen nun für den Band „nachreden auf dunkelengel“ weniger die schwere Ausrichtung auf Engel, die vertriebene rebellische Geister sein wollen, obwohl Kappe auch damit gelegentlich spielt, als mehr das leichtere zwillingshafte Paar, das als geistige Einheit durch mentale, astrale und sonstige Regionen ihrer Seelenreise zieht und immer wieder abstürzt, oder zumindest auf den bürgerlichen Teppich zurückfindet.

Das Bild zu Anfang ist ein Raketenstart, begleitet schon auf dem Cover von einem sichtbaren Kreisen der Sterne in der Galaxie. Das erste Kapitel heißt dann: „in erwartung des kometen“. Doch ist damit auch der Kometensturz angedeutet. Diese Kluft zwischen oben (romantischem Universum, geistigen Lichtblicken) und unten (Verschluss, Deckel, Parzellen statt geöffnetem Himmel) spiegelt sich auch in den Gedichten wider, die den Raum zwischen den Begrenzungen (Titel – Fußnote) bilden, die grafisch die Trennmasse des Abhebens und Stürzens sind, weil sie das Gedicht auf seiner Reise nach oben oder nach unten ziehen. In diesem Knäuel leben wir, aus ihm sprechen unsere Gedichte. Bilden sich nach Kappe die Hallräume:

Zusammen sind wir ein fahrstuhl, fastghul. (S. 10)

So wie Anselm aus dem „Goldnen Topf“ bei ETA Hoffmann, der zu Anfang schon bei einer Bootspartie in die Wasser des Teichs glotzt und beinahe hineingesogen wird, weil er dort statt Wellen verlockende Schlangen sieht, denn durch alle Glieder fährt es ihm wie ein elektrischer Schlag – so starrt er hinauf und sieht in ein paar herrliche dunkelblaue Augen, die ihn mit unaussprechlicher Sehnsucht anblicken, so beginnen auch wir mit Kappe die doppelte Reise

als stille sich dazu legt. weit weit hinten
fieberpunkte in industrietürmen oder
lichterketten, von riesen angebracht
vom weg abgekommen, abgeschweift (S. 11)

Immer zu zweit die Seelenreise, immer wie bei ETA Hoffmann am Rande bürgerlicher Akzeptanz und mit dem Verständnis doppelgleisiger Logik. So wird schnell aus dem Goldnen Topf, der nach Atlantis führen will, bei Kappe eine Zitrone:

        goldene tage waren zitronen.
        Vergangenheit. geschientes ungelenk. (S. 16)

Denn in der Auswirkung, unten im Hades der Fußzeile heißt es: „dunkler geist holt mich ab, dunkelengel. +++ zwingt mich mit ihm zu gehen.“ Der Seelenreisende wird von seinem alter ego getrennt, wie bei Yeats, bei Celan, bei Breyger, sie dürfen sich nicht mehr berühren, weil das der Tod wäre, wie bei einer Wagner-Aufführung, heißt es, doch wachen sie auf (durch die Berührung löst sich das Drüben, und sie sind hüben, hier, allein).

Wie es Breyger beschreibt in seiner Rede über die Poetik der Metaphern und Metonymien: Fehlt das alter ego oder wird es zum Feind, dann geriert der Sog nach dem Licht zum Zwang, verknotet sich die Sprache, bis das Bild dann einmal die Metaphern, die es zukleistern, wie eine Krankheit überwinden kann. Am Ende des Bandes findet sich eine Danksagung des Autors nicht nur an Michael Wagener, sondern auch an Yevgeniy Breyger. (S. 102).

Auch im dritten Kapitel („desolate objekte als zentrale plotelemente“) erinnert ein Gedicht namens „der weissagungsfähige kochtopf“ an den Goldnen Topf Hoffmanns, weil er nach einem Essen den netten Bürgern und Lehrern in Form einer Punschterrine um die Ohren fliegt, nachdem sie an das Gefäß eine Frage gerichtet haben und es im Suff und Eifer so schleudern, dass alles klirrend zerspringt. Kappe nimmt Hoffmann beim Wort, indem er schreibt:

anders die gewalt der morgendlichen tütensuppe.
über dem topf bilden sekrete meiner nase
kollabierende metastasen, konkrete rhizome.
unerwartet: kraft zieht kopf
durch die suppe in die tiefe (S. 43)

Kappe erklärt als Dunkelengel unten im Fußteil diese Parallelen mit „jedes wollte seinen anteil bringen“. Und Babel als Metapher für Sprachverwirrung gelte nicht, denn es gehe um die Selbstauflöslichkeit des Körpers, die Wahrnehmung der doppelten Welt habe nämlich letztlich medizinische Ursachen:

aufgrund paraphrasierter abstürze
akuter unterzuckerung sich selbst begegnen. (S. 45)

Wie beim Sterben, wie ein Tod –

die katze läuft nebenher an der leine
häng dir namensschild an die beine.
im konsulat der verlorenen seelen bist du der übersetzer,
einbestellt von oben, für verworrene und sanfte ideen. (S. 45)

Im vierten Teil geht es um „komplizierte antworten auf falsch gestellte fragen“. Zum Beispiel: Wie dem Kreislauf entkommen? Wie problemorientiert sein, ohne problematisch zu werden? Das fünfte Kapitel bilden (in Prosa) die „spione unter der erde“. Das sechste Kapitel deutet verschiedene Möglichkeiten des Endes der Reise an. Es heißt „dunkelengels nachreden“. Und es bleibt offen, in welcher der beiden Welten man, nach dem Wandel, nun leben wird. Hier? Einerseits. Doch gibt es auch andere Auslegungen. Kappe spielt in diesem Schlusskapitel, etwa in Nachrede 4, die im Zuge einer Apokalypse gnostische Züge annimmt, schließlich mit einem Gegenpapst, der so dargestellt wird, als handle es sich bei ihm um einen reinen Verstandesmenschen mit der Kraft von tausend maschinellen Eseln, die angetrieben werden, um allen Dunkelengeln zu Geiste zu rücken, ihnen die verbliebene Teilhabe am Geistigen ganz zu kappen.

        mit circa eintausend eifrern (S. 82)

wird ein Messias gerufen. Und das bisherige Spiel der Doppelwelt aus romantischer Empfindung und ödem Diesseits bekommt nun die Züge eines Sabbats zwischen Satanismus, Lust und Endgame.

        plant er die verwandlung in ein gestirn:
        so wäre das runzlig, weil schlicht tautologisch.
        will er bezeigen: konflikt und widerspruch sind beweise
        für notinwendige entscheidung zur unentscheidbarkeit
so will er sich zustimmend verneigen. (S: 84)

Wenn hier alles auch nur als Spiel, als Totentanz aufgezählt wird, so ist die Kugel doch nicht immer – wie im Goldnen Topf – kristallin, oder wie bei Mallarmé der eigene Stern, sie kann auch Projektil sein.

        Dunkelengel ist danach nie mehr derselbe. (S. 85)

Bei Kappe, der auf neun Nachreden kommt, gibt es in jedem Fall Möglichkeiten von Wandlung, so dass die Leserschaft durchaus zum Schluss noch darauf hingewiesen wird, dass ihre Erkenntnisfähigkeit eher der eines Esels entspricht als der, die sie als Mensch finden könnte, wie im Goldenen Esel angedeutet:

        gefährt holt ihn ab, es ist der himmlische bus frieden.
        ausnahmsweis möcht er vorn sitzen
        alles zu übersehen, zu überfliegen, noch einmal.
        Es wird dem dunkelesel gewährt – es war sein leben. (S. 93)

So enden die Nachreden. Sie sind, wie das ganze Buch, ein Feuerwerk an philosophischen und literarischen Andeutungen, rund um die Mysterien und darin das eigene Leben.


* Deutsches Literaturarchiv Marbach, a.a.O., Kasten 7.


Zurück zum Seiteninhalt