Alexander Estis: Handwörterbuch der russischen Seele
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Kristian Kühn
Alexander Estis: Handwörterbuch der
russischen Seele. Für den täglichen Privatgebrauch in deutschen Haushalten.
Köln (parasitenpresse) 2021. 72 Seiten. 12,00 Euro.
Die zurückgezogene Zunge
Die Wochen 1995/6 über Winter in
Russland, zur Zeit Jelzins, werde ich nie vergessen. Als ich am Ende wieder in
die Cafeteria des Frankfurter Flughafens kam, sah ich Deutschland so ruhig, so
leer, so langsam wie in einem Altersheim. Schlafen. Alles ohne Hintergrund,
ohne Geheimnis, ohne Gefahr. Schon die Ankunft in St. Petersburg hatte etwas
Mythisches für mich. Ein bisschen ängstlich steuerte ich auf die Passkontrolle
zu, diese fest vor Augen. Doch dann brüllte markerschütternd ein athletisch
hüpfender Soldat „Stoi!“ und ich schaute nach unten, wo genau da ich im Begriff
war, eine fette weiße Markierung zu überschreiten. Zackig kam er auf mich zu,
und ich musste diese halbe Fußlänge zurück, damit meine Füße nicht das Symbol
betraten. Zufrieden flackerten seine Augen. Nicht weiter der Rede wert. Doch
eigentlich ein Entgegenkommen den Westlichen gegenüber, denn normalerweise – in
Russland selber – muss man stets alleine durch nicht funktionierende
Drehgewinde oder klemmende Sicherheitstüren. Und schuftet sich ab.
ARBEITSTEILUNG. Einer schaufelt, zwanzig schnauben; einer schraubt und zwanzig schauen; einer schmiedet, zwanzig klauen; einer schreit und alle glauben. (S. 5)
Vor einem Jahr, also vor der
Invasion, hatte Alexander Estis dieses hier besprochene „Handwörterbuch der
russischen Seele“ verfasst, alphabetisch nach Stich- und Reizwörtern angelegt,
am Ende sein Kommentar zum 29. kyrillischen Buchstaben, dem bl, (hier bestimmt
nicht richtig wiedergegeben), einem Iiih, mit zurückgezogener Zunge.
bl. Das ist der Laut des nächtlichen Wolfsgeheuls, des wüsten Schneesturms, des dumpfen Wehrufs; des Wehrufs über die unwirtliche Kälte, den unstillbaren Hunger, die verlorene Heimat; die Heimat des längst Wandermüden, des überall Fremden, des immer Fliehenden; der flieht vor der Verfolgung, vor der Gefahr, vor der Ruhe. (S. 69)
Ja, es stimmt schon, was meine
Mutter immer gesagt hat, es zeigt sich jetzt auch in der Ukraine, sie
bombardieren Flüchtlingszüge, sie vergewaltigen, sie plündern, sie deportieren,
zum Beispiel meine Oma, sie ging etwas zu besorgen, und schwupps musste sie auf
ein offenes Gefährt und kam erst nach mehreren Jahren nach Wittenberge zurück.
Da war ich schon da. Sie brauchten Arbeitskräfte, irgendwo in Sibirien.
ARMEE, UNSERE. Unsere unbesiegbare Armee, unser unschlagbares Heer, unsere braven Jungs, unsere tapferen Männer, unsere furchtlosen Verteidiger, unsere großen Eroberer, unsere glorreichen Gefallenen, unsere sieghaften Versehrten, unsere hilflosen Invaliden, unsere hungernden Veteranen, unsere verarmten Rückkehrer, unsere nicht zurückkehrenden Kinder. (S. 5)
Das klingt jetzt nicht gerade lustig, und dennoch
gelingt es dem Verfasser Estis, einen verschmitzten Humor, eine Ironie mit
Seitenhieben, aber auch mit Verständnis der russischen Seele gegenüber lesenden
Deutschen aufzubauen, dass sie, gut unterhalten, schmunzeln müssen insgesamt.
Und seien wir ehrlich, manche erinnern sich aus dem Geschichtsunterricht an
andere Zeiten, ich denke zum Beispiel, an die Kreuzzüge, an die Bruderschaft
der Tempelritter, zu zweit auf einem Pferde, in den Tod als höchste Form der
Spiritualität. Da ist Putin mit seinem Lob des Sterbens zweier Kameraden, die
sich im brennenden Panzer umarmen, nicht weit. Es gibt sie anscheinend noch im
Osten, diese geistige Männlichkeit, die einst als großer Wert verkauft wurde.
Umso unverständlicher im Westen. Aber Estis versteht es, westlichen Lesern
diese eigenwillige Sehnsucht nach Auflösung alles Irdischen mal charmant mal
witzig mal märchenhaft aufzuzeigen:
KRIEG, GROßER VATERLÄNDISCHER. Der Große Vaterländische Krieg, das ist unser Triumph. Der Große Vaterländische Krieg, das ist unsere Trauer. Er gehört uns, nur uns, und nur uns gehören der Triumph und die Trauer. Ohne den Großen Vaterländischen Krieg wären wir nichts, wären wir Enkel von Mördern und von Gemordeten, aber so sind wir Enkel von Siegern. (S. 26)
In Moskau dann zu meiner Zeit war es
nicht nur arschkalt, sondern es hatten auch die Männer meistens Kalaschnikows
in der Hand und rote Nasen und lachten und fuchtelten besoffen, als wären sie
in einem großen Traum, derweil sorgten die Frauen mit ganz wenig verkaufbarem
Eigentum, in Reihe stehend, einbeinig meistens, weil sie das andere hochgezogen
hatten unter die schützende Kleidung, für den Erhalt der Familie. Sie
verkauften zwar so gut wie nichts, aber sie versuchten es wenigstens und halfen
sich gegenseitig aus. Kein Wunder, dass sie auf hochtrabende Ideen und das
gelobte Land, das man erobern könnte, damals schon gern verzichtet hätten.
BABUSCHKA Großmutter, alte Frau. Babuschka heißt eigentlich Matrjoschka. In einer Matrjoschka ist immer noch eine und darin noch eine, und darin wiederum noch eine. Babuschkas kommen meist auch zu mehreren vor, aber sie sind innen hohl. Das Hohle wiederum ist immer stabil. Babuschkas bilden die stabilste Institution Rußlands. Babuschka ist Gesetzgeberin, Strafverfolgerin, Staatsanwaltschaft, Rechtsprechung und Strafvoll-zieherin in einem. Ihr Hauptwerkzeug, das Geschnatter, von dem man nie wissen kann, ob es von ihr selbst oder von den sie begleitenden Elstern ausgeht, ist, demgemäß, zugleich Gesetz, Urteil und Höchststrafe. Es verfolgt und findet dich überall. Also kauf dir lieber Matrjoschkas. (S. 7)
Dann das gewaltige U-Bahnsystem, mit
Teppichen, Stuck, gewaltig hohen und steilen Treppen, dem Dritte-Welt-Getümmel
in den Metros, Ziegen, flatternden Hühnern, dem Arbeitnehmer im verwahrlosten
Postgelände, der bei unserer Ankunft (zur Motivsuche für einen Film) in einen
Postlaster steigt, auf den Fahrersitz, seine Zeitung ausbreitet und erstmal
liest. Und ich sehe das geöffnete Motorgehäuse, darin aber keinen Motor. Und am
Ende des Tages, als wir zurückkommen, an ihm vorbei, sitzt er immer noch nicht
abfahrbereit und liest. Wahrscheinlich schon seit Jahren. Wahrscheinlich hat er
den fehlenden Motor als Grund seiner Nichtfahrt vor Jahren angegeben, aber er
geht Tag für Tag weiterhin an seinen Arbeitsplatz.
DAWAJ Los; gib. Da: Ja. Viele Menschen kennen aus dem Russischen nur dies eine Wort. Darunter sind auch nicht wenige Russen, insbesondere Ehemänner, Busfahrer, Vorgesetzte. Auch Beamte sind es oft; sie wissen sehr gut, daß die Vokabel genaugenommen nicht »mach« bedeutet, sondern »gib«. Die Nichtrussen andererseits, die das Wort kennen, sind meist polyglott. Diese Menschen können auch »voilà« und »vamos« und »va bene«. Italien, das Rußland Europas, kennt das Wort übrigens auch, zumindest seinen zweiten Teil. Der erste Teil dagegen ist auch ein russisches Wort. Dieses Wort ist oft wiederum das einzige, das von Ehefrauen, Buspassagieren, Untergebenen und Antragstellern benutzt wird. (15)
Dann waren wir bei Mosfilm, das will
ich noch erzählen, und kamen an einem gigantischen Fuhrpark vorbei, aber einem
zertrümmerten, lauter Wracks, allesamt. Und wir fragten offiziell nach
Möglichkeiten einer Coproduktion oder russischen Unterstützung. Da schickte man
uns kopfschüttelnd in die Kantine. Sofort erhoben sich dort wartende Statisten,
alle ca. um die 100 Jahre alt, steuerten auf uns zu – suchten Arbeit, als ob
der letzte Auftrag zur Zeit Eisensteins gewesen sei. Wir tranken Mokka aus
uralten Kännchen auf heißem Sand. Wir erfuhren von Bertolucci, der zuletzt
dagewesen sein musste und sein ganzes Lichtequipment hinterlassen hatte, ob
freiwillig oder nicht, weiß ich nicht. Wir fanden aber niemand, der darüber
Genaueres wusste oder überhaupt etwas beisteuern wollte. Doch öffneten sich
plötzlich, wie aus heiterem Himmel Tapetentüren, Frauen winkten unseren
russischen Aufnahmeleiter herein, und wir mit ihm. Und es wurde gemütlich.
Alles war plötzlich da, nicht öffentlich, aber privat, nicht viel, aber
ausreichend.
BREITE DER SEELE. Die deutsche Seele ist in ihren Maßen konstant. Mit der russischen Seele verhält es sich ganz anders. Nicht an jeder Stelle ist die russische Seele gleich breit. Oft kommt es einfach darauf an, wie sie gerade liegt. So kann sie sich wider jedes Erwarten plötzlich als außerordentlich breit erweisen oder umgekehrt. Das ist das Geheimnis ihrer Breite. (S. 12)
Estis hat nicht ausschließlich
Einträge lustiger Innenschau, manchmal – gerade bei Putin und der Ukraine wird
er sehr einsilbig und hofft, dass der Eintrag schnell vorbei ist.