Alexander Eliasberg: Die Vorläufer
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Alexander Eliasberg
Die Vorläufer
(In: Russische Literaturgeschichte in Einzelporträts, 1922)
Man bedenke: über 250 Jahre (1224-1480) schmachtete Rußland unter dem Tatarenjoch. Während in Deutschland die Dichtung der Minnesänger in höchster Blüte stand und die ersten Humanisten wirkten, während Italien seinen Dante und England seinen Chaucer hatte, waren alle Russen, Volk und Fürsten, Sklaven wilder Mongolenhorden. Die Tataren ließen die besiegten Russen, wie eine Chronik meldet, sich auf der Erde ausstrecken, legten Bretter auf sie, setzten sich drauf und zechten. Unter diesen Brettern war natürlich nicht nur das geistige, sondern jedes Leben überhaupt erstickt. Daß aber im Russenvolke wundersame geistige Kräfte schlummerten, beweisen die alten Bylinen (Heldengesänge), die sich durch mündliche Überlieferung bis ins 19. Jahrhundert erhalten haben, und die wohl im 13. Jahrhundert entstandene ergreifende Mär von Igors Heerfahrt. Nach der Befreiung vom Tatarenjoche, dessen Nachwirkungen sich bis in die Gegenwart erstrecken, konnte sich das Land lange nicht erholen, zumal es dauernd von inneren Kriegen zwischen den einzelnen Stämmen und Gauen zerrissen und von äußeren Feinden bedrängt wurde. Unter schweren Wehen wurden die russischen Lande unter Moskaus Zepter ›gesammelt‹. Dieser Prozeß der Vereinigung zum ›Russischen Reich‹ fand unter Iwan dem Schrecklichen (1534-1584) seinen Abschluß. Die auf den Tod von Iwans Sohn Fjodor (1598) folgenden Jahre des falschen Demetrius, des Interregnums und der Poleninvasion waren nicht weniger schauerlich als die Mongolenzeit. Erst mit dem ersten Zaren aus dem Hause der Romanows (1613) beginnen ruhigere Zeiten und mit ihnen ein Erwachen des geistigen Lebens.
Die oben nur kurz gestreifte geschichtliche Entwicklung macht es begreiflich, warum es in Rußland in den Zeiten Dantes, Luthers, Shakespeares weder eine der westeuropäischen adäquate, noch überhaupt eine Literatur gab. Es hat wohl einzelne von gelehrten Mönchen und aufgeklärten Laien verfaßte Werke, vorwiegend kirchlichen und erbaulichen, auch historischen Inhalts (Chroniken), gegeben, aber sie alle machen noch keine Literatur aus. Auch die erste Druckerei, die schon von Iwan dem Schrecklichen (1563) gegründet und vom abergläubischen Volke als ein Werk des Satans zerstört wurde, vermochte in dem geistig armen Rußland des 16. Jahrhunderts keine Literatur zu schaffen. Und selbst das 17. Jahrhundert, als unter den ersten Romanows die ersten Brocken abendländischer Bildung, hauptsächlich auf dem Umwege über die Ukraine und Polen, nach Rußland gelangten, hatte noch keine eigentliche ›Literatur‹ aufzuweisen.
Die große russische Literatur beginnt erst im 18. Jahrhundert zugleich mit dem Reformwerk Peters des Großen. In der neueren Geschichtsschreibung wird immer wieder betont, daß die Europäisierung Rußlands schon vor Peter begonnen habe und daß der Boden für die Reformen unter Peters Vorgängern bearbeitet worden sei. Diese Ansicht stimmt in gleichem Maße wie die, daß Lenin und Trotzkij nicht die Urheber des Bolschewismus seien, daß die Saat dazu im Marxismus begründet sei und daß bolschewistische Keime auch im vorleninschen Rußland gelegen hätten. Aber alles, was vorher in dieser Richtung geschah, vermochte das ›alt-moskowitische‹ Antlitz Rußlands nicht zu verändern, während die reformatorische Tätigkeit Peters aus dem Russen einen ›neuen‹ Menschen schuf. Er war es, der, wie Puschkin sagt, »am Eisenzaume emporgeschnellt aus dumpfem Traume, vorm Abgrund, Rußland, festen Blicks«. In diesem Sinne war er ein Revolutionär, gegen den Robespierre und Lenin verblassen. Er rasierte dem Russen den Vollbart ab, zog ihm den langschößigen Kaftan aus und zwang ihn, die ›deutsche‹, d. h. europäische Kleidung jener Zeit anzulegen; er durchsetzte seine Sprache mit einer Menge deutscher, holländischer und lateinischer Worte, gab ihm statt der altslawischen Schrift eine neue, der europäischen Antiqua nachgebildete und schickte ihn ins Ausland, um Mathematik, Navigationslehre und andere nützliche Dinge zu studieren. Der Russe stand auf einmal nicht mehr als Asiate, sondern als Europäer in Schnallenschuhen und Puderperücke da. Und zwar nicht nur äußerlich: an Stelle der byzantinisch-kirchlichen Bücher traten ebenso plötzlich Racine und Boileau. Das Schicksal wollte es, daß dem ersten Kaiser bald auch der erste große Dichter folgte, ein Vorläufer der modernen Großen, denen die russische Literatur ihre Stellung in der Welt zu verdanken hat: es war Lomonossow. Die Gerechtigkeit verlangt, daß wir vor ihm noch Wassilij Tredjakowskij (1703-1769) einschalten, der zwar talentlose Verse schrieb, aber durch seine Arbeiten auf dem Gebiete der Grammatik und Metrik den Boden für die Folgenden vorbereitete.
Michail Wassiljewitsch Lomonossow (1711-1765), im hohen Norden, am Weißen Meer als Sohn eines Fischers geboren, schlug sich, von einem unwiderstehlichen Drang nach Bildung beseelt, als Neunzehnjähriger nach Moskau durch und fand Aufnahme in einer Klosterschule. Schon nach zwei Jahren schrieb er lateinische Verse. Aus Moskau kam er nach Kiew, dann nach Petersburg auf die neugegründete, von deutschen Gelehrten geleitete Akademie und wurde 1736, also fünf Jahre nach seiner Flucht aus dem Fischerdorfe, ins Ausland geschickt. In Marburg studierte er bei Christian v. Wolff Philosophie, Mathematik, Chemie und Physik, in Freiberg Metallurgie. In Freiberg schrieb er sein erstes russisches Gedicht, das den Anfang der großen russischen Dichtkunst bedeutet. Es ist das erste russische Gedicht, in dem Sprache, Form und Inhalt nicht in einem noch komischen Mißverhältnis (wie in den Gedichten Tredjakowskijs), sondern in vollkommener Harmonie zueinander stehen und das man auch heute nicht als historisches Kuriosum, sondern als schönes, klangvolles Kunstwerk genießt. Nach fünfjährigem Aufenthalt in Deutschland kehrte Lomonossow 1741 nach Rußland zurück und wurde als erster Russe zum Professor (für Physik und Chemie) an der Akademie ernannt. Nun begann seine mannigfaltige Tätigkeit als Wissenschaftler, Entdecker und Dichter.
Puschkin nannte Lomonossow »die erste russische Universität«. Ein späterer Biograph fand in der gesamten Menschheitsgeschichte nur zwei Männer, die an Universalität mit dem Fischersohne vom Weißen Meere zu vergleichen wären: Leonardo und Goethe. Und in der Tat: Lomonossow trieb alles und war auf jedem Gebiete bedeutend und, wenigstens in Rußland, bahnbrechend. Er hat vierzig Jahre vor Lavoisier das Prinzip der Erhaltung der Masse aufgestellt, achtzig Jahre vor Entdeckung der Thermodynamik ihre wichtigsten Grundsätze ausgesprochen, die kinetische Theorie der Materie bis ins Detail ausgearbeitet, daneben das Newtonsche Fernrohr vervoll-kommnet, die Atmosphäre des Planeten Venus entdeckt, sich mit Metallurgie, Meteorologie, Geographie, Philologie und Kartographie beschäftigt und als Historiker, Sozialpolitiker und bildender Künstler (seine Mosaiken sind sehr interessant) betätigt. Er schrieb die ersten russischen wissenschaftlichen Abhandlungen und ist der Schöpfer der modernen wissen-schaftlichen Sprache; die meisten von ihm geschaffenen Ausdrücke sind auch heute noch im Gebrauch. Seine Arbeiten auf dem Gebiet der Grammatik haben die ganze weitere Entwicklung der russischen Sprache beeinflußt. Daneben schrieb er Oden, Hymnen, Episteln, Epigramme und Tragödien – meistens auf Bestellung. Er selbst maß seiner dichterischen Tätigkeit wenig Bedeutung bei und sah seinen eigentlichen Beruf in der Wissenschaft. Aber wenn er auch nicht der große Gelehrte wäre, seine Gedichte blieben unvergessen: ihre gewaltigen, beinahe biblischen Bilder und die erhabene, ungemein klangvolle Sprache fesseln auch heute noch. Einige von ihnen, wie die Abendliche Betrachtung über Gottes Majestät anläßlich des Nordlichtes gehören zu den schönsten Werken russischer Dichtkunst. Jedenfalls schrieb Lomonossow, wie schon gesagt, die ersten russischen Gedichte, die auch jetzt noch Geltung haben und jedem Russen verständlich sind, während die unbeholfenen Versuche seiner Vorgänger heute nur noch historischen Wert besitzen. In diesem Sinne ist Lomonossow der erste eigentliche Vorläufer der russischen Dichtung, der Ahnherr Dershawins, Puschkins und der Moderne.
Von Lomonossows Zeitgenossen seien erwähnt: Alexander Petrowitsch Ssumarokow (1718-1777), der die ersten russischen Tragödien, noch ganz unter dem Einflüsse Corneilles und Racines schrieb, und der begabte Dilettant Antioch Kantemir (1708-1744), Verfasser heute wenig interessierender Satiren im Geiste Boileaus, die sich gegen die Obskuranten und gewisse russische Geistliche richten.
Unter den fünf Kaiserinnen, die auf Peter den Großen folgten, machte die Europäisierung Rußlands gewaltige Fortschritte, und die letzten Reste des Altmoskowitertums verschwanden unter Allongeperücke und Reifrock. Rußland wandte sein Gesicht dem Westen zu und nahm gierig alles auf, was von dort herüberkam. Deutsche und französische Einflüsse lösten einander ab. Katharina II., die Große (1762-1796), eine geborene Prinzessin von Anhalt-Zerbst, war ein weibliches Gegenstück zu Peter dem Großen; mit Recht schrieb sie auf den Granitsockel des Peterdenkmals zu Petersburg, des ›Ehernen Reiters‹, die stolzen Worte: »Petro Primo Catharina Secunda.« Unter der aufgeklärten Regierung dieser Kaiserin, die selbst Dichterin war und mehrere Lustspiele verfaßte, gab es auf einmal statt vereinzelter Dichter und Werke eine ganze zusammenhängende russische Literatur. Der hervorragendste Dichter dieser Zeit und zugleich der zweite bedeutende Vorläufer der großen Russen war Gawrijl Romanowitsch Dershawin (1743-1816). Dieser im Osten des Reiches, im halbtatarischen Kasan geborene jüngere Zeitgenosse Lomonossows, glatter Höfling, Gouverneur und Justizminister, befaßte sich mit der Dichtkunst nur nebenbei, in seinen Mußestunden, hauptsächlich zur Verherrlichung der Kaiserin, die er in zahlreichen Oden als die phantastische kirgisische ›Prinzessin Felica‹ besang. Neben diesen Oden ist sein langes, an prunkvollen Strophen überreiches Gedicht Gott berühmt geworden, das jeder russische Schüler auswendig lernt. Weit bedeutender sind seine weniger bekannten intimeren Gedichte, die nicht der Verherrlichung Gottes oder der Kaiserin dienen. Diese muten zum Teil unglaublich modern an; so das herrliche Gedicht Die schlafende Nachtigall, in dem kein einziges ›r‹ vorkommt und das ganz auf dem Prinzip von »de la musiqae avant toute chose« aufgebaut zu sein scheint; darin war er um ein ganzes Jahrhundert seiner Zeit vorausgeeilt. Seine Jamben gemahnen in Rhythmus und Klangfarbe an Puschkin, und er ist zweifellos der poetische Vater dieses größten und bis heute unerreichten russischen Dichters. Grazie und Humor zeichnen alle seine Dichtungen aus und fehlen sogar in seinen feierlichsten Oden nicht. Zu betonen ist, daß Dershawin in den meisten seiner Gedichte nicht nur ziemlich frei von ausländischen Einflüssen ist, sondern in vielen – lange vor Puschkin – ausgesprochen volkstümliche Töne anschlägt. Von den Zeitgenossen wurde Dershawin überaus hoch geschätzt; Puschkin sah auf ihn etwas von oben herab, wie es ja oft bei der Bewertung eines Lehrers durch den Schüler der Fall ist. »Das Idol Dershawins besteht zu ¼ aus Gold und zu ¾ aus Blei«, schrieb Puschkin 1825. In den folgenden Jahrzehnten verschwand der Stern Dershawin fast gänzlich in den Strahlen der Sonne Puschkin; erst die jüngste Zeit erkannte seine außerordentliche Bedeutung für die russische Dichtkunst an und wies ihm den gebührenden Platz unmittelbar vor Puschkin zu. Dershawin schrieb auch einige dramatische Szenen, die jedoch keine Beachtung verdienen.
Von den minder bedeutenden Zeitgenossen Dershawins nennen wir: Iwan Dmitrijew (1760-1837), der neben mäßigen Oden und einer Satire auch einige reizende lyrische Gedichte schrieb; Iwan Bogdanowitsch (1743-1803), den von den Zeitgenossen sehr geschätzten Verfasser der ungemein graziösen russischen Travestie der Lafontaineschen Psyche; Denis Fonwisin (1744-1792), dem die russische Literatur die ersten Lustspiele mit russischem Inhalt zu verdanken hat (eines derselben – Der Landjunker – hat sich bis heute auf der russischen Bühne behauptet); schließlich den heute nicht mehr genießbaren Odendichter und Verfasser einer der Henriade nachgebildeten Epopöe, der Rossiade, Michaïl Cheraskow (1733 bis 1807). Um die gleiche Zeit lebten auch die beiden ersten Freiheitsschwärmer und politischen Märtyrer unter den russischen Schriftstellern: der Publizist und Mystiker Nikolai Nowikow (1744-1818) und der Philosoph und Philanthrop Alexander Radischtschew (1749-1802). Beide wurden von der aufklärerischen Katharina grausam verfolgt: der erstere kam in die Schlüsselburg, der zweite nach Sibirien. Erst Katharinas Sohn und grimmiger Feind Paul I. gab ihnen bei seiner Thronbesteigung die Freiheit wieder.
Was Lomonossow und Dershawin für die russische Dichtkunst waren, das war für die Prosa Nikolai Michailowitsch Karamsin (1766-1826). Gleich Dershawin im Osten des Reiches, im Orenburgschen Gouvernement, geboren, kam er früh nach Moskau und trat in Beziehungen zu den mystischen Kreisen um Nowikow. Die Richtung dieses Kreises sowie die Vertiefung in die Werke Youngs, Sternes, Hallers, Herders, Geßners, Lavaters und Rousseaus gab seinem empfindsamen Geist ein idealistisch-süßliches Gepräge. In den Jahren 1789/90 unternahm er eine Reise nach Deutschland, der Schweiz, Frankreich und England, die er dann in seinen Briefen eines russischen Reisenden schilderte. Diese Briefe unterscheiden sich von allen früheren russischen Reisebeschreibungen dadurch, daß sie den Westen, seine Landschaft und Kultur einfach schildern und nicht etwa als Vorbild für das ›barbarische‹ Rußland hinstellen. Interessant sind die in den Briefen beschriebenen Besuche bei westeuropäischen Berühmtheiten, wie Herder und Wieland. Einige Schilderungen, wie die des Rheinfalls bei Schaffhausen, sind auch heute noch nicht verblaßt. Seine große Berühmtheit verdankte Karamsin unter anderem der sentimentalen Novelle Arme Lisa, deren Heldin, ein russisches Bauernmädchen, eigentlich eine französische paysanne in russischem Aufputz, aus Liebe zu einem jungen Edelmann ins Wasser geht. Diese höchst primitive Erzählung hatte in Rußland den gleichen Erfolg wie in Deutschland der Werther; es wurden über sie ebensoviel Tränen vergossen, und sie zeitigte ebensoviel Nachahmungen wie Goethes Werk. Es entspricht durchaus der empfindsamen Natur Karamsins und seiner Vorliebe für Geßner und Rousseau, daß er einen Freiheitsschwärmer spielte und sich für die freiheitlichen Einrichtungen der Schweiz und Englands, sogar für die französische Revolution, deren Beginn er selbst in Paris erlebte, zu begeistern vorgab. In Wirklichkeit aber war er stockkonservativ und verurteilte, wie es eine erst nach seinem Tode bekanntgewordene Denkschrift beweist, die Reformen Peters des Großen und den Liberalismus der ersten Regierungsjahre Alexanders I. Ganz unverblümt kommt die konservative Gesinnung Karamsins in seinem Hauptwerke, der zwölfbändigen Geschichte des russischen Reiches zum Ausdruck. Der wissenschaftliche Wert dieser Geschichte ist nicht groß und wurde schon bei Karamsins Lebzeiten bestritten; um so größer ist der rein formale und sprachliche Reiz. Eine so prunkvolle Prosa hatte es in Rußland noch nicht gegeben, und dieser Prunk beruht nicht etwa auf Verwendung von kirchenslawischen Archaismen. Im Gegenteil: Karamsin war den Archaismen abhold und bemüht, das gesprochene Russisch literaturfähig zu machen. Dies führte sogar zu dem sehr wichtigen ›Sprachenstreit‹ zwischen den Anhängern Karamsins (der sich selbst am Streite nicht beteiligte) und den Verfechtern des alten, kirchenslawischen Stils, die alle Fremdwörter, wie auch alle der Volkssprache entlehnten ›gemeinen‹ Ausdrücke in gleicher Weise verwarfen. Der erbittertste Gegner Karamsins war der Admiral und Präsident der Akademie, Schischkow (1754-1841). Die Gegner vermochten aber die von Karamsin eingeleitete Sprachreform nicht mehr aufzuhalten. Von der Karamsinschen Sprache ist nur ein Schritt zu der Sprache Puschkins, und diese ist mit der der neuen und neuesten Literatur beinahe identisch. Karamsins Briefe, die Arme Lisa und die Geschichte haben fast nur noch historischen Wert, aber der Geist seiner Prosa lebt in der ganzen ferneren russischen Literatur fort.
Karamsin steht an der Schwelle der beiden Jahrhunderte. Ganz ins 19. Jahrhundert gehört sein jüngerer Zeitgenosse, Wassilij Andrejewitsch Shukowskij (1783-1852). Er war der natürliche Sohn eines Gutsbesitzers, Bunin, und einer gefangenen Türkin, hatte also gleich Puschkin wärmeres südliches Blut in seinen Adern. Shukowskij schrieb fast nur Verse, und zwar vorwiegend Übertragungen deutscher, französischer und englischer Dichter. In dieser Beziehung steht er in der gesamten Weltliteratur einzig da: eine so vollkommene Einfühlung in den Geist eines fremden Dichters, eine so vollendete Wiedergabe eines fremdsprachigen Gedichts mit den feinsten Nuancen in Rhythmus und Bewegung, mit seinem ganzen undefinierbaren Dufte finden wir bei keinem anderen Dichter der Welt. Dostojewskij behauptet in seiner berühmten Puschkinrede, auf die wir noch später zu sprechen kommen, daß die Einfühlung und Resonanzfähigkeit Puschkin vor allen andern Dichtern unterscheide; dabei übersieht er ungerechterweise Shukowskij, dessen Übertragungen aus Schiller, Goethe, Uhland, Hebel, Rückert, Bürger, Scott, Florian, Grey, Byron und Moore keinen ›Ersatz‹ für die Originale (wie es ja sonst alle Übertragungen sind) darstellen, sondern mit den Originalen gewissermaßen identisch sind. Ein Deutscher, der kein Wort Russisch versteht, aber ein feines Gehör hat, wird an der bloßen Klangfarbe Goethes Erlkönig oder Schillers Taucher in Shukowskijs Übertragung, wenn er eine Strophe hört, unschwer erkennen. Wie weit die Einfühlungsfähigkeit Shukowskijs geht, beweist seine merkwürdige Odyssee-Übersetzung, die er, ohne Griechisch zu können, nach einer wörtlichen deutschen Übersetzung, die ihm ein befreundeter Professor über den griechischen Text schrieb, anfertigte: rein intuitiv erfaßte er den Geist Homers mit erstaunlicher Vollkommenheit. Aber auch die Originalgedichte Shukowskijs sind keineswegs zu unterschätzen: er schrieb die ersten russischen Balladen, sanfte romantische Elegien und entzückende Kindergedichte. Äußerlich verlief sein Leben nicht weniger glanzvoll als das Dershawins und Karamsins: er war Hofdichter der Kaiserin Maria Fjodorowna, der Witwe Pauls I. (für die er auf Bestellung Berichte über Mondnächte schreiben mußte), und Erzieher und Reisebegleiter des Großfürsten und späteren Kaisers Alexander II. Im Jahre 1841 zog er ganz nach Deutschland, das ihm schon vorher zur zweiten poetischen Heimat geworden war, heiratete in Stuttgart die Tochter des Malers Reutern und starb 1852 zu Baden-Baden.
Shukowskij war der ältere, glücklichere Zeitgenosse Puschkins, den er überlebte und bei dessen Tode er zugegen war. Von Puschkin überragt, vermochte er keine eigentliche Schule zu gründen. Sein Verdienst, fremde Dichter, namentlich Schiller und Goethe, in die russische Literatur eingeführt, sie ihr geradezu einverleibt und den einseitigen französischen Einfluß gebrochen zu haben, bleibt ihm unvergessen, und seine Übertragungen sind auch in Rußland zu unserer Zeit ebenso lebendig wie die Originale in Deutschland.
Dieses Kapitel beschließen wir mit vier Dichtern, die gleich Shukowskij und Puschkin im ersten Viertel des 19. Jahrhunderts wirkten, aber von beiden unbeeinflußt blieben und, als durchaus originelle Erscheinungen, die größte Beachtung verdienen.
Iwan Andrejewitsch Krylow (1768-1844) war nicht der erste, aber der größte russische Fabeldichter, ein Moskauer von altem Schrot und Korn, gewissermaßen ein Vorläufer der Slawophilen. Der dicke, faule, gefräßige ›Großvater Krylow‹ betrachtete alles Ausländische, namentlich die fremden Einflüsse in Gesellschaft und Literatur mit der Verachtung des Stockrussen. Die Stoffe seiner Fabeln entnahm er wohl zum großen Teil Lafontaine, aber er transponierte sie so vollkommen ins Russische, machte die redenden Personen, nicht nur Menschen, sondern auch Tiere zu so typischen Russen, daß sein Werk nicht nur nichts vom fremden Ursprung verrät, sondern russischer erscheint als fast alles, was zu seiner Zeit geschrieben wurde. Das beruht nicht zum geringsten Teil auf seiner urwüchsigen, rein volkstümlichen Sprache, die er den Bauern ablauschte und als erster in die russische Literatur einführte. Neben den Fabeln mit internationalen Stoffen (wie wir sie bei Äsop, Lafontaine und Gellert finden) schrieb er auch eine Menge mit selbsterfundenen Motiven,m in denen er verschiedene Erscheinungen seiner Zeit mit beißendem Spott geißelte. Seine Fabeln leben auch heute noch in unverminderter Frische in Rußland fort und liefern, neben Gribojedows Komödie (s. unten), die meisten ›geflügelten Worte‹ der russischen Umgangssprache: sie bestehen förmlich aus Zitaten.
Eine andere ungemein charakteristische Gestalt dieser Zeit ist Denis Wassiljewitsch Dawydow (1784-1839). Der kühne Kosakenoffizier, tapfere Soldat in den Kriegen gegen Napoleon, Polen und Persien und tüchtige Militärschriftsteller sagt von sich selbst: »Ich bin kein Dichter, sondern Kosak und Freibeuter; besuchte wohl den Pindos, doch nur auf dem Sprunge, und schlug vor dem Kastalischen Quell sorglos mein unabhängiges Biwak auf.« Sorglosigkeit ist die Haupteigenschaft seiner Husarenpoesie; er lamentierte nicht gleich den Romantikern, predigte nichts und besang niemand. Er sang einfach, wie der Vogel singt, ohne sich um Zeit und Zuhörer zu kümmern. Zum Teil sind es ausgelassene Zechlieder, kecke Husarenimprovisationen. Der gute Geschmack wird niemals verletzt, und die Melodie klingt so berückend, daß Dawydow, trotz des leichtsinnigen Inhalts seiner Gedichte, zu den bedeutendsten russischen Dichtern zu zählen ist. Nicht nur in der russischen, auch in der ganzen Weltliteratur kennen wir keinen Dichter, der die Husarenpoesie und den Husarenglanz der Napoleonischen Zeit so vollkommen verkörperte wie Dawydow. Puschkin hatte vor ihm den größten Respekt, und Tolstoi verewigte ihn in Krieg und Frieden in der Gestalt des Denissow.
Konstantin Nikolajewitsch Batjuschkow (1787–1855) war neben Shukowskij der unmittelbare Vorläufer Puschkins. Er war gleich Dawydow Offizier und kam als solcher in den Jahren 1806 bis 1812 durch ganz Europa. 1814 wurde er Attaché der russischen Gesandtschaft in Neapel. Die gründliche Bekanntschaft mit den römischen und griechischen Idyllikern und Anakreontikern, mit Tasso und Petrarca, nicht zuletzt mit Byron, beeinflußte mächtig seine zartbesaitete Leier. Batjuschkow und Shukowskij werden gewöhnlich als die ersten russischen Romantiker angesehen. Aber was für Shukowskij Schiller und Goethe waren, das waren für Batjuschkow die griechische Anthologie und die großen Italiener. Während der erstere »im schatt'gen Hain, bei Harfenklang im Schimmer des abendlichen Lichts« schwelgte, strebte der andere nach der Klarheit antiker Dichtung. Besondere Aufmerksamkeit widmete er dem Wohlklang der Sprache, wobei ihm die italienische als Ideal vorschwebte; manche seiner Strophen sind sprachlich und klanglich so schön wie die von Puschkin. Einige seiner anakreontischen und antikisierenden Gedichte haben einen erotischen Hauch, so zart und graziös, wie ihn die russische Dichtung vor ihm nicht kannte. Sein Werk ist nicht groß: mit fünfunddreißig Jahren verfiel er dem Wahnsinn und verbrachte die zweite Hälfte seines Lebens in geistiger Nacht.
Ganz abseits von seinen Zeitgenossen, ohne direkte Beeinflussung durch die vorhergehenden und ohne Einfluß auf die späteren Dichter blieb der höchst merkwürdige Alexander Ssergejewitsch Gribojedow (1795–1829). Seinen großen Ruhm verdankt er einem einzigen Werke: dem Lustspiel Verstand schadet (Gòre ot umà). Was dem Franzosen Beaumarchais' Figaro, dem Deutschen Lessings Minna von Barnhelm und dem Engländer Shakespeares Komödien sind, das ist dem Russen Gribojedows Stück. Die Form ist die traditionelle, westeuropäische, die Sprache dagegen ist unverfälscht volkstümlich, wie wir sie unter den Zeitgenossen nur noch bei Krylow finden, und der Inhalt und die Tendenz sind ausgesprochen national. Die Handlung des Lustspiels ist schnell erzählt: Tschatzkij, der Held, kehrt aus dem Ausland nach Moskau zurück, zu seiner Jugendgeliebten Ssofja Famussowa; diese hat aber inzwischen ihr Herz dem Sekretär ihres Vaters, dem Kriecher Moltschalin, geschenkt. Tschatzkij sieht sich auch sonst grausam enttäuscht: die Moskauer Gesellschaft hat ihre alten guten Sitten verloren, ist erstarrt und verblödet und läuft zugleich jeder ausländischen Mode nach. Die angeblich nach der Natur gezeichnete Galerie der Moskauer ›Stützen der Gesellschaft‹ ist wirklich erschreckend. Tschatzkij ist von allen unverstanden, hält eine flammende Anklagerede auf die Gesellschaft, die »dem Franzosen aus Bordeaux« nachläuft, wird von dieser für verrückt erklärt und verläßt das Lokal. Der Vater seiner Angebeteten ruft entrüstet: »Mein Gott, mein Gott, was wird bloß Fürstin Marja Alexejewna sagen?«, und dann fällt der Vorhang. – Zu Gribojedows Lebzeiten erschienen nur einige Bruchstücke aus seinem Lustspiel, in dem er nicht nur gegen den »Franzosen aus Bordeaux«, sondern auch gegen Korruption, Leibeigenschaft und Unbildung wettert, im Druck; es fand nur in Abschriften Verbreitung. Die Zensur erlaubte erst 1833 die Veröffentlichung und auch das nur mit vielen Strichen. Heute gehört das Stück neben Gogols Revisor zum kostbarsten Besitz des russischen Theaters, und jede zweite Zeile daraus ist als ›geflügeltes Wort‹ in aller Munde. Gribojedow selbst dachte niemals an eine Aufführung seines Stückes. Er war kein Berufsliterat, sondern Beamter in diplomatischen Diensten; sein Leben verlief fern von den literarischen Kreisen der beiden Residenzen, auf dem Kaukasus und in Persien, und brach früh ab: er fiel als russischer Gesandter zu Teheran bei einem Aufstand, vom persischen Pöbel erschlagen.
Es waren noch keine hundert Jahre seit Lomonossow und dem Erscheinen des ersten in russischer Sprache gedruckten Buches vergangen, und schon hatte Rußland eine Literatur, auf die manches andere Land mit älterer Kultur und tieferer Bildung hätte stolz sein können. Shukowskij, Batjuschkow, Gribojedow und Krylow stehen in der europäischen Dichterfamilie jener Zeit als durchaus ebenbürtige Glieder da. Nun war auch der Boden reif für den, mit dessen Namen das folgende Kapitel überschrieben ist.