Akzente, Heft 3/Oktober 2022
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Michael Braun
Zeitschrift des Monats
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Akzente, Heft 3/ Oktober 2022

„Schlechte
Leser wollen gewinnen. Ich will besiegt werden von einem Buch“, hat der große
Selbstdarsteller Wolf Wondratschek in seinem untrüglichen Sinn für donnernde
Pointen einmal gesagt. Was genau diesen Zustand des ästhetischen
Überwältigtseins herbeiführt und was Gute Literatur in ihrem innersten
Kern ausmacht, hat nun die neue Ausgabe der Akzente herausfinden wollen.
Anfang Mai dieses Jahres hatte Hanser-Lektor Florian Kessler eine verlockende
Rundfrage an Schriftstellerinnen, Kritiker, Verlagsleute verschickt, die eine
kontroverse Debatte erwarten ließ: „Wann gelingt Literatur, wann ist sie in
irgendeiner Weise gut? Wann war für Sie das letzte Mal ein Roman, ein Gedicht,
eine Lesesituation, eine Autorinnen-Äußerung oder dergleichen einen Augenblick
lang wesentlich, richtig, von Gewicht?“ Es waren also grund-sätzliche
Einlassungen gefragt, Mikroanalysen ebenso wie Begeisterungsrufe und
Moment-aufnahmen aus der zeitgenössischen Literatur. Erschwerend wirkte sich allerdings
aus, dass ein 400 Zeichen-Format gefragt war – also Blitzlichter, extreme
Abbreviaturen und Lakonismen statt expansiver Abhandlungen.
Dennoch:
Es war die Chance, ein Mosaik der derzeit kursierenden Literaturbegriffe und
Erwartungen an die Poesie zu komponieren, eine Bestandsaufnahme der Gegenwartsliteratur
über ein Stimmenkonzert ihrer Akteure. Eine Chance auch, um die ruhmreiche
Geschichte der Akzente fortzuschreiben, die durch den rabiaten Relaunch
im Frühjahr 2015 merklich unterbrochen worden war. Dazu sei ein kurzer
Rückblick auf die Geschichte der Zeitschrift erlaubt: Im Februar 1954 hatte
Walter Höllerer gemeinsam mit Hans Bender die Akzente begründet, sie in
einer „Zeit zunehmender Sprachverstörungen“ (Höllerer) als Ort für eine
experimentierfreudige, poetisch wie politisch ambitionierte Literatur
etabliert. Michael Krüger hatte dann ab 1982 die Zeitschrift im Alleingang
fortgeführt, immer mit einer hellwachen Neugier auf neu zu entdeckende
Dichter:innen der internationalen Moderne. Ihre literarische Autorität hat die
Zeitschrift seit der Runderneuerung dann immer mehr verloren, was freilich auch
mit dem allgemeinen Bedeutungs-schwund von literarischen Periodika zusammenhängt.
Bis 2015 erschienen die Akzente in zweimonatlichem Turnus, nach dem
Relaunch 2015 nur noch alle drei Monate, mittlerweile nur noch dreimal im Jahr.
Ist nun mit
dem neuen Heft und seiner herausfordernden Frage nach der „Guten Literatur“ der
Befreiungsschlag gelungen? Denn auch heute kann man – wie Höllerer 1954 – von
einer „Zeit zunehmender Sprachverstörungen“ sprechen.
Immerhin
fast 260 Autorinnen und Autoren, Lektoren, Übersetzerinnen, Verleger,
Buch-bloggerinnen und Literaturkritiker haben auf die Einladungsfrage nach der Guten
Literatur reagiert und mehr oder weniger geschliffene Kurz-Statements und
knapp kommentierte Leselisten eingereicht. Von Katharina Adler und Thorsten
Ahrend bis hin zu Nora Zapf und Juli Zeh haben sich prominente und weniger
prominente Namen zusammengefunden, jüngere Akteure aus dem Literaturbetrieb
sind dabei in der Mehrzahl. Entstanden
ist eine sehr subjektive Kollektion aus Buchempfehlungen und Liebeserklärungen
an bestimmte Autoren, die ohne einordnenden Kom-mentar des Herausgebers
hintereinander aufgereiht sind. Vielleicht sollte man diese Statement-Kollektion
wie Kalenderblätter lesen, Tag für Tag ein paar Proben nehmen und sich über
einige Überraschungen freuen. Das Heft als geschlossenen Textkorpus zu lesen,
ist eher schwierig. Durch den rigiden Zwang zur Abbreviatur landen manche
Beiträger:innen bei allgemeinen Sentenzen („Gute Literatur ist für mich, was
bewegt, aufrüttelt, verstört…“), verlieren sich in kraftlosen Floskeln oder
ziehen sich zurück auf eine Kürzest-Rezension. Am ehesten überzeugen die sehr
persönlichen, lakonischen Bekenntnisse: „Ich bin des amerikanischen Realismus
und seines Beschreibungsfleißes müde und finde Erleuchtung bei Jon Fosse.“
(Ulrich Greiner) Oder: „Im Februar kam Levin Westermanns farbe komma dunkel
zu mir. Ich hatte zuerst keine Zeit und dann doch.“ (Anja Utler) Das kürzeste Statement
stammt von Saša Stanišić: „Ich habe Die drei Musketiere von Alexandre
Dumas in einem Keller unter Granatenbeschuss zu Ende gelesen.“
Trotz der Zufalls-Chronologie
der Statements lassen sich einige Favoriten unter den genannten GUTEN
Autor:innen herausdestillieren. Viele Beiträger thematisieren den russischen
Überfall auf die Ukraine als Moment des Schocks und des dadurch geprägten
Leseinteresses: So werden Serhij Zhadan und Juri Andruchowytsch mehrfach
genannt, auch regimekritische russische Autorinnen wie Ljudmila Ulizkaja. Als
vielgenannte Anwärter fungieren im Feld der GUTEN Literatur auch „der
migrantische Blick auf die Gesellschaft“ in Fatma Aydemirs Roman Dschinns
und die radikal queere Selbstbehauptung des vietnamesisch-amerikanischen Lyrikers
Ocean Vuong. Dass in den neuen Akzenten aber nicht nur die gerade mit
dem Nimbus des dernier cri versehenen Autoren reüssieren, zeigt die
mehrfache Fürsprache für die Kurzgeschichten der 1997 verstorbenen Schweizer
Erzählerin Adelheid Duvanel, deren fatalistische Menschenkunde in die bittere
Erkenntnis mündete, dass „Einsamkeit und Menschen (gleichermaßen) zerstörerisch
sind“.
Als
kleiner Einblick in den derzeitigen Bücherbestand der Literaturbetriebsmenschen
ist das neue Akzente-Heft durchaus nützlich. Zur entscheidenden Frage
nach dem Wesenskern der GUTEN Literatur liefert das Heft aber bestenfalls
einige Skizzen ab, leider auch dutzendfach stereotype Formeln. Tröstlich
immerhin – in Sachen Literatur und Ukraine-Krieg - ist ein sehr kurzes Gedicht
Else Lasker-Schülers, auf das im Heft der Literaturwissenschaftler Thomas Anz
aufmerksam macht: „Georg Trakl erlag im Krieg von eigner Hand gefällt. / So
einsam war es in der Welt. Ich hatt ihn lieb.“
Akzente,
Heft 3/ Oktober 2022, Hrsg. v. Florian Kessler, Carl Hanser Verlag, 80 Seiten,
10 Euro.