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Adrian Kasnitz: Glückliche Niederlagen

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Meinolf Reul

Zu Adrian Kasnitz: Glückliche Niederlagen



Wo immer wir hinschauen, ist es schwierig
eindeutig zu bestimmen, was das war
was wir sehen, was das war, was wir anfassen.

Adrian Kasnitz, Glückliche Niederlagen („Tivoli“)


Ein Supermarkt, ein „Geschäft das es nicht mehr gibt“, eine „Landbäckerei“, ein „Schwimmbad“, ein „Windpark“, eine Wiese, eine Straße, eine Bar einerseits, ein Dutzend europäischer Städte zwischen Nordsee und Asowschem Meer, Flüsse, Landschaften andererseits: der lokalen und geographischen Bezüge sind viele in dem neuen Gedichtband von Adrian Kasnitz (nach Sag Bonjour aus Prinzip und den ersten beiden Lieferungen seines zwölfteilig konzipierten Jahrestage-Zyklus', Kalendarium). Glückliche Niederlagen – ein schöner, widersprüchlicher Titel. Er kündet von der Möglichkeit eines erarbeiteten, philosophischen Glücks, das anderen Maßstäben folgt als das sattsam bekannte Allerweltsglück, welches ja, zumal in der zugespitzten Form des Erfolgs, etwas Bedrängendes und Deprimierendes haben kann. In Glückliche Niederlagen steckt etwas vom Beckett'schen: „fail, fail again, fail better“. Einem solchen Glück ist zu trauen, das den Sturz kennt und dem Scheitern wie selbstverständlich einen Sitz freihält; es allein vermag einen gelassenen, realistischen Optimismus zu begründen und zu rechtfertigen – das genaue Gegenteil des Zwangspositiven, das dem Glücklichen doch nur eine bleckende Grimasse aufs Gesicht presst, als würde ihm der Arm umgedreht. – „Niederlage“ könnte zudem mit „niederlegen“ zu tun haben, mit „schriftlich festhalten“. Dann hätten wir so etwas wie Glücksnotate vor uns.

„[S]ehen“, „anfassen“, heißt es im oben zitierten Gedicht-ausschnitt. Es kann als Hinweis auf eine Eigenart gelten: Kasnitz' ins Abstrakte weisende Sprache ist eigentlich sinnlich – wenn auch auf indirekte Weise, da die Ratio seit jeher und für immer ihre Hand draufhält. Es ist die List des Dichters gegen diese vorgegebene unumgängliche vernunfthafte Prägung der Sprache, dass er seine sensualistische Auffassung des „Wahrnehmungsinstrument[s] Gedicht“ (Thomas Kling) nicht auf eine griff-feste Präzision des Ausdrucks verengt, wenngleich ein Text wie „Taganrog / Rand und Mitte“ geradezu erzählerische Qualitäten hat – darin liegt eine Stärke seiner Gedichte. Die zur Sprache gebrachte Welt bewahrt etwas Ungreifbares, sich Entziehendes, Weiches.

Die Worte (als Symbole der Noch-nicht-Worte) gehen nicht restlos in der Verschriftlichung auf, sondern bewahren ihr Vorsprachliches als Eihaut. Sie sind nicht das „Kärtchen um die Zehe des Dings“, denn dies würde dessen endgültiges Stillhalten, ja Totsein voraussetzen. Im Gegenteil, ist die Verknüpfung von Weltding und Sprachding in den Kasnitz'schen Gedichten als eine bewegliche angelegt, ihrer beider Beziehung ist nicht definitiv geklärt. So stellt das Geschriebene seinen ephemeren, flüssigen Kern aus, es will in kein Bild gefangen werden. Indem der Fluchtpunkt wegrutscht, hält aber das Ganze. Kasnitz baut der Poesie ein instabiles Gehäuse, darin kann sie atmen. Die Gegenstände (Objekte, Themen) kommen von seitlich, als Umstände in den Blick, wie durch halbgeschlossene Lider wahrgenommen, ohne Grellheit, ohne Tamtam. (NB. Die Geräusche in Glückliche Niederlagen fallen vornehmlich in den leisen Bereich der dynamischen Skala: Knistern, Rascheln, Gurren, Kratzen [„schipp, schapp“, machen die Schlittschuhe], Kichern, Klacken [von Verschlüssen] … Es kommen aber auch vor: Rauschen, Rattern, Kreischen, Donnern.)

Die Gedichte folgen demnach einer Ästhetik des mild unscharfen Sehens. Wenn „Schlieren ziehendes Glas“ erwähnt wird (auch unter dem Namen Danziger Glas bekannt) – d.i. Glas, das Licht durchlässt, aber den Durchblick erschwert – so kann dies ebenso als Indiz hierfür gelten wie der Regen als ein in mehreren Gedichten sich niederschlagendes meteorologisches Phänomen, das mehr noch als eine Wetterlage ein poetologisches Programm andeuten mag: So wie die Schraffur des Regens Konturen und Formen auflöst, ist es auch Kasnitz um das Zerfließen und Ineinanderfließen, das Verwischen und Überblenden zu tun. Mehr beschreibend geschieht dies z. B. in „Die ankommende S“ („verwackelte Bilder“, „verwischte Gesichter“), mehr prozessual in „Badesee“, wo Wortwiederholungen eine Art gesprungene Optik erzeugen, eine mutwillig herbeigeführte Verrückung wie beim doppelten Sehen. – In Art einer Doppelbelichtung sind das unbetitelt „Die Kufen, das leichte Kratzen“ oder, ebenfalls ohne Überschrift: „Analysis und Plusquamperfekt, abgelegte Fähigkeiten, zerbröselt“ ausgeführt, ein Gedicht, dessen Kippunkt von dem Wort „Brüche“ markiert wird, aber es kippt gar nichts, sondern wird balanciert.
Angesichts dieser beweglichen Fügungen ergibt es also Sinn, wenn Wasser das beherrschende Element der Gedichte ist, nicht nur angesammelt als Regen oder Schnee, sondern auch in den förmlichen Einheiten von Fluss, See, Meer und Pfütze oder in  abgemessener Gestalt eines Schwimmbads (in dem ein Kind das Schwimmen lernt: „Schöne Flossen und ein Ring / Am Körper um dich zu retten“). Auch Wolken kommen prominent vor, „Wolken, säuregrün / und verwunschen“, schlierig auch sie.

Neunzehn der vierundsechzig Gedichte werden in einer bibliographischen Notiz als Hommagen an bzw. Antworten auf Schriftsteller*innen und Künstler*innen ausgewiesen. Das beginnt bei einer mit Peter Handke assoziierten Bergwanderung („Regen“) und endet – via Amy Lowell – in einer Stadtwüste („Aus Nichts und Geröll“). Mit Inger Christensen besucht Kasnitz: „Eine Wiese in Vejle“, in Dänemark natürlich, und mit Mario Levi eine Moschee in Thessaloniki, während Benjamin Katz ihn an die „Belgische Küste“ führt und Guillaume Apollinaire an den Rhein (darin Spiegelungen der Seine, vom Pont Mirabeau aus betrachtet / „Rheinische Nacht“). Die historische Landschaft Sarmatiens („Bis zur Memel“) verweist auf Johannes Bobrowski.

Es lassen sich an diese Verweisgedichte schöne intertextuelle Studien anschließen, was hier nur angedeutet werden kann. „Winkel und Kurve“ z. B. zitiert Hölderlin (wie übrigens auch noch ein zweites Gedicht des Bandes). Zum Vergleich:

Der Winkel von Hardt

Hinunter sinket der Wald,
Und Knospen ähnlich, hängen
Einwärts die Blätter, denen                        
Blüht unten auf ein Grund,
Nicht gar unmündig.
Da nämlich ist Ulrich
Gegangen; oft sinnt, über den Fußtritt,
Ein groß Schicksal
Bereit, an übrigem Orte.


(Friedrich Hölderlin)

Winkel und Kurve

Hinunter fällt mein Blick
Und Himbeern ähnlich hängen
Auswärts die Zustände denen
Die schiere Aufmerksamkeit gilt
Nicht so unfreundlich
Dann nämlich ist Erfolg
Möglich auch der feste Fußtritt
Als großer Wink
Sei bereit für andere Läufe


(Adrian Kasnitz)

Kasnitz übernimmt die Verszahl, auch die Zahl der Worte je Vers ist annähernd identisch (4-4-4-5-3-4-6-3-4 bei Hölderlin gegenüber 4-4-4-4-3-4-5-3-5 bei Kasnitz, der also nur ein Wort weniger verwendet, nämlich insgesamt sechsunddreißig), lässt aber die Interpunktion weg und retuschiert im übrigen den Text des Ursprungsgedichts stark, bürstet ihn geradezu gegen den Strich, z. B. wenn Hölderlin „Einwärts“ schreibt und Kasnitz „Auswärts“ oder die „Blätter“ zu „Zustände[n]“ mutieren. Der bei Hölderlin topographisch zu verstehende und genau lokalisierbare „Winkel“ („Winkel von Hardt“) erscheint bei Kasnitz als eher unbestimmt. Der legendenhafte Inhalt des Hölderlingedichts, das eine Begebenheit aus der Vita des Herzogs Ulrich von Württemberg erzählt, ist bei Kasnitz ins Subjektive gewendet – „mein Blick“ heißt es gleich zu Beginn. Dieser Ichbezug wird in der objektivierenden Formulierung „denen / Die schiere Aufmerksamkeit gilt“ camoufliert und kehrt schließlich als Selbstansprache wieder: [Sei] „[n]icht so unfreundlich“, „Sei bereit für andere Läufe“. Bei Hölderlin ist ein württembergischer Herrscher Held des Geschehens, bei Kasnitz ein mit sich selbst streitender Anonymus. In personaler Hinsicht hat sein Gedicht also eine niedrigere Fallhöhe, auch das Sprachregister ist nüchterner. Auf Hölderlins „groß Schicksal“ echot bei Kasnitz „großer Wink“, allenfalls vielleicht im Kopf zu ergänzen mit: „des Schicksals“ (ebenso bei „Läufe“). – Der zentrale Vers markiert hier wie dort einen Wendepunkt, bei Kasnitz mit konsekutivem Anschluss: „Nicht so unfreundlich / Dann nämlich ist Erfolg / Möglich […].“ Vielleicht verbirgt sich in diesen Versen das zweite Element der Gedichtüberschrift, in dem Sinne, dass das lyrische Ich (noch) 'die Kurve kriegt'. „Sei bereit für andere Läufe.“ – Das Wort „Erfolg“ verweist auf die „Glückliche[n] Niederlagen“ des Buchtitels, während die Sequenz „Himbeern […] hängen“ den Vers
„Mit gelben Birnen hänget“ aufruft, den Beginn des Hölderlingedichts „Hälfte des Lebens“, das zum selben Zyklus von neun Gedichten gehört, die der Dichter als „Nachtgesänge“ bezeichnete (diese Titulierung wurde dann für den Druck nicht übernommen). Auch wegen dieser Resonanz liest sich „Winkel und Kurve“ wie ein bilanzierendes Gedicht. Im Buch steht es an fünftletzter Stelle.

Das erwähnte zweite sich auf Hölderlin beziehende Gedicht heißt „Griechenland“. Hölderlins hymnisches Griechenlandbild („[...] Aber silbern / An reinen Tagen / Ist das Licht. Als Zeichen der Liebe / Veilchenblau die Erde. [...]“) kommt ins Säurebad der Ernüchterung, an die Stelle hochgestimmten Jubels tritt Resignation, passend zur lakonischen Beschreibung des – vielleicht – Athener Verkehrschaos', die Kasnitz liefert, und aus der die in Versalien gesetzten Anrufungen („DEINE ARME“, „LUST“, „DEINE LIPPEN“, „DEIN MUND“) hervorragen wie die hochgereckte Hand eines Ertrinkenden. – Das „Veilchenblau“ der hier einigermaßen willkürlich, als Stilprobe, aus Hölderlins Gedicht „Griechenland“ (Dritte Fassung) zitierten Verse kehrt übrigens an anderer Stelle in Glückliche Niederlagen wieder, bezeichnenderweise abgewandelt zu: „Farbe von Vielleicht“ („Wolkenbekanntschaft“).
Unmittelbar auf „Griechenland“ folgend, und in gewisser Weise thematisch mit diesem verwandt, ist das Gedicht „Abgegangene Dörfer“, eine Stele in Memoriam der während der deutschen Besatzung (1941-1944) deportierten und ermordeten griechischen Juden.

Leider hat der Verlag auf Grund eines Fehlers im Layout, bei sonst sorgfältigem Lektorat, sämtliche namentlichen Querverbindungen falsch zugeordnet, (meist) jeweils um zwei Seiten verschoben. Auch wenn dieser Irrtum auf einer Korrekturseite berichtigt wurde – die Verwirrung ist da. Das ist bedauerlich, ändert aber nichts daran, dass Kasnitz' Gedichte gut sind, sehr gut sogar. Man muss ihnen allerdings (und sich selbst) Zeit lassen; es sind grower, keine burner: sie gewinnen mit jedem neuen Lesen.


Adrian Kasnitz: Glückliche Niederlagen. Gedichte. Köln (Sprungturm Verlag) 2016. 80 S. 15,90 Euro.

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