Aaiùn Nin: Denn Schweigen ist ein Gefängnis
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Stefan Hölscher
Aaiùn Nin: Denn Schweigen ist ein Gefängnis. Gedichte. Übersetzt von Ọlaide Elisabeth Frank. Kopenhagen (én Verlag) 2023. 87 Seiten. 22,00 Euro.
Queere Ausdruckslust als Weg in die Freiheit
Eine Frau sein, die andere Frauen liebt – das kann wunderbar schön, einfach und natürlich sein; je nachdem, wo frau lebt. Die 1991 geborene Autor*in, Künstler*in und Aktivist*in Aaiún Nin stammt aus Luanda, Angola. Und dort ist es das nicht. Mädchen und Frauen werden dort vielfach unterdrückt und misshandelt; queere Menschen werden verfolgt. Aaiún Nin ist beides: Frau und queer. In ihrem Heimatland konnte sie nicht leben. Ihre Flucht hat sie schließlich nach Dänemark geführt, wo sie seit 2016 lebt. 2022 erschien ihr literarisches Debüt „Broken Halves of a Milky Sun“, ein Gedichtband, der nun, übersetzt von Olaide E. Frank und publiziert im én-Verlag, auch auf Deutsch vorliegt.
Auswirkungen von Kolonialismus, Rassismus und Gewalt
Aaiún Nin’s Gedichte sprechen von den Auswirkungen von Kolonialismus, Rassismus, Gewalt, heuchlerischer Religiosität und Verletzlichkeit. Sie sprechen aber auch von befreiender Liebe und Queerness. Stilistisch sind die Texte sehr prosanah, gekennzeichnet durch eine Art Staccato, in dem immer nur wenige Worte, sehr häufig Nomen, eine Sinn- und Lauteinheit bilden, die durch Wiederholungen und Parallelismen einen besonderen Nachdruck bekommt:
Mädchen in sittsamer Kleidungauf dem Weg zur Schuleauf dem Weg zur Kircheauf dem Weg zum Friedhofin sittsamer Kleidung.Versteinerte Augenfehlende Zähneblauschwarze Hautaneinandergedrängtin Missbrauch gebadet.Das erste Sterben.In einem Massengrabwird ein blauschwarzer Schatten geboren.In einem Raum, der nach Kerosinlampen riechtzwei Frauen inmitten ihres vierten Sterbensdraußen sitzen Männer, trinken Bier.Holographisch.
Sprache als Befreiung von Traumatisierungen
Die Sprache ist oft wie ein Pochen, das zugleich
Ausdruck der Traumatisierungen und ein Pochen auf Leben und Freiheit ist:
Trauma. Befreiung.Lingua als Muskelkontraktion.Zwischen Schlitzen.Im Mund.Lingua als Organ.Lingua als Zunge.Zwischen Beinen.Lingua als Seil.Lingua an Klitoris.Klitoris pulsierend anLingua.Nervenenden. Muskeln. Haut. Vulva. Squirt.Sprache als BefreiungRaum
zwischen Wänden.Kontraktion. Kontrareaktion. Gegen den Strom.Nach welcher Befreiung sich Körper sehnen.Abwesenheit. Kein Gefühl.Wahrnehmung ungewohnt. Pulsieren. Schlitze, Spalten, enge Räume.Sprache als Befreiung. Befreiung als. Befreiung.Lingua als Zunge. In engen Räumen.Muskelkontraktionen. Zwischen Schlitzen.Eingeben von Gedanken. Erinnerung. Anima.Was animiert den Körperschlagendes Herz.Geflickte Arterien.Ein komplexes zentrales Nervensystem.Bakterielle Ökosysteme.Die Haut, die alles umhülltschwarzblau purpurne Blutergüsse.Was animiert den Körpergespaltene Kommunikationunmittelbare Kommunikation
Ein Ruf nach Widerstand, Selbstermächtigung
und Freiheit
In derart pochenden Wiederholungsschleifen bekommen die
Texte von Aaiún Nin etwas stark Suggestives. Sie wirken
zugleich wie eine autobiographische Verarbeitung erlebter Unterdrückung, eine reflexive
Ermächtigung des durch Unterdrückung verletzten Ich, aber auch wie eine
offensive Anklage einer von Grund auf ungerechten Welt. Es entsteht ein Ruf
nach Widerstand, Selbstermächtigung und Freiheit, der sich einer durchaus
penetranten Sprache bedient und bedienen muss, „denn Schweigen ist ein
Gefängnis“. Man kann sich fragen, ob die in dem Band versammelten Texte
„Gedichte“ oder nicht eher suggestiv-agitative Prosa sind. An nicht wenigen
Stellen ist die Sprache von Aaiún Nin so direkt, so nah auch an umgangssprachlichem
Bedeutungsduktus, dass man nicht unbedingt das Gefühl bekommt, sich in einem
poetischen Kontext zu befinden:
Wer geflohen ist wurde zurückgeschickt.Es ist inzwischen illegal, Zuflucht zu suchen.Die Black- and Brown-Quote in Europa ist erreicht.Das Mittelmeer ist nun ein Massengrab.
Ein derart normalsprachnaher Prosastil lässt sich je
nach Betrachtungsweise als besondere Charakteristik, als pointierte Stärke oder
als poetische Schwäche beurteilen. Offensichtlich ist allerdings, dass das
Direkte, das Pochende und das Wiederholende der Sprache in „Denn Schweigen ist
ein Gefängnis“ eine für die Autorin wichtige Funktion
erfüllt: es ist wie ein Rütteln an Gitterstäben; ein Rufen, das die Umstehenden
aufmerken lassen soll und eine im Prozess des Sich-Ausdrückens Gestalt
annehmende Selbstbehauptung, wozu auch das Ausleben queerer Begierde gehört,
selbst da, wo es die Trennungen nur für einen Lustmoment aufheben kann:
Wir trafen uns in einem Caféunsere Existenzen vergänglichdurch Kontinente getrenntWir gehören nur der Zeitund kurzzeitig der Begierde
Eine lustige Sache. IntimitätDass wir Stunden miteinander verbringen könnenTageund uns trotzdem so fremd miteinander fühlenAls ob der flüchtigen Naturunserer Begegnungdie Tiefe fehltum Sex in mehr zu verwandelnDie Schamlosigkeit unserer Fingerunterzeichnet ein wechselseitiges Abkommendass wir niemals Teile voneinander sein werdenEs war nur die Lust.
So ist es; so kann es sein. An solchen Stellen
erfahren wir nicht allzu viel Neues; und ob durch die Gedichte von Aaiún Nin nun insgesamt ein Sog entsteht, der Leser*innen
in den Bann zieht oder mit dem Eindruck zurücklässt, nicht allzu stark berührt
worden zu sein, wird wohl nicht zuletzt auch davon abhängen,
wie feingliedrig das eigene poetische Nervensystem gestrickt ist.
Wir danken queer.de für die
freundliche Erlaubnis der Zweitverwertung dieses Beitrags.