A. P. Petermann: Grau
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Frank Milautzcki
A.P. Petermann: Grau. Köln (parasitenpresse) 2023. 92
Seiten. 14,00 Euro.
Grau im Nahverkehr
- ein Echo auf das Buch „Grau“ des Köllektivs A. P.
Petermann (2023)
Grau ist ein Ereignis; in der Materialsammlung des
Köllektivs A. P. Petermanns (im Folgenden: KAPP) aus dem Kölner Stadtteil
Mauenheim steht es für „das Bild der Proto-typen, denen ein Hauch gewesener
Farbe anhaftet“. Sie werden gelistet, um in der Vielfalt der Liste das
Gefundene rekolorisieren zu können.
Indem man Nuancen aufschreibt und zusammenbringt, wird
deutlich, daß selbst das Graue an sich nur ein Gemisch aus vielerlei Grauem
ist. Graue Klaviatur, unfarbig bunt. Nun hat jeder Prototyp das Problem,
different, also verschieden zu sein, und damit umso parteiischer und
entschiedener zu lesen wäre, weil das Nuancieren auch Temperament und Kultur
mit-kompiliert. Prototypen sind eigentlich Kandidaten der Farbigkeit und wenn
der KAPPsche Satz stimmt, verwirklicht sich hier die Idee, daß nicht nur das
Geschrei eine Differenz behauptet, sondern auch der Hauch. Wir können als
Graudenker genauso farbig sein, wie ein Farbverfechter. Während die
Entscheidung für das Graue sagt, hier gab es Farbe, die wir eliminiert haben,
um in der Mitte zu sein. Grau ist kein unnützer Zustand, da er das Offene
festhält.
Es gibt keine Antwort auf die Frage, welche Farbe hat Gott.
Um das zu verfeinern, muß man fragen, ob Grau die Antwort auf die Frage nach
der Farbe sein darf. Ist Grau eine Farbe oder eine „farblose Allfarbe“, wie sie
Peter Sloterdijk bezeichnet, mit dem sich KAPP notgedrungen auseinander-setzen
muß, weil dessen Buch „Wer noch kein Grau gedacht hat“ unverhofft inmitten der
Arbeiten am begleitenden Essay des eigenen Bandes erscheint und bei den Autoren
ungeheure Querblitze hervorruft, die teils eine ärgerliche Überraschtheit
spiegeln, welche es aber tatsächlich nicht braucht. Man zielt nicht aufs
Gleiche, wenn man, wie KAPP, Begriffe sammelt, 2023 an der Zahl, dem Jahr des
Erscheinens des Buches entsprechend, und daraus eine Vielfalt entwickelt, wie
das Graue in unseren Tagen, und Umweltungen allgegenwärtig ist, und wenn ein
Philosoph versucht, im Grauen der Welt die Allmacht des Lichts zerbrechen zu
sehen. Das Köllektiv A. P. Petermann ist dem Monolithen Sloterdijk nicht gut,
weil der, so schreibt es KAPP, seine poetischen Philosophien einer „natürlichen
Getriebenheit des Menschen, den Echowindungen der eigenen Brillianz
nachzulauschen“ verdanke.

Da gehe ich nicht mit. Nachweisbar klug Denkende wie
Sloterdijk lauschen dem Satz, wie er brilliert, wie er wegstrahlt, sind
fasziniert vom Lichtwurf und Wahrnehmungseinspruch, als schlüge hier ein
fremdes Herz, das Worte in die Welt pumpt. Das passiert nicht onanierend,
sondern stoffwechselnd. Das Kennzeichen guten Denkens ist ja das Verändern des
Inputs in die Überraschung des Outputs. Als wär man selbst nur der Durchgang.
Den glaube ich Sloterdijk. Er gestattet dem Begriff, das ganze Instrumentarium
Sloterdijk zu nutzen.
Während KAPP auf den Straßen unterwegs ist, urteilsfrei
Zeichen liest, listet und verwahrt, und so lokal gewonnene, unbewertete Räume
in Gang und Rang bringt: „Kornblumengrau Kotzgrau Kraftgrau“. Die alphabetische
Aufzählung kann nichts dafür, was in ihr passiert, sie ist vom Zufallen her
poetisch aufgeladen. KAPP kann darauf vertrauen, daß die nach Anfangsbuchstaben
gelisteten Begriffe aus Mauenheim, in welche nicht wenige, sehr
unterschiedliche Zitate aus einer persönlichen Weltliteratur einsickern (zu denen
Knorkator genauso gehören wie Max Stirner, The Cure oder Thomas Kunst), in
ihrer Summe wie eine Bigband aufspielen.
Natürlich geht es KAPP um genau diese Vielfalt. Die Welt
ist, wenn sie denn grau ist, so verschieden grau, daß man nur staunen kann. Es
kleidet sehr real die Ratte, wenn sie in schlechtem Licht nach Entdeckungen
huscht, und bildet ab die irreale Farblosigkeit, die Menschen in die Welt
hineinprojizieren, wenn sie depressiv auf Laken zum Krümel werden. Grau kann
beides, weil es ein Shakehand des Vielen ist.
Sloterdijk, so verstehe ich KAPPs Kritik, redet ein Grau
herbei, das seinem Buch dient. Ich muß zugeben, ich habe mir, nachdem ich KAPPs
Grau gelesen habe, Sloterdijks Buch besorgt und versucht, die Anwürfe
aufzufangen und abzugleichen. Ich bin dabei völlig in Verzug geraten – die
beabsichtigte Rezension fiel nach hinten und hinten weg. Viele Einzelgedanken
haben sich eingestellt, die noch immer im Unentschieden parken. Das Thema ist
gewaltig. Wir schütten uns mit so viel greller Farbigkeit zu, daß anscheinend
nur Schwarzweiß noch ordnen kann.
Zuviel Farbe – geht das? Man muß das Wesen des Graus
verstehen. Es wirkt als Einheit, ist aber die Summe. KAPP will den Befund über
die Grauheit der Welt dahin zurücklesen, daß dieses ganze Versammeln unter
einem Begriff eigentlich nur ein Aufsummieren schwarzweißer Sichtweisen sein
kann, aber es genauso auftaucht wie eine Allesfarbe, die das Überbunte einsackt
in erdfarbene Jute. Grau an sich kann und will vereinen. „Wer Vermischung sagt
– bei den Griechen: synkrasis, Zusammengewachsenheit, Mutterwort des lateinischen
concretum, des Festgewordenen, des englischen Betons, auch des hegelianisch-leninschen
‚Konkreten‘ –, der sagt eo ipso: Grau. […] Die Wahrheit ist grau in dem Maß,
wie sie konkret ist, zusammengebacken aus Verschiedenem und Entgegengesetztem“
schreibt Sloterdijk. Das gilt für den Schwarzweißkonflikt ebenso wie für die
Aspektwelten aller Farben und Dimensionen, beides Mal erzeugt die Vermengung
solide lange Weile (im Sinne der Dauer). Ich würde darin eine Vorstufe zum
Frieden sehen wollen.
In meinem Alltag bewege ich mich durch einen festen Rahmen
aus Grau, dem Anthrazit der Straßen, das Beton der Wände und der Mauerträger,
das Blech der Rohre, das Zink der Transportgestelle – alles Massive ist grau,
gehört zu den Bergflanken der industriellen Welt. Das Feste hat sich grau
verbacken. Natürlich gibt es Betongrau in KAPPs Band. Er selbst hat als
Umschlag eine abfotografierte Betonfläche. An schlechten Tagen hinzu kommt der
Himmel, der in tausend Variationen Grau herum um die Erde schiebt. Wolke und
Stein, sie brechen zusammen unter ihrer Fracht in ein unbuntes Dasein. Ich mag
den schwangeren Himmel, kurz bevor es regnet, wenn alles schwer und dunkel von
irgendwoher kommt. Und Pferde, wie sie im Regen stehn, von grauer Nässe beprügelt,
und sie senken den Kopf und sind still und tropfen.
So wie die Liste ein Zeugnis für Vielheit sein kann, so hat
der Einzelfall die Chance auf eine Demonstration von Tiefenwirksamkeit. Deshalb
hätte ich mir neben der bucheröffnenden seitenlangen Listung einen
Beispielkatalog erhofft, der mehr vom einzelnen Grau erzählt. Vom Grünen Hof in
Mauenheim beispielsweise, im Buch als „Grüner-Hof-Grau“ gelistet. Allein zu
diesem einen an Begriffen von 2023 ließe sich erzählen, wie ein Architekt im
Köln der Zwanziger Jahre eine Wohnanlage in Mauenheim baut, architektonisch
angesiedelt zwischen dem Ausklang des Expressionismus und dem Anheben einer
neuen Sachlichkeit. cityinfo-koeln schreibt im Netz:
„Hauptsehenswürdigkeit von Mauenheim ist der 'Grüne Hof'. Dabei handelt es sich
um eine große Wohnanlage, die insgesamt fast 700 Wohnungen umfasst. Errichtet
vom Architekten Wilhelm Riphahn nach britischem und niederländischem Vorbild,
war dieser Bau in den 1920er Jahren einer der ersten Sozialbauten Deutschlands.
Erstmals wollte die Regierung der Bevölkerung billigen Wohnraum verschaffen.
Der 'Grüne Hof' (der Name stammt übrigens vom begrünten Innenhof der
Wohnanlage) wurde in den 1990er Jahren renoviert und ist bis heute ein sehr
beliebter Wohnraum. Die Bauweise erinnert an mittelalterliche Häuser, wodurch
der ganze Stadtteil älter wirkt als er eigentlich ist.“ Riphahns Credo hieß:
„Lich, Luff und Bäumcher“ – wie trostlos aber gerade der „grüne“ Innenteil
anfangs aussah, zeigen alte Postkarten. Aufgrund welcher Tristesse auch der
heutige Mauenheimer von „Grüner Hof-Grau“ spricht, wäre zu erkunden.
Hier finde ich ausgelassene Chancen, die m.M.n. poetisch für
das Projekt fruchtbarer gewesen wären, als Diskurssätze in Richtung PS, wie man
in den Anekdoten im Essayteil des Buches deutlich sieht, z.B. bei den „Grauen
Erbsen von Elmshorn“. Insgesamt ist das Buch ein Nachschlagewerk geworden, das
die Grauzonen von Mauenheim und Mauenheimern zusammenführt und damit
dokumentiert, wie sehr wir auf Sicht fahren, aber dabei hinter den Flächen von
Tieferem wissen. Grau macht kaum was her, ist aber ein Mix aus Klarheit und
Dunkel. Es kann beides: beruhigen und bedrücken, Oberfläche sein und Masse. Es
ist ein Resonanzkörper und ein Instrument. Grau ist die Musik vom Dasein,
versteinert im Muschelkalk, zur Ruhe gekommen im Stein, über den der Nebel
leckt. KAPP schreibt: „Für uns Menschen aus Mauenheim bleibt Grau Entwirrung
und Verwirrung. Es ebnet ein und lässt seine Umgebungen wenn schon nicht
glänzen, dann wenigstens leben“, und weiter: „Als Farbe repräsentiert Grau den
Widerspruch in sich schlechthin. Autistische Göttlichkeit als multifunktionale
Referenzfläche.“
Das Köllektiv A. P. Petermann hat mittlerweile das Geheimnis
um eine von zwei beteiligten Identitäten gelüftet. Es handelt sich um Autor und
Fotograf Stan Lafleur. Die andere Hälfte schien mir ebenfalls enträtselt, da
ich aber keine explizite Aussage dazu fand, hülle ich mich in Schweigen. Es
gibt jedenfalls weitere Verbündete:
Man kann der Parasitenpresse nicht genug danken für das
Verwirklichen solcher spannenden Ausnahme-Projekte, die sich in Grauzonen
wagen.
FM, 29.08.2024