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14 Pinselnotizen - 10

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14 Pinselnotizen
aus dem Yue wei caotang biji
("aus der Strohhütte der Betrachtung des Unscheinbaren”)

des Ji Yun (Ji Xiaolan, 1724-1805).
Übersetzung: Rupprecht Mayer

10)

In höchster Gefahr und größter Not tun Menschen manchmal seltsame Dinge, und hinter irrationalen und und unmotivierten Vorgängen verbirgt sich oft etwas gänzlich Unerwartetes. Wenn etwas ausserhalb aller Konventionen getan wird, dann kann man es nicht “mit festgeklebten Lautenwirbeln” beurteilen. Eine Frau aus meinem Heimatbezirk kam einmal unvermittelt mit gut einem Dutzend anderer Frauen zu einer Familie in einem Nachbardorf, stiess das Tor einer Familie auf und entführte deren Tochter. Ging es um einen Streit? Die Leute hatten vorher keinerlei Kontakte gehabt. War es ein Brautraub? Die Frau hatte keinen Sohn. Die Leute im Dorf waren verblüfft und konnten es sich nicht erklären. Die Familie des Mädchens erhob Klage beim Magistrat, der das Mächen sofort zur Fahndung ausschrieb. Die Frau war bereits mit dem Mädchen auf der Flucht, ohne eine Spur zu hinterlassen. Auch die Frauen, die mitgekommen waren, waren in alle Richtungen geflüchtet.

Eine Menge von Personen wurden festgenommen und immer wieder verhört, bis schliesslich eine
von ihnen mit der Wahrheit herausrückte: “Als der kranke Sohn jener Frau im Sterben lag, da streichelte sie ihn und sagte schmerzerfüllt: ‘Dass du sterben musst, ist dein eigenes Schicksal, doch was für ein Jammer ist es, dass du keinen Enkel hinterlässt! So werden dein Grossvater und dein Vater zu hungrigen Totengeistern.’ Der Sohn antwortete röchelnd: ‘Es ist nicht sicher, dass du einen Enkel bekommen wirst, aber es gibt Hoffnung. Ich war insgeheim der Tochter der Familie Soundso zugetan, und sie ist jetzt im achten Monat schwanger. Es ist nur zu befürchten, dass das Kind nach der Geburt getötet wird.’ Nach dem Tod ihres Sohnes führte die Frau gut zehn Tage lang Selbstgespräche, bis sie plötzlich diese Tat unternahm. Sie hat das Mädchen wohl geraubt, um das ungeborene Kind zu retten.” Der Magistrat war verblüfft und sagte: “Wenn das so ist, dann brauchen wir nicht nach ihr zu fahnden. Sie wird in zwei oder drei Monaten von selbst zurückkommen.” Innerhalb dieser Zeitspanne stellte sie sich tatsächlich, mit ihrem Enkel in den Armen. Der Magistrat wußte nicht, was zu tun war, und entschied schließlich auf “schwere Ungehörigkeit” und eine Prügelstrafe, von der sie sich freikaufen konnte. Diese Aktion war blitzartig durchgeführt worden. Nur ein geringes Zögern, und es wäre zu spät gewesen. Die Frau hatte unerhört schnell und entschlossen gehandelt. An Jinghan meint: “Als die Frau in der Nacht mit dem Mädchen flüchtete, hatte sie drei Wagen, die ihre Mägde, die Frauen und sie selbst in verschiedene Richtungen fuhren. Deswegen konnte man ihren Aufenthaltsort nicht herausfinden. Sie hielten sich auch nicht an die Amtsstrassen, sondern fuhren kreuz und quer, eine Wegegabelung folgte dabei auf die andere. So kannte niemand die Richtung, die sie genommen hatten. Tagsüber waren sie unterwegs, nachts ruhten sie, nirgendwo verweilten sie auch nur einen Tag. Erst kurz vor der Entbindung mieteten sie ein Haus, so führte keine Spur zu ihrem Aufenthaltsort. Alles war bis ins kleinste geplant. Die Tochter war nach ihrer Rückkehr von ihren Eltern verstossen worden, so zog sie zusammen mit der Frau das vaterlose Kind auf. Sie heiratete nie mehr.” Sie hätte eine Auszeichnung als treue Witwe verdient gehabt, hätte sie sich nicht zu Anfang verbotener Liebe hingegeben. So sei hier auch der Name der Familie nicht genannt.
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