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14 Pinselnotizen - 1

Werkstatt/Reihen > Reihen > 14 Pinselnotizen
Foto: Rotraud Weiss
14 Pinselnotizen
aus dem Yue wei caotang biji
("aus der Strohhütte der Betrachtung des Unscheinbaren”)

des Ji Yun (Ji Xiaolan, 1724-1805).
Übersetzung: Rupprecht Mayer

1)

Ein Student war einem Lustknaben verfallen. Sie liebten sich wie Mann und Frau. Als der Knabe erkrankte und dem Tod nahe war, äusserte sich seine verzweifelte Anhänglichkeit auf tausendfältige Weise, und noch nach seinem letzten Atemzug umklammerte er das Handgelenk des Studenten so fest, dass dieser sich nur mit Gewalt von ihm losreissen konnte. Von da an sah er ihn in seinen Träumen, sah ihn im Licht des Mondes und der Lampe, und mit der Zeit sah er ihn sogar am helllichten Tag. Er war immer sieben oder acht Fuß von ihm entfernt, doch sagte er nichts, wenn er ihn ansprach, kam nicht näher, wenn er ihn rief, und wich zurück, wenn er auf ihn zuging. Seine Verstörtheit entwickelte sich zu einer Krankheit des Gemüts, die weder durch die Einnahme von Beschwörungszetteln noch durch Exorzismus zu heilen war.
    Sein Vater ließ ihn für eine gewisse Zeit Aufenthalt in einem Kloster nehmen, in der Hoffnung, dass Totengeister Buddhas Erde nicht zu betreten wagten. Doch er sah ihn nach wie vor, auch dort. Ein alter Mönch meinte: “Alle Dämonen entstehen im Herzen. Wenn es wirklich jener Knabe ist, dann wurde er vom Herzen herbeigerufen. Wenn es nicht jener Knabe ist, dann ist es ein Trugbild des Herzens. Mache nur dein Herz leer, dann wird sich alles verflüchtigen.” Ein anderer alter Mönch meinte: “Ihr predigt einem Menschen von niederem Rang eine Methode von hohem Rang. Er hat nicht die Kraft, zur Ruhe zu kommen, wie soll er da sein Herz leer machen? Das ist, wie wenn man nur über eine Krankheit redet, aber keine Medizin verschreibt.“
    Dann sprach er zu dem Studenten: “Die üblen Gedanken sind miteinander verwoben, sie gleichen Gräsern, aus denen Wurzeln sprießen. Wenn ein Gegenstand in einer Vertiefung sitzt, dann muss man ihn mit einem Keil entfernen: wenn der Keil die Vertiefung ausfüllt, dann kommt der Gegenstand von selbst heraus.
    Stelle dir vor, wie der Körper jenes Knaben nach seinem Tod mit der Zeit steif und kalt wird, wie er sich mit der Zeit aufbläht und zu stinken beginnt, wie er dann verfault und sich die Leichenmaden in ihm ringeln, und wie in der Folge seine Gedärme und Eingeweide platzen. Sein Fleisch schillert in allen Farben, sein Gesicht verändert sich mehr und mehr, es wechselt seine Farbe und sieht immer mehr einer Dämonenfratze ähnlich. So wird Furcht in dir entstehen.
    Dann stelle dir vor, dass dieser Knabe, wenn er noch am Leben wäre, mit jedem Tag zu einem stattlichen Mann heranwachsen würde. Aller Liebreiz würde ihn verlassen, Haare würden ihm im Gesicht wachsen und bald einen stacheligen Bart bilden, sein Gesicht würde dunkler, dann kämen graue Strähnen in sein Haar, schließlich würde sein Schläfenhaar weiß wie Schnee, er würde glatzköpfig und zahnlos. Mit der Zeit würde er bucklig und immerfort hustend daherkommen, Nasenschleim, Tränen und Speichel rännen beständig, und er würde so abstoßend schmutzig, dass man ihm nicht mehr nahe kommen kann. So wird Ekel in dir entstehen.
    Dann stelle dir vor: Der Knabe ist vor mir gestorben, also sehne ich mich natürlich nach ihm. Doch wenn ich selbst zuerst gestorben wäre, dann würde ihn ob seines reizenden Äusseren bestimmt ein anderer verführen wollen, würde ihn mit Vorteilen locken und mit seiner Macht einschüchtern, und jener Knabe würde nicht unbedingt keusch bleiben wie eine Witwe. Und wenn er eines Tages dazu gebracht wird, das Bett mit dem anderen zu teilen, dann wird er all die intimen Worte und Gesten, die zu meinen Lebzeiten mir galten, jenem zukommen lassen, um seine Lust zu mehren. Die innige Liebe früherer Tage wird sich zerstreuen wie dahintreibende Wolken, und nicht das Geringste wird davon zurückbleiben. So wird Wut in dir entstehen.
    Dann stelle dir vor: Wäre dieser Knabe noch am Leben, dann würde er, gestützt auf meine Vorliebe für ihn, immer anmaßender, und wenn mir das zu viel würde, dann würde er widerspenstig und würde mich beschimpfen. Wenn mir vielleicht die Mittel knapp würden und ich seine Ansprüche nicht mehr befriedigen könnte, dann würden Gedanken der Untreue in ihm aufkommen, und er würde die grösste Gleichgültigkeit und Kälte gegenüber mir an den Tag legen. Oder dass er, nachdem er einen reichen und hochgestellten Mann kennengelernt hat, mich verlässt und zu dem anderen geht, und mich dann, wenn er mich trifft, wie einen Fremden behandelt. So wird Hass in dir entstehen.
    Wenn diese Empfindungen und Gedanken in deinem Herzen immer wieder aufsteigen und vergehen, dann wird dein Herz nicht müßig sein. Wenn dein Herz nicht müßig ist, dann hat es keinen Platz für die Wurzeln von Liebe und Begierde, und alle Dämonen werden von selbst
verschwinden, ohne dass man sie zu vertreiben braucht.”
    Der Student tat wie ihm geheißen. Nach wenigen Tagen hatte er die Erscheinungen nur noch von Zeit zu Zeit, und noch ein paar Tage später waren sie ganz verschwunden. Als er sich von seiner Krankheit erholt hatte und das Kloster wieder besuchte, da war dort von den beiden Mönchen keine Spur zu finden. Manche meinten, es habe sich um eine Erscheinung von Buddhas aus alter Zeit gehandelt, andere hielten dafür, solche Mönche hielten sich überall und nirgends auf und zögen hin und her wie die Wolken, eine Begegnung mit ihnen gliche der zwischen Wasserlinsen. Längst seien sie anderswohin gewandert.
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