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1. Münchner Poesie=Marathon

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1. Münchner Poesie=Marathon
Dominik Dombrowski und Bertram Reinecke


Am 29.06.2013 kamen im Einstein Kultur, Halle 1, um 19 Uhr die Lyriker Dominik Dombrowski aus Bonn und Bertram Reinecke aus Leipzig zu einer langen Sitzung zusammen - zum 1. Münchner Poesie=Marathon. In vier Blöcken, in denen jeder jeweils ca. 20 Minuten vortrug, beeindruckten beide das Publikum durch die Vielschichtigkeit ihres Schaffens.



Dominik Dombrowski
, der seiner Lesung das Motto: „Diese Seele ist ein Hund, der an einem alten Knochen nagt ...“ gab, begann mit einer Einführung in die amerikanische Lyrik, speziell der Beatgeneration, speziell Raymond Carvers, den er privat übersetzt und dessen Gedichte er in seinen Übertragungen dem Publikum vorstellte, wobei auch Carver die hermetisch-traditionelle Hundemetapher liebt und Dombrowski das düstere Lebensgefühl Carvers - wie sich herausstellte - seit Jugendzeiten für eigene Arbeiten zum Leitbild hatte. Im zweiten Block las Dombrowski aus seinem derzeitgen Gedichtband „Finissage“, im dritten unveröffentlichte Gedichte, die für den Folgeband „Fremd-bestäubung“ angedacht und zum Teil noch in Korrektur befindlich sind. Ist „Finissage“ in einer novembrigen Stimmung geschrieben, die dem Tod etwas an Naturschönem, wenn auch Reduzierend-Pathetischem übrig lässt, so dürfte „Fremdbestäubung“ die Angst vor dem Schrumpfen und Vergessen in eine abstrakt-sakrale Form transzendieren. Dombrowski verglich die „Finissage“ mit dem Karfreitag, derweil die „Fremdbestäubung“ dann eher dem Ostersonntag gleichen soll. Schließlich zeigte Dombrowski, dass er auch gute poesievolle Prosa schreiben kann, mit seiner Erzählung: „Hier ist die Reise zuende“.


Bertram Reinecke, zunächst Einblick gebend in eigene Übersetzungen und eigene Umdichtungen und die anderer heutiger Poeten bei gleicher Vorlage, etwa einem Vokalschema Hölderlins, zeigte, wie bravourös er mit traditionellem Versmaterial umzugehen versteht. Zudem führte er via Beamer seine umfangreiche Materialsammlung von ganzen Versen und Versendungen vor, die ihm IT-Experten für seine sprachteppichartigen Analysen aufbereitet haben, so dass er bei seinen Centos, Umdichtungen, poetologischen Experimenten und Gedichten stets aus dem Vollen schöpfen kann. Im zweiten Block las Reinecke aus seinem aktuellen Gedichtband „Sleutel voor de hoogduitsche Spraakkunst“, im dritten nicht in die „Sprachkunst“ aufgenommenes, aber dorthin gehörendes und neues Material. Außerdem, auf Enzensberger („Die Aporien der Avantgarde“, 1962) eingehend, entgegnete er dessen Kritik an der heutigen Avantgarde mit eigenen ebenso scharfen Argumenten. Reinecke verwies dabei auf die argumentativen Finten, die Enzensbergers Essay zugrunde liegen und wunderte sich, dass gewisse kritische Thesen gegen die Avantgarde heute noch in der Öffentlichkeit unreflektiert Geltung beanspruchten. Das Konzept Avantgarde müsse neu erschlossen werden, ohne die alten Begriffsbestimmungen einfach zu akzeptieren.

Offroad


Manchmal kommen Leute dann erzählst du vom falschen
                                                          / Venedig in Las Vegas
da gab es Frauen die starrten gescheit mit nassen
                                                         gescheitelten Frisuren
in die Spiegel der Friseure die Friseure drückten schimpfend
                                                         ihre Scheren
in die Kerzen und die deine / Verlobte war stahl sich durch
                                                        die Hintertüre davon
und du und einer dieser schlechtbezahlten Elvisse
in einem Overall voller Steine / faltetet ihren Brautschleier
um die Schraubverschlüsse der Whiskyflaschen betrankt
                                                        euch
an einem ausgeschalteten Hotelbrunnen bis in den
                                                        Morgen


Manchmal kommen Leute dann erzählst du von den schönen
                                                       / Nächten hinter den Tankstellen
wenn du deinen Rausch hattest dort ließ sich / eine heilige
                                                       Stille nieder
und ein Schicksal erwarten / ob sich im Morgengrauen
                                                       etwa Portale öffnen würden
direkt in eine indische Totenstadt hinein / wo nun diese
                                                       schlafende nackte Touristin
aus Goa wohnen würde die du beobachtet hattest als ein
                                                      Affe
von der Palme lief und ihr Buch zerriß und zurück auf der
                                                      Palme
die Seiten versonnen auf sie herabregnen ließ


Manchmal kommen Leute dann zeigst du aus dem
                                                     Fenster / in die kobaltblauen
Mittage / wie durch sie manchmal das Lachen dicker
müder Studentinnen knallt / sie riechen nach Butterbrot
                                                     und reiben ihren
freigelegten Bauch diese Seele / denkst du ist ein Hund
der an einem alten Knochen nagt und beim Anblick der
                                                    scherzenden
Schmerzschwestern in ihrer Raucherpause lächelst du in
                                                    der Parade
kommen die Clowns / immer verläßlich kurz vor / den
                                                   Totengräbern

© Dominik Dombrowski: Finissage – Gedichte. Parasitenpresse
Köln 2013.

Ortsnamen, Namen überhaupt

für Thekla


Über die Vakanzen
Nemerow Rowa Zachow Cammin...über dem Ort
tickt die Uhr, reibt das Wochenwerk
ruhend im geschleiften Turmein
Anker, Vineta nämlich
unterm Roggenwasser Wiesenbrück da
...nimmst Du -bei heckender Sonneden
Feldweg nach Godenswege
schmecke der Staub sarmatisch...

eine Last zu leben
in der restlos bekannten Welt
der Erdkreis geschlagen
zwischen Stargard und Strelitz
dahinter verliert sichs im Grauen
die Elefantenrücken! und Ameisen Ameisen
oder am Dorfrand der unbetretne Weg...
Diese Züge tragen die Nächte.

Jahre später
die kaum gewandelten Züge
tragen Dich als erleuchtete Straßenbahnen
entlegenen Vierteln
-Potsdams Breslaus Dresdens-
Mädchen zu

und heute
„...hier wurde im Jahre...
die Bauernkantate“ und das Gefecht bei Zschocher
In der Baederkervilla ist die Herberge
geschlossen, unvorstellbar Dein Gesicht
entziffert...

Vor allem viel Geblüh
Viel Phlox, Viel Malve
Viel Mädesüß

Und wir?
schraubten unsere Gespräche
im intermittierenden Rhythmus teils tastender Schritte
den Feldweg hangan

Unsere Gespräche
ausgebracht über die Äcker
sind weggemäht von den Dreschern

Aber
von unseren streitbaren Händen
hängt was
als grüßten die angewinkelten Arme noch immer
den nimmer ermüdeten Windrädern zu





Im vierten Block wechselten sich die beiden Poeten mit je einem Gedicht ab, derweil das Publikum um weitere Zugaben bat, bis beide, sichtlich erschöpft vom Marathon, zum Ausklang im Stehen noch je ein Gedicht aus ihrem Gedächtnis vortrugen.

KK



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