(Wilfried Ihrig, Ulrich Janetzki:) Die Morgendämmerung der Worte
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Timo Brandt
Eine große, wichtige,
gelungene Sammlung von Gedichten und Liedern der Roma & Sinti
„Mit den Kleidern, dem Regenbogen geklaut,und mit der Erde verschmelzen sie.Wäre da nicht der Klang der Musik,könntest du denken:da gehen Blumen.“(Georgi Parushev, übers. Thomas Frahm)
Die Herkunft der als Sinti & Romana bezeichneten
Bevölkerungsgruppen liegt, so legen die meisten Forschungen und ihre eigenen
Mythen nah, in den Gebieten des nördlichen Indien, von wo sie im Zuge der
Völkerwanderung zunächst nach Persien und schließlich nach Europa gelangten.
Heute sind die Sinti & Roma eine der größten ethnischen Minderheiten in
Europa, Schätzungen zufolge leben (je nach Einordnung) 8-12 Millionen von ihnen
in europäischen Ländern, vor allem in Mittel- und Osteuropa.
Die Sprache der Roma, das Romanes, wird allerdings nur noch
von etwa 3 Millionen Menschen in Europa gesprochen. In vielen Ländern werden
die Roma & Sinti (vor allem die, die sich immer noch vielen Traditionen der
Roma verbunden fühlen und sie praktizieren) nach wie vor wegen ihrer Herkunft
und ihres sozialen Status (also doppelt) marginalisiert (und in manchen Fällen
vertrieben oder gar verfolgt); lange mussten sie dafür kämpfen, dass ihre
Ermordung in den vom nationalsozialistischen Deutschland betriebenen
Konzentrations- und Vernichtungslagern in der Öffentlichkeit thematisiert und
den Opfern entsprechendes Gedenken zuteilwurde. Man geht heute davon aus, dass
etwa 600.000 Roma & Sinti in den Jahren des Dritten Reiches ermordet wurden;
dieser Genozid wird mit dem Wort „Porajmos“ (deutsch etwa: „Das Verschlingen“)
bezeichnet.
„Dort wo die Zeit nicht heilen kannstirbt ein ParadiesEin Menschenleben lang reicht nicht ausDie Erde dreht sich mit all dem vergossenen BlutSie dreht sich weiterSag mir warum sie das tut(Marianne Rosenberg)
Vor dem 2. Weltkrieg und dem „Proajmos“ war die
Erinnerungskultur der Roma & Sinti (laut dem Vorwort und Nachwort dieser
Anthologie) in großen Teilen mündlich tradiert. Nach dem Genozid entstanden
einige Bewegungen, die kulturelles Erbe schriftlich fixieren wollten, bevor es
durch den Bruch und die daraus resultierende geringe Weitergabe verloren gehen
würde.
Die in der Reihe „Die Andere Bibliothek“ erschienene
Anthologie „Die Morgendämmerung der Worte“ ist keine Sammlung von Lyrik- und
Liedgut der Roman & Sinti aus den vergangenen Jahrhunderten, sondern
konzentriert sich auf die Texte der Generationen von Roma &
Sinti-Autor*innen, die seit dem Genozid verfasst wurden und in denen sowohl die
Lage der Roma & Sinti heute, als auch die Mythen und das Erbe und nicht
zuletzt die Opferrolle im Dritten Reich und zu anderen Zeiten thematisiert
werden.
„Meine Wälder, wo seid ihr geblieben?Ich sehe euch nicht in der Stadt,nur hohe Gebäude aus Steinenerblickt mein Aug‘ jeden Tag.“(Stanisław Stahiro Stankiewicz, übers. Melitta Depner)
Zusammengetragen wurden dafür Gedichte und Lieder von über hundert Autor*innen, die aus 20 Sprachen übersetzt wurden (und aus ebenso vielen Ländern kommen), darunter Romanes, Serbisch, der jenischen Sprache, Englisch, Rumänisch, Französisch, Italienisch, Albanisch, Spanisch, Schwedisch u.a.
Den beiden Herausgebern Wilfried Ihrig und Ulrich Janetzki (sowie den zahlreichen Übersetzer*innen) kann man nur danken, dass sie sich dieser Mammutaufgabe angenommen haben.
Natürlich kann man bei einer solch umfangreichen, heterogenen Anthologie nur kleinere Einblicke geben und keine allgemeinen Aussagen zu den Texten treffen. Von verspielter, poetischer Kurzprosa mit Sätzen wie:
„heute nachmittag hat mir ein kleiner Regenschauer seine Jugend angeboten“(Jean-Marie Kerwich, übers. Wilfried Ihrig)
über Protestlieder und Hymnen, große Gesänge und banal erscheinende Alltagsschilderungen, bis zu heftigen Auseinandersetzungen über Verfolgung und Ermordung, Heimatlosigkeit und Stigmatisierung, ist alles enthalten.
Formal kristallisiert sich mit der Zeit eine Vorliebe für Anrufungen heraus, und gleichnishafte Naturbilder spielen auch eine größere Rolle. Inhaltlich dominieren Gefühle wie Sehnsucht, Trauer und Schrecken – sehr oft wird in den Gedichten der Wunsch nach Selbstbestimmung, nach positiven Bezügen sichtbar; nach einer Identität, die sich ihrer Wurzeln ebenso wenig schämen muss wie ihrer eigenen Auslegung dieser Wurzeln. Oft scheint es, als ob die Gedichte Wege suchen – Wege für sich, aber auch Wege für etwas Größeres, Gemeinsames.
„Du selbst bist nicht mehrals ein lange hier lebendes Bündel,das sich nicht öffnenundnicht entfalten darf.“(Ilija Jovanović, übers. Mozes F. Heinschink)
All diese Texte sind berührend, manche eher als Dokumente und Wortmeldungen, denn als lyrische Werke. Manche entführen in eine Bilderwelt, manche scheinen hauptsächlich etwas klarstellen zu wollen. In manchen wird ein ganzer Kosmos ausgebreitet, in anderen nur ein kleiner Aspekt angesprochen.
„Nomaden verbotenWarum nicht gleichden Mond verbieten“(Sandra Jayat, übers. Christian Filips und Aurélie Maurin)
Aber wie man es auch dreht und wendet: Im Zentrum dieser Anthologie steht das Leid. Wahrscheinlich kann es nicht anders sein, bei all dem, was die Bevölkerungsgruppen der Roma & Sinti schon erdulden mussten, gerade wenn man ihre jüngste Vergangenheit bedenkt. Immer wieder strahlt ein Text urtümliche Lebendigkeit, Vitalität und Schönheit aus, aber die Trauer überwiegt, die Trauer und das Schmerzliche.
„Die Morgendämmerung der Worte“ ist, ohne Frage, ein großartiges Projekt, das Bewusstsein schafft und gleichzeitig eine große Menge an Dichtkunst mit den unterschiedlichsten Motiven vor unterschiedlichsten Hintergründen versammelt. Ich kann sie nur wärmstens empfehlen.
„Aus Sehnsuchtslabyrinthenfliehen deine Augen ans Lichtwollen ihren eigenen Landweg,ehe das Nebelhorn tönt.“(Mariella Mehr)
(Wilfried Ihrig, Ulrich Janetzki:) Die Morgendämmerung der Worte: Moderner Poesie-Atlas der Roma und Sinti. Berlin (Die Andere Bibliothek, Band 403) 2018. 350 Seiten. 42,00 Euro.