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(Tamer Dyziol:) Araf un:::sichtbar

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Stefan Hölscher

(Tamer Düzyol:) Araf un:::sichtbar. Gedichte. Münster (edition assemblage) 2021. 80 Seiten. 12,80 Euro.

Muslimisch, queer, sichtbar


Dass zumindest radikale Formen des Islam für Menschen mit abweichender Sexualität lebensgefährlich sind, wird uns angesichts der gerade omnipräsenten Berichterstattung über die Machtübernahme der Taliban in Afghanistan wieder unübersehbar vor Augen geführt. So stellte schon im Juli der Taliban-Richter Gul Rahim gegenüber einem „Bild“-Reporter klar: "Für Schwule gibt es nur zwei Strafen: Entweder Steinigung oder er muss hinter einer Mauer stehen, die auf ihn fällt. Die Mauer muss 2,5 Meter bis drei Meter hoch sein."* Doch nicht nur bei den mitunter etwas steinzeitlich anmutenden Taliban, sondern auch in hoch entwickelten muslimischen Ländern wie dem Iran oder Saudi-Arabien steht auf Homosexualität die Todesstrafe, zu deren Vollzug es in diesen Ländern auch immer wieder kommt. Und selbst in deutlich gemäßigteren islamischen Kulturen sind lesbische, schwule, bisexuelle, transgender und andere vom Cis-Gender-Heteronormativen abweichende Menschen immer wieder von Ausgrenzung, Gewalt und Strafe bedroht.

Islam und gezeigte Abweichung der sexuellen Identität oder Orientierung scheinen kaum zusammenzupassen. Gleichzeitig ist eine grundsätzliche Ablehnung oder gar Verdammung solcher Abweichungen im Koran keinesfalls explizit ausgesprochen. Ganz im Gegenteil, wie der Islamwissen-schaftler Andreas Ismail Mohr in einem Kommentar für den NDR 2019 feststellt:  

"Wie sieht es mit Liebe und Partnerschaft im Koran aus? In der Sure 30, ar-Rûm, Vers 21 heißt es, dass Gott für die Menschen Partner oder Gatten geschaffen hat, bei denen sie Ruhe, Liebe und Barmherzigkeit finden. Der Koranvers ist so formuliert, dass - bei genauer Betrachtung der Grammatik - alle Personen männlich oder weiblich sein können. Das hier verwendete arabische Wort für "Partner" kann also Männer oder Frauen bezeichnen, es muss nicht notwendigerweise "Ehegattinnen" bedeuten, wie die deutschen Koran-übersetzer üblicherweise schreiben. LGBTIQ-Muslime dürfen hierin eine grundsätzliche Anerkennung ihrer Liebe und Partnerschaft erkennen.**

Auch kann man historisch sehen, dass über viele Jahrhunderte in islamischen Kulturen gleichgeschlechtliches Verlangen und Verhalten faktisch Teil des akzeptierten gesellschaftlichen Lebens war, auch wenn es dort nicht in Form einer Identitätszuschreibung („Homosexualität“ / „Homosexuelle/r“) etikettiert wurde. Trotz dieser toleranten und der Liebe in unterschiedlichen Formen gegenüber aufgeschlossenen Lesarten und Traditionslinien des Islam haben es junge LGBTIQA+Muslime und Muslimas in zahllosen Fällen allerdings besonders schwer, zu ihrer abweichenden sexuellen Identität oder Orientierung stehen zu können – selbst in einem so liberalen Land wie Deutschland. Der Schatten der Ablehnung und des Nicht-dazu-Gehörens legt sich fast wie von selbst über ihre Selbstbehauptungsimpulse.

Daher, so kann man sagen, zeugt es auch heute, im Jahr 2021 immer noch von mutiger Konsequenz, wenn lesbische, schwule, nicht-binäre und transgender Angehörige des muslimischen Glaubens sich mit lyrischen und Prosa-Texten zu ihren Formen von Liebe, Begehren, Trauer und Lust sehr persönlich äußern. Und genau dies geschieht in dem jüngst in der edition assemblage erschienenen und von Tamer Düzyol herausgegebenen Bändchen „Araf. UN:::SICHTBAR, in dem 15 queere muslimische Autor*innen aus der Unsichtbarkeit deutlich heraustreten.

Das mit Illustrationen von Esma Glowingfalafel liebevoll gestaltete Büchlein enthält auf knapp 70 Seiten außer einem Prosatext des Herausgebers ausschließlich lyrische Texte. Lese ich diese Texte nicht mit den gestrengen Augen des Literaturkritikers, denen sie dann nur sehr bedingt standhalten würden, sondern als kreativen, autobiographisch orientierten sprachlichen Ausdruck und Anspruch des queeren Selbstseins der in dem Band versammelten Autor*innen, dann erlebe ich in diesen Texten ein hohes Maß an reflexiver Selbstbestimmtheit, lustvoller Sinnlichkeit und realitätsbezogener Klarheit. Vor allem aber eine unverstellt sichtbare Auseinandersetzung mit dem eigenen Anderssein:

Anders sein.
aber nicht ich sein?
Männlich.
aber nicht Mann sein?
Schwul.
aber nicht normal sein?
Migrant.
aber nicht Deutsch sein?
Muslim.
aber nicht für euch passend sein?      
(Nedim Suljović: „Wer bin ich?“)

Und auch eine klare Selbstbehauptung dieses Anderseins im Rahmen des Islam:

Ich bin, wie Allah mich machte.
Das heißt ich bin geboren und geworden, wie ich sollte.
(Siham Karimi: „und so bin ich“)

Dass der Ernst solcher Reflexionen das Schmunzeln über Phänomene queerer Lebenswelt nicht ausschließt, zeigen die mehr oder weniger fiktiven Protokolle der „Dialoge“ in einer queeren Datingapp:

Sonntag 27.09.20
Hi
wie geht’s
12:33
gut dir
12:36
auch, danke. was suchst
12:40
mal sehen, du
12:42
sex
12:43
ok
12:56
woher kommst du?
13:00
was
13:01
ich steh auf südländer.
sehr geil
13:03
was
13:06
was
13:08
piç
13:12
*dickpic*
13:13
wenn ich piç schreibe
will ich kein bild du hund
Empfangen 13:15
(ufuk doğan: „TAP – auszüge“)

Sicher kann man sich auf einer queeren ebenso wie auf einer nicht-queeren Datingplattform, egal welchem Glauben man angehört oder nicht angehört, nicht selten mal unschön angemacht und dann ziemlich allein fühlen. Auf der Widmungsseite des Buches heißt es demgegenüber: „Für DICH. DU bist nicht alleine!“ Zwar lässt der Herausgeber die Lesenden mit den Texten des Bandes ein wenig allein, indem es dort keinen erläuternden Beitrag zum Spannungsfeld Islam – Queerness – Poesie davon gibt, was für viele Lesende sicher mehr als hilfreich gewesen wäre; wichtiger jedoch ist, dass „Araf“ zum Ausdruck bringt, dass queere muslimische Menschen mit ihrer Queerness stark sichtbar werden können. Und dass sie definitiv nicht alleine sind.  


* https://www.queer.de/detail.php?article_id=39737.
** https://www.ndr.de/kultur/sendungen/freitagsforum/Muslime-der-Islam-und-die-Homosexualitaet,freitagsforum772.html
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