(Rinaldo Hopf, Fedya Ili:) Mein schwules Auge / My Gay Eye
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Stefan Hölscher
(Rinaldo Hopf, Fedya
Ili:) Mein schwules Auge / My Gay Eye 2019. Berlin gay Metropolis 1989 – 2019. Deutsch
/ englisch. Tübingen (konkursbuch Verlag) 2019. 416 Seiten. 19,90 Euro.
Berlin, schwuler Sehnsuchtsort
Passend zum 30.
Jahrestag des Mauerfalls bringt der Ende Oktober erschienene, von Rinaldo Hopf
und Fedya Ili herausgegebene Band 16 von Mein
schwules Auge/My Gay Eye ein Kaleidoskop aus unterschiedlichsten Bildern
und Texten zum schwulen Berlin der letzten 30 Jahre. So wie bereits der 2018
herausgekommene Band 14/15, der Tom of Finland gewidmet war, hat auch die
aktuelle Ausgabe, die abermals fast durchgängig deutsch und englisch ist,
anders als die Bände 1-13, wieder einen klaren Themenfokus. Und das tut, wie
ich finde, diesem Buchprojekt, was sich ohnehin schon durch eine große Heterogenität
von Bild- und Textsorten auszeichnet, inhaltlich gut.
Zwar ist der Bezug der
einzelnen Beiträge zum Thema Berlin Gay
Metropolis, wie es auf dem Cover heißt, unterschiedlich eng, insgesamt
bildet das Berlinthema aber ein deutlich spürbares Gravitationszentrum für die
Fülle der Bilder und Texte des Bandes. Und der im Tübinger Konkursbuch Verlag
erschienene Band mit seinen über 400 Seiten bietet tatsächlich nicht nur eine
große Vielfalt, sondern auch eine große Fülle von Beiträgen, und das in, wie
ich finde, für einen Verkaufspreis von knapp € 20,00 sehr überzeugender
Druckqualität, was insbesondere bei den vielen Bildern wichtig ist.
Wie der Titel schon
nahelegt, ist Mein schwules Auge nicht
unbedingt ein Buch für Heteros. Dazu kreisen Texte und Bilder denn doch zu sehr
um männliche Körper, männliche Geschlechtsorgane und Mann-zu-Mann (oder auch mmm…)
Sexaktivitäten. Die Bände der Reihe bewegen sich dabei von jeher schon auf
einem recht schmalen Grat zwischen Kunst und Pornographie. An diesem Grat
scheiden sich denn auch die Beiträge dieses Bandes, von denen ich nicht alle
als Kunst bezeichnen würde, was aber vielleicht auch nicht nötig ist, da das schwule Auge, insbesondere wenn man noch
die unterschiedlichen Geschmäcker der verschiedenen Augen-inhaber
berücksichtigt, ja auch durch recht unterschiedliche Reize enerviert werden
kann.
Auf jeden Fall habe ich
in dem Band nicht wenige Beiträge entdeckt, die ich einerseits als kunstvoll
und andererseits als erotisch spannungsvoll betrachten würde. Und das in Bezug
auf die verschiedenen Gattungen, die der Band vereint. So gibt es beispielsweise
atmosphärisch starke Bilder zur Mauer
von Andreas Fux, einige der immer noch frischen und frechen Bilder aus Berlin Naked von Henning von Berg,
zwischen Eros und Thanatos so exzentrisch wie eindringlich changierende Fotos von
Jürgen Baldiga oder, was in diesem Genre gar nicht so leicht ist,
perspektivisch und räumlich ungewöhnlich interessant inszenierte Penisfotos von
Florian Hetz. Es gibt Abbildungen wirklich spannender Gemälde, zum Beispiel von
Rainer Fetting, aber auch von Norbert Bisky. Und es gibt gut gemachte Texte,
zum Beispiel von Michael Sollorz Sozialismus
mit Männer-Tanz, eine in Briefform geschriebene Erzählung über die
Einrichtung eines DDR Raums in einem mit Nachlassgeldern aufzubauenden schwulen
Museum in der deutschen Provinz und die dabei stattfindende auf beiden Seiten
Befremden weckende, schwierige und zuletzt doch auch erotische Begegnung eines
Ost- und eines Westmannes. Es gibt erotisch-sprtizig geschriebene Geschichten,
wie Russen-Freunde von Sam Balducci,
und auch gute Gedichte, wie zum Beispiel Raubzüge
von Mario Wirz:
Ich plündere schamlosdie Gesichter der Verliebtenin der U-Bahnund raube mir ihr Lächeln.Auch der zärtliche Blick des Jungenam Tresen für seinen Freundlandet bei mir.Der leichte Schritt der Glücklichenverzögert meinen Fall,und es geht weiter, auch diesen Tag.Ich stehle mich davonmit den furchtlosen Stimmen der Straßeund bändige mit ihnen die Stille.Selbst die Hoffnungen meiner Freundesind nicht sicher vor mir.Ihr Träume bringe ich in meinen Besitzund ahme ihre Gesten nach,wenn sie von der Zukunft sprechen.
Mit seinen immer wieder
auch historisch spannenden Bezügen fördert der Band unvermeidlich auch
Erinnerungen, Gedanken und Phantasien des Lesenden zu seiner eigenen,
vermutlich nicht rein heterosexuellen Biographie zu Tage. Diese Szenerie wird
schon gleich durch den einleitenden Essay Sehnsuchtsort
Berlin von Jochen Hick eröffnet und findet vielfache Fortsetzungen, zum
Beispiel in dem Interview mit Matthias Freihof, dem Hauptdarsteller des ersten
und einzigen DDR Films mit zentral
homosexueller Thematik, der am 09.11.1989, also genau am Tag des Mauerfalls,
Premiere feierte und trotz des Endes der DDR ein schwuler Kultfilm auch im
Westen wurde. Neben den größeren historischen, cineastischen und anderen
Ereignissen nehmen die Beiträge dabei auch immer wieder Bezug auf eher
alltägliche, gleichwohl typische Berlinphänomene, mit denen es der schwule Mann
(und nicht nur er) in der Stadt zu tun bekommt:
Johnny Alexandre AbbateWhen you ask your Gindr datein Berlin: „Ok… dude…what’s the adress?“ …„I live in blablastrasse 12. Whenyou get in, go straight to the back-yard through the fronthouse, thenturn left, there‘s a small door,don’t get in, keep on walking,there’s another small door: don’tget in. Keep on walking, The thirddoor, get in, go through the second,the third and the fourth backyard …
Der Weg durch den
Sonderband von Mein schwules Auge ist
sicher leichter zu nehmen als der durch manche Berliner Innenhoflabyrinthe –
egal wo man gerade hinwill. Man kann eine gerade Route, von Seite zu Seite,
durch dieses Buch nehmen oder ganz nach Lust und Laune stöbern: Irgendwo
beginnen, dort ein wenig schauen, lesen, nachsinnen, verweilen und dann
irgendwo anders, wo es einen gerade hinzieht, im Buch weitergehen. Wer ein
schwules Auge hat, wird jedenfalls hier nicht leer ausgehen.