(Michael Krüger, Holger Pils:) Im Grunde wäre ich lieber Gedicht
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Michael Braun
Michael
Krüger/Holger Pils (Hrsg.): Im Grunde wäre ich lieber Gedicht. Drei Jahrzehnte
Poesie. Hanser Verlag/Lyrik Kabinett, München 2019, 424 Seiten, 30,00 Euro
Das
blaue Leuchten der Poesie
„Im Grunde
wäre ich lieber Gedicht“: Eine Anthologie zu Ehren des Lyrik Kabinetts
„Alles
blau in meinem Buche“: Novalis´ bekannte Notiz zum Fortgang des „Heinrich von
Ofterdingen“ darf man mittlerweile zur lyrischen Signatur des Münchner Lyrik
Kabinetts erklären. Das markante Lyrik Kabinett-Blau, in feinsten Nuancen
gestaltet und variiert von Friedrich Pfäfflin, bewundern wir seit Jahren auf
den Umschlägen der „Münchner Reden der Poesie“ wie bei den „Blue Books“, den
elementaren Sonderpublikationen des Hauses. Und dieses prägnante Blau, das
diesmal – mit Oswald Eggers Farbenlehre gesprochen – zwischen „Deltablau“,
„Ewigkeitsblau“ und „Blauhelmwellen Navy“ changiert, illuminiert auch diese
opulente, nach klassischer Buchkunst produzierte Lyrik-Anthologie „Im Grunde
wäre ich lieber Gedicht“. Diesen blauen Leinenband darf man auch als ein Huldigungs-Kompendium
für Ursula Haeusgen lesen, die große Lyrik-Mäzenatin und Lyrik
Kabinett-Gründerin. Denn in der Amalienstraße 83a in Schwabing hat Ursula
Haeusgen einen Ort für das poetische Bewusstsein erschaffen, dem Michael Krüger
im Nachwort völlig zurecht eine Aura zuerkennt: „Wenn München leuchtet, dann
ist das Lyrik Kabinett eine der zentralen Lichtquellen, um die uns übrigens die
ganze Welt beneidet.“
Auch wenn wir den Neid der ganzen Welt statistisch nicht erfassen können, können wir doch in dieses blaue Gedichtbuch hineingehen - und die mittlerweile dreißigjährige Geschichte des Lyrik Kabinetts in poetischen Erkenntnis-blitzen und Schwebstoffen aufleuchten sehen. Die Anthologie ist chronologisch angelegt, verzeichnet am unteren Seitenrand jeweils die Reihenfolge der seit April 1989 im Kabinett generierten Veranstaltungen – und diese aufschlussreiche Chronik ist zugleich das Navigationsgerät zur Erstellung der Auswahl der Autoren und Gedichte. Fast 250 deutsch-sprachige und internationale Dichterinnen und Dichter und ebensoviele Gedichte finden wir in dieser Schatzkammer der Poesie, alle hier abgedruckten Autoren haben Ursula Haeusgens alte Buchhandlung oder später den gläsernen Kubus des Lyrik Kabinetts betreten und dort die Wort- und Bild-Entzündungen der Poesie stimuliert.
Blaue Buchseiten fungieren hier als Zeit-Marker und „Jahresringe“ (Holger Pils), auf ihnen sind prägnante Ausschnitte aus den „Münchner Reden der Poesie“ oder den herrlichen Aneignungs-Exerzitien der Reihe „Zwiesprachen“ festgehalten. Als Herausgeber der Anthologie agieren Michael Krüger, der schon von Beginn an das Unternehmen begleitet und in seiner Zeit als Hanser-Verleger massiv unterstützt hat, und Holger Pils, der seit Januar 2014 als Geschäftsführer das Lyrik Kabinett leitet und etliche Kooperationen (z.B. mit dem Wunderhorn Verlag, wo die Reihe „Zwiesprachen“ erscheint) auf den Weg gebracht hat.
Schon auf
den ersten Seiten hält man inne und gerät ins Grübeln, denn viele der frühen
Kabinett-Gäste zählen zu den schon fast Vergessenen und sind dem kurzen
Gedächtnis von uns Gegenwartsnarren zum Opfer gefallen. Hier finden wir zum
Beispiel Gedichte von Wolfdietrich Schnurre (1920-1989), Diana Kempff
(1945-2005) oder Franz Wurm (1926-2010), die bereits wenige Jahre nach ihrem
Tod aus dem Blickfeld der literarischen Öffentlichkeit verschwunden waren und
die nun in ihrer poetischen Eigenart in diesem lebendigen blauen Atlas der
Gegenwartspoesie wieder an großer Präsenz gewinnen. Der 1926 in Prag geborene Franz
Wurm beispielsweise (der hier irrigerweise als tschechisch-österreichischer
Autor verzeichnet ist, aber schon 1939, als 13jähriger, aus Prag vor den Nazis
nach England fliehen musste und von 1949 an bis zu seinem Tod in der Schweiz
lebte) adoptierte nach 1960 die Sprachempfindlichkeit Paul Celans, mit dem er
einen faszinierenden Briefwechsel führte. Celans Hineinhorchen in die Wörter,
seine skeptische Dekonstruktion jeder sprachlichen Geschlossenheit hat Wurm in
seine eigene Poesie übernommen: „Wo zu viele Wörter sind, gilt keines.“ Gleich
zu Beginn stoßen wir auch auf die ungeheure Wucht und Sprachmacht von Paulus
Böhmers „Kaddish“-Projekt und auf die starken Erzähl-Gesten des Amerikaners
William Carpenter, dessen raue Direktheit Erwin Einzinger in ein prägnantes
Deutsch übertragen hat. Wunderbar auch, dass hier ein weiterer Vergessener, der
luxemburgische Dichter Jean Krier (1949-2013), in dieser Anthologie
wiederaufersteht. Mit seinen fragmentierten Odenstrophen rüttelte er immer an
den Fundamenten unserer Existenz.
Es ist ein
großer Vorzug dieser blauen Anthologie, dass sie nicht nur Klassiker der
internationalen Poesie versammelt – etwa „Paradoxa und Oxymora“ von John
Ashbery oder das epochale „Dichtung und Religion“-Poem des großen Australiers
Les Murray - , sondern dass sie auch Vergessenen wieder ein Existenzrecht
einräumt auf dem Territorium der modernen Poesie. Hinzu kommen als besondere
Präsente sechzig bislang unveröffentlichte Gedichte, die als Reminiszenzen an
Ursula Haeusgen den Herausgebern überlassen wurden. Und hier findet man sehr
schöne Stücke, etwa Uljana Wolfs „fellstudie für Emmy Hennings“ oder Ulf
Stolterfohts Exempel aus seinem entstehenden „Krähe“-Manuskript. Letzteres Gedicht
zeichnet unter Einsatz enormer Komik ein Bildnis des Dichters als junger Mann
und als schüchterner Kabinett-Besucher. Das darf man nun wörtlich nehmen oder
eben als kokettes Spiel lesen: „…bei seinem ersten auftritt im lyrik kabinett
war der junge krähe schreck-/ lich abgebrannt. Nur noch zehn d-mark im sack. da
er nicht wusste, ob das abend-/ essen übernommen wird, beantwortete er sich die
bange frage: pizza oder drei / große bier – klar und deutlich mit: bier! doch
dann kam ganz überraschend der / hunger.“ Hunger auf Poesie? Hier gilt Ingeborg
Bachmanns berühmtes Diktum aus ihren Frankfurter Vorlesungen, das sich auch auf
Anthologien übertragen lässt: Die Poesie „müsste (wie Brot) zwischen den Zähnen
knirschen und den Hunger wiedererwecken, ehe sie ihn stillt.“ Und dies
geschieht in diesem blauen Buch.