(Marcel Reich-Ranicki:) Die hundert besten deutschen Gedichte des Jahrhunderts
Rezensionen/Lesetipp > Rezensionen, Besprechungen
Timo Brandt:
„Wo hast du all die Schönheit hergenommen.“
Ein Streifzug durch 100 deutsche Gedichte des Jahrhunderts
Eine Flut von Publikationen ist dem Ableben Marcel Reich-Ranickis gefolgt. Zahlreiche Briefwechsel und die Biographie von Uwe Wittstock auf der einen, auf der anderen Seite aber Bücher mit Titeln wie „Meine deutsche Literatur seit 1945“, „Meine Geschichte der deutschen Literatur“, „Meine deutschen Klassiker“, „Unser Grass“, „Sieben Wegbereiter“, denen man allen das Wiederkäuen von Reich-Ranickis publizistischem Werk – und letztlich auch das Wiederkäuen des Literaturkanons – schon von weitem ansieht.
Und nun dieser Band „Die hundert besten deutschen Gedichte des Jahrhunderts“; hundert aus dem Jahrhundert. Spannend hätte ich es gefunden, wenn im Buch für jedes Jahr des Jahrhunderts ein Gedicht ausgewählt worden wäre, das in diesem Jahr erstmalig erschien. Das wäre Lyrikgeschichte im Zeitraffer; eine Dokumentation, ohne dass großspurig von „den besten“ die Rede hätte sein müssen; Gedichte sollen ja im besten Fall für sich selbst sprechen. Aber Großspurigkeit war ja eins von Reich-Ranickis Markenzeichnen, und insofern sind Titel und Ausrichtung natürlich in seinem Sinne.
2012 ist bereits eine ähnliche Anthologie bei Insel erschienen, mit dem gleichen Coverbild. Titel: „Die besten deutschen Gedichte, ausgewählt von Marcel Reich-Ranicki“. Die Auswahl darin reicht allerdings vom 12. bis ins 21. Jahrhundert und ist umfangreicher; im Abschnitt für das 20. Jahrhundert wurde zwar einiges für diesen Band hier gekürzt, aber nahezu alle Gedichte, die in der neueren Anthologie vorkommen, sind auch in der alten zu finden. Im Programmtext zu der alten Anthologie steht:
„Dieser Band sammelt die für den Literaturkritiker wichtigsten und schönsten Gedichte vom 12. bis zum 21. Jahrhundert.“ Schön und wichtig, wenn auch vielleicht nicht im Superlativ, wären mir als Titeladjektive lieber gewesen und sie hätten der Auswahl auch eher entsprochen, wie man noch sehen wird; die formal und ästhetisch ambitioniertesten Dichter*innen sind hier nicht unbedingt vertreten. Aber wagen wir einen Streifzug.
„Wo hast du all die Schönheit hergenommen,
Du Liebesangesicht, du Wohlgestalt!Um dich ist alle Welt zu kurz gekommen.“
Den Anfang macht – nachdem im Vorsatz „In memoriam Bertolt Brecht“ steht – Ricarda Huch, eine auch als Historikerin bekannte Autorin, die u.a. historische Romane schrieb; eine vielseitige Persönlichkeit und auf jeden Fall eine wichtige Figur, auch in Bezug auf das Thema Autorinnen-schaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Als
Dichterin ist sie wohl zurecht vergessen, wobei die Anfangszeilen dieses einen
Gedichts schon etwas sehr Schönes haben. „Um dich ist alle Welt zu kurz
gekommen.“ – eine emphatisch-rätselhafte Liebeserklärung. Aber hier tut sich
halt schon die Frage auf: als repräsentatives Dokument und als schönes Gedicht
sicher nicht fehl am Platze, in einer größeren Anthologie zum Beispiel – aber zu
den besten 100 gehörend?

Viele
Leser*innen werden jetzt sicher denken/sagen: Timo, da hat der Reich-Ranickis
einfach seine hundert Lieblingsgedichte zusammengepackt und gemeint: die finde
ich am besten, das sind also die besten. Das stimmt vermutlich. Aber ich werde
trotzdem dieses Adjektiv hier einmal ernst nehmen.
„Wir suchen nach den schattenfreien bänkenDort wo uns niemals fremde Stimmen scheuchtenIn träumen unsre arme sich verschränkenWir laben uns am langen milden leuchtenWir fühlen dankbar wie zu leisem brausenVon wipfeln strahlenspuren auf uns tropfenUnd blicken nur und horchen wenn in pausenDie reifen früchte auf den boden klopfen“
Meine
erste Begegnung mit Stefan George war fatalerweise das leidlich-informative
Referat eines Mitschülers in der Unterstufe des Gymnasiums – die zweite, noch
fataler, fand durch die Verulkung eines seiner heroischeren Gedichte durch
Andreas Thalmayr, alias Hans Magnus Enzensberger, in dem Buch „Das
Wasserzeichen der Poesie oder Die Kunst und das Vergnügen, Gedichte zu lesen“
(ein Buch, mit dem man bis heute Spaß an Spielarten gewinnen kann) statt.
Das
Weihevolle bei George bereitet mir bis heute Probleme – und doch ist er einer
von den Dichtern, bei deren Lektüre ich gelernt habe, wie man das ästhetische
Befremden im Angesicht der Wendungen, des Wortschatzes und der Diktion, vorerst
beiseitelassen kann, um die Beschwörung, die Botschaft, die Idee des Textes
wirken zu lassen. Natürlich ist mir klar, dass man derlei nicht wirklich beiseitelassen
kann, wenn es um ein Gedicht oder überhaupt um einen Text geht. Aber ich
glaube, mir wäre die Tiefe der Atmosphäre in manchen George-Gedichten
entgangen, wenn ich mich mit bedenklichen Adjektiven oder abgegriffenen Bildern
aufgehalten hätte. Es finden sich hier tatsächlich zwei, drei starke Gedichte;
bei fünf Gedichten eine gute Quote. Vielleicht hätten 2-3 Gedichte auch
gereicht.
„Ach liebe Engel öffnet mir– Ich aß vom bitteren Brote –Mir lebend schon die Himmelstür –Auch wider dem Verbote.“
Bei Else
Lasker-Schüler ist es natürlich einerseits das bekannte Liebeslied, das nicht
fehlen durfte (dürfte schon, aber das scheint eines der Gedichte zu sein, dem
sich keine Anthologie deutscher Lyrik – deutscher Liebeslyrik, deutscher
Jahrhundertlyrik – erwehren kann) gefolgt von „Mein blaues Klavier“, das mit
dem, zugegebenermaßen wunderbar knapp-zerrissenen, Aufruf an die lieben Engel
endet.
Christian
Morgensterns Wiesel (wieder so ein unabwehrbarer Fall) ist immer noch ein
netter Gag und in einer Anthologie mit dem Titel „Die beliebtesten deutschen
Gedichte des 20. Jahrhunderts (und der deutschen Lyrikanthologien)“ wäre es
unverzichtbar. Aber gerade bei Morgenstern, der eben nicht nur Spaßmacher, sondern
auch ein mystischer Dichter war, dessen Gedichte voller unaufdringlicher
Sehnsucht sind, gäbe es „besseres“, was man anführen könnte, sei es nun das
Möwenlied oder das komisch-kosmische „Vice Versa“ (und dann gäbe es auch noch,
wenn es ums Schöne ginge, einige Gedichte, die nicht aus den Galgenliedern
stammen, sondern aus seinem restlichen lyrischen Werk). Immerhin sind mit den
Gedichten „Ein Lächeln“ und „Das Huhn“ zwei transzendentere Morgenstern-Poeme
vertreten.
„Und Stille gibt es, da die Erde krachte.Kein Wort, das traf;man spricht nur aus dem Schlaf.Und träumt von einer Sonne welche lachte.Es geht vorbei;nachher war’s einerlei.Das Wort entschlief, als jene Welt erwachte.“
Na, mal
Hände hoch, wer hätte Karl Kraus auf dem Schirm gehabt? Ich muss zugeben, ich
habe mir bei meinen ersten Krauslektüren (Gedichte, Aphorismen, Walpurgisnacht)
so manchen Splitter eingezogen, wobei so mancher dieser Splitter auch funkelte,
und obwohl die kurze Auseinandersetzung bereits ergiebig und inspirierend war,
war sie auch und vor allem ermüdend, dann und wann frustrierend. Ständig wird
sich an allem und jedem aufgehängt, mal scharf und geschliffen, mal quengelig.
Das erste von Reich-Ranicki gewählte Gedicht umreißt allerdings einen schönen
Dämmerzustand. Welche Welt ist gemeint und welche Erde? Man spricht aus dem
Schlaf und dann entschläft das Wort, das doch nicht traf?
„Wie hab ich das gefühlt, was Abschied heißt.Wie weiß ichs noch: ein dunkles unverwundnesgrausames Etwas, das ein Schönverbundnesnoch einmal zeigt und hinhält und zerreißt.“
Diese
vier Verse von Rainer Maria Rilke begleiten mich schon eine Weile. Ich halte
sie tatsächlich, man möge mir das verzeihen, für vollkommen; sie beschreiben
für mich den Schmerz des Abschieds, das Verschwinden und lassen sich auch auf
Phänomene wie das Altern, das Entlieben, das Verstehen, den Tod und einiges
andere münzen; Abschiede sind ja vielfältig.
Leider
sind diese vier Zeilen der Anfang eines Gedichts, dem danach Stück für Stück
die Luft ausgeht. Ich bin dennoch froh, sie hier zu sehen, weil doch vieles
fehlt. Der Panther, der wohl schon zu den besten Gedichten Rilkes und des
Jahrhunderts gehört, ist natürlich da und auch das Gedicht über das Karussell
im Jardin du Luxembourg, das eine wunderbar kreisende Struktur hat und jenen
schwebenden Satz:
„Und dann und wann ein weißer Elefant.“
Der
„Herbsttag“, der ein eingängiges Gedicht ist, ein schönes meinetwegen, gehört für
mich in die Kategorie beliebter Gedichte, und Rilke hat „Besseres“ geschrieben
– in den „Duineser Elegien“, den „Sonetten an Orpheus“; oder auch in den „Neuen
Gedichten“, z.B. das Langgedicht „Orpheus. Eurydike. Hermes“. Und warum die
„Römische Fontäne“ den Vorzug bekam vor „Archaischer Torso Apollos“ ist mir
auch ein Rätsel. So erscheint Rilke wieder als der liebe, brave Dichter, der
schöne Gestaltungen schuf; der visionäre Zug Rilkes, der ihn heute noch als
guten Dichter ausweisen könnte, fehlt.
„Wahrlich, keiner ist weise,Der nicht das Dunkel kennt,Das unentrinnbar und leiseVon allen ihn trennt.
Seltsam, im Nebel zu wandern!Leben ist Einsamsein,Kein Mensch kennt den andern,Jeder ist allein.“
Ein
Dichter, dessen stärkste Verse von der tiefen Einsamkeit, dem Getrenntsein
handeln – klingt wie ein Klischee. Doch dem Klischee scheint vieles nah, was
Hermann Hesse geschrieben hat, wobei das möglicherweise mehr mit der Rezeption
und ihrer Geschichte zu tun hat, als mit den Werken selbst. Ich weiß nicht, ob
„Im Nebel“ eines der besten Gedichte des Jahrhunderts ist, aber es ist auf
jeden Fall, in all seiner Schlichtheit, ein gutes, ein nachhallendes Gedicht.
Bei
Joachim Ringelnatz fühle ich mich wieder an das Morgensternproblem erinnert –
und auch hier ist natürlich Beliebtheit wieder ein Faktor. Aber obgleich sie
vor allem beliebt sind für ihre Absurdität – Ringelnatz‘ Verse haben oft etwas
Hintergründiges, so auch die beiden hier abgedruckten Gedichte, „Logik“ und
„Die Schnupftabakdose“, die von einseitiger Weltsicht und von Ignoranz
erzählen, von der Tragik der Gefälle.
„Nimm die Forsythien tief in dich hineinund wenn der Flieder kommt, vermisch auch diesenmit deinem Blut und Glück und Elendsein,dem dunklen Grund, auf den du angewiesen.“
Manche
bewundern sein expressionistisch-heftiges Frühwerk und fremdeln mit der
Gehobenheit, der Schwere des Spätwerks; bei anderen ist es umgekehrt. Die Rede
ist vom Hautarzt Gottfried Benn. Aus seinem frühen Band „Morgue“ ist das fast schon sprichwörtliche Gedicht
„Mann und Frau gehen durch die Krebsbaracke“ enthalten, in dem das
Zugrundegehen unverhohlen im Zentrum steht, die Fehlerhaftigkeit des Fleisches,
das sich ganz leicht gegen das Bewusstseins, das es umgibt, wenden kann und es
dann nicht mehr nur umschließt, sondern einschließt.
Etwas
mehr Todesverachtung aus dem Frühwerk wäre vielleicht passend gewesen, denn die
anderen vier Gedichte, u.a. „Nur zwei Dinge“ und „Einsamer nie“, spiegeln nicht
die ganze Bandbreite von Benns lyrischer Sprachkraft wider. Auch das Gedicht
„Kommt –“ gehört trotz seines tiefgreifenden Aufrufs nicht unbedingt zu seinen
besten. Obgleich, es endet schön:
„und schon so nah den Klippen,du kennst dein schwaches Boot –kommt, öffnet doch die Lippen,wer redet, ist nicht tot.“
Mit
Georg Heym folgt ein früh verstorbener Dichter, der wie der frühe Benn dem
Expressionismus zugeordnet wird, obwohl er letztlich ein bisschen zwischen den
Stühlen steht. Mit dem Totengedicht „Letzte Wache“ und dem Sonett über
Robespierre auf dem Weg zum Schafott, hat Reich-Ranicki nicht besonders
repräsentative oder eindrückliche Werke ausgesucht, und Heym zieht leider
relativ unbeachtet vorbei.
Beim
nächsten Text handelt es sich, für mich, eindeutig um ein Zeitdokument und
nicht um ein gutes Gedicht (auch wenn es seit dem Band „Menschheitsdämmerung“
immer wieder in Anthologien vorkommt, ja eines der Anthologie-Gedichte
schlechthin ist): Jakob von Hoddis „Weltende“.
„Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut,In allen Lüften hallt es wie Geschrei,Dachdecker stürzen ab und gehn entzweiUnd an den Küsten – liest man – steigt die Flut.Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfenAn Land, um dicke Dämme zu zerdrücken.Die meisten Menschen haben einen Schnupfen.Die Eisenbahnen fallen von den Brücken.“
Wie
gesagt, als Zeitdokument, als Stimmungsdokument, vielleicht noch als satirische
Kuriosität, meinethalben – aber es ist definitiv nicht eines der besten
Gedichte des Jahrhunderts oder eines der wichtigsten. Es ist ein Relikt.
Und
leider geht es enttäuschend weiter. Denn als nächster kommt Kurt Schwitters,
ein wichtiger und vielseitiger Dichter, Maler, Zeichner, Künstler, Grafiker
etc., ein Multitalent. Gedichte wie „Kleines Gedicht für große Stotterer“,
„Perhaps strange“, „Zwölf“ oder das bekanntere „An Anna Blume“ gehören zum
deutschsprachigen Lyrikschatz, zusammen mit vielen Laut- und graphischen
Gedichten. Reich-Ranicki wählte „Der Zigarette Ende“ aus, ein in seinen Motiven
sehr einfaches und klares Werk, das weder Schwitters‘ Verdienste um die Lyrik
aufzeigt, noch besonders schön oder eindrücklich ist.
„Vergilbter Glanz von schönen Sommertagen,Ein reines Blau tritt aus verfallener Hülle;Der Flug der Vögel tönt von alten Sagen.Gekeltert ist der Wein, die milde StilleErfüllt von leiser Antwort dunkler Fragen.“
Lese ich
Georg Trakl, fällt mir immer wieder auf, wie einlullend ich viele seiner Texte
finde; all die Schwere, mitsamt ihrer Tiefe, deckt zu. Aufmerksam macht das
Gedicht „Grodek“ (Trakl schrieb es kurz vor seinem Tod, benannt nach dem Ort
einer Schlacht, an der er als Sanitäter teilnahm), das sich trotz seines hohen
Tones warnend und zutiefst erschüttert ausnimmt, auch nicht wirkt wie ein
üblicher Trakl-Text; im Gegensatz zu den drei anderen Gedichten „Herbst der
Einsamen“, „Die Kirche“ und „In den Nachmittag geflüstert“, die voll sind mit
der üblichen Trakl-Staffage: Herbst, Verwesung, Kälte, Kahlheit, Gräue, Schwärze
- Gedichte, die direkt in die Knochen gehen. Da nichts anderes von uns übrig
bleibt (von Seelen abgesehen, wer weiß), werden Trakls Gedichte wohl noch lange
in solchen Zusammenstellungen zu finden sein.
Nun Alfred
Lichtenstein, ein weiterer Expressionist, ein weiterer Frühverstorbener, der
ungefähr einen Monat vor Trakl starb, im September 1914 an der Westfront. Unter
diesen Umständen nimmt sich sein einziges hier abgedrucktes Gedicht „Gebet vor
der Schlacht“, fast ein bisschen bedeutender aus, als es ist. Das lyrische Ich
wünscht sich, dass es nicht sterben möge, dass es vielleicht nur verwundet wird
und als Held heimkehrt; der Ton ist sehr salopp. Es sprach damit sicher einer
ganzen Soldatengeneration aus der Seele und ist deshalb ein wichtiges Dokument,
vielleicht sogar ein gutes Gedicht. Eines der besten? Ich glaube nicht.
„Dein Arm, der mich umschlugen,Dein Wort, das mich umsungen,Dein Haar, darein ich tauchte,Dein Atem, der mich hauchte,Dein Herz, das wilde Fohlen,Die Seele, unverhohlen,Die Füße, welche liefen,Als meine Lippen riefen –:“
Klabund
gilt ja mitunter noch als Geheimtipp, wobei er so viel Unterschiedliches
schrieb und übersetzte, dass schon beim flüchtigen Blättern in seinen Werken
die Qualitätsunterschiede auffallen: schnell Hingeworfenes steht neben solideren
und ausgefeilten Texten. Sehr lesenswert sind seine Nachdichtungen zu den
Texten des chinesischen Dichters Li Tai-pe. Das von Reich-Ranicki aufgenommene
„Liebeslied“ würde gut in eine Anthologie mit Liebeslyrik passen, in diesem
Band streift man es mit einem nachsichtigen Blick und blättert weiter.
Es kam
jetzt schon zur Genüge vor, dieses Gefühl: manche Namen fallen nur, weil sie
fallen müssen; weil sie wichtig waren für die Literaturgeschichte.
Kurt
Tucholsky, auch so ein Fall. Er steht noch mehr als andere zwischen allen
Stühlen; war Publizist, Kritiker, Satiriker, Verfasser von idyllischen Romanen
wie „Schloss Gripsholm“, aber eben auch Dichter, Liedtexter. „An das Baby“ ist
ein schnoddriger Sprechtext, eine Posse mit einem lachendem und einem weinenden
Auge, nicht unbedingt ein gutes Gedicht, mehr eine gute Einlage. Der zweite
Beitrag „Park Monceau“ besticht da schon eher, ist aber auch mehr ein
Zeitdokument und zeigt einen Tucholsky, der sich fern von Deutschland plötzlich
an die Schönheit des Daseins erinnert. Traurig, schaurig, schön.
Das
einzige Gedicht von Franz Werfel hat ein großes Thema: das Bleibende, und heißt
auch so. Wieder so ein Gedicht, bei dem das Thema warm anweht, man versteht die
Regung, aber die Sprache, die Form, vermittelt wenig mehr als eine Ahnung,
Passagen wie:
sind, zumindest für mich, eher enigmatisch.„Solang auf ligurischer Fahrtdas Meer seine Fischer gewahrt,so lang wird am Strand es schaundie spitzenklöppelnden Fraun.“
Der
nächste Autor und das nächste Gedicht markieren den einzigen Beitrag in dieser
Anthologie, den ich als eindeutig überflüssig bezeichnen würde: Johannes R.
Becher, später Minister für Kultur in der DDR, war sicherlich eine wichtige
Gestalt und das abgedruckte Gedicht „Auferstanden aus Ruinen“, das als Text für
die Nationalhymne der DDR geschrieben wurde (und dann auch als solcher
verwendet wurde), ist sicher eine symbolträchtiges Stück Lyrik, aber es gehört
definitiv nicht zu den besten Gedichten, die Becher schrieb oder zu den besten
des Jahrhunderts. Nicht nur das: der Text schreit förmlich: National! National!
„Auferstanden aus Ruinenund der Zukunft zugewandt,laß uns dir zum Guten dienen,Deutschland, einig Vaterland.Alte Not gilt es zu zwingen,und wir zwingen sie vereint,denn es muß uns doch gelingen,daß die Sonne schön wie nieüber Deutschland scheint.“
Vielleicht
bin ich allein damit, aber mir wird mulmig bei solchen Liedern.
„Seit ich, Eurydike, dich verlorWeil ich mich einmal umsahMuß ich mich umsehnNach allen Frauen der Erde“
Yvan
Goll ist immer noch zu entdecken; für mich gehört er zu den vitalsten (und
zugegebenermaßen auch übermütigsten) Dichtern des 20. Jahrhunderts; schimpfend,
preisend, jubelnd, darbend. Ein Dichter, der immer alles wollte, Revolution und
Frieden und Glück und Liebe und Aufbruch und eine Sprache für das alles. Seine
kurze Variation des Orpheus/Eurydike Themas, die Reich-Ranickis ausgewählt hat
und in der Orpheus überall, in jedem Gesicht, nach der Geliebten sucht, reicht
zwar sicher nicht aus, um Golls Qualitäten aufzuzeigen, aber ich lege ihn
hiermit den Leser*innen ans Herz, zusammen mit ein paar Zeilen aus Golls
„Karawane der Sehnsucht“:
„Überall könnte Elysium sein!Aber wir wandern, wir wandern immer in Sehnsucht!Irgendwo springt ein Mensch aus dem Fenster,Einen Stern zu haschen, und stirbt dafür,Irgendeiner sucht im PanoptikumSeinen wächsernen Traum und liebt ihn –Aber ein Feuerland brennt uns allen im lechzenden Herzen,Ach, und flössen Nil und NiagaraÜber uns hin, wir schrien nur durstiger auf!“
Ein noch
umfangreicheres Werk als das Yvan Golls hat der österreichische Lyriker Theodor
Kramer vorzuweisen; es besticht durch viele Milieu- und Schauplätze, viel
Empathie, viel Aufmerksamkeit für kleinere Erlebnisse. Keine großen Form- oder
Stilbrüche/Innovationen, sondern eine breite Masse an eingängig-starken Texten.
Eines
der von Reich-Ranicki ausgewählten Gedichte ist die Beschreibung eines
Aufwachens und Wachliegens mitten in der Nacht. Das andere, „Wer läutet draußen
an der Tür?“ funktioniert über die Steigerung einer nicht ganz zu fassenden
Bedrohlichkeit, die der Jude und Sozialdemokrat Kramer nach der Angliederung
von Österreich am eigenen Leib erfahren haben wird. Erst sind es nur Leute, die
beim Nachbarn klingeln und fragen, wer dort wohne. Das Unvermeidliche kommt mit
leisen Schritten, bis in der letzten Zeile klar wird, dass man selbst nun auch nicht
mehr entkommen kann, dem Klopfen und dem, wofür es steht.
„Von diesen Städten wird bleiben: wer durch sie hindurchging, der Wind!Fröhlich machet das Haus den Esser: er leert es.Wir wissen, dass wir vorläufige sindund nach uns wird kommen: nichts Nennenswertes.“
Der
solches schrieb, steht quasi im Zentrum dieser Anthologie – immerhin ist sie
ihm, in memoriam, gewidmet und niemand anders ist auch nur annähernd mit so
vielen Gedichten vertreten: elf Stück an der Zahl. Nun war Reich-Ranicki ein
großer Freund der brechtschen Lyrik. Nicht der einzige, aber es existiert schon
eine gewisse Zögerlichkeit beim Umgang mit Brechts Gedichten, auch wenn sie
einem in den unterschiedlichsten Kontexten begegnen. Vermutlich rührt die Unsicherheit
daher, dass die Bandbreite dieser Lyrik so groß, die Gedichte so
unterschiedlich sind – zwischen den frühen Psalmen, den Liedern aus der
Dreigroschenoper und den späteren Buckower Elegien liegen jeweils Welten. Und
es gibt auch noch die feierlichen Gedichte, die Antikriegsgedichte, die
erotischen und die Liebesgedichte und immer wieder auch Kurioses – wenn man in
der 1500 Seiten schwere Insel-Ausgabe blättert, stößt man auf so manches.
Da gibt
es zum Beispiel das Gedicht Alfabet, in dem Brecht mit jedem Buchstaben des
Alphabets einen Vierzeiler beginnt. Die Y-Version lautet kurz und knapp:
„Ypern in Flandern1917.Mancher, der diesen Ort gesehnsah nie mehr einen andern.“
Die
Songs aus der Dreigroschenoper waren zu Weimarer Zeiten Hits, die Liebesgedichte
sind noch heute beliebt. In Deutschland zollten ihm durchaus einige Dichter
Respekt, manchmal freundlich oder klar Bezug nehmend und anknüpfend, manchmal
schlicht als Übervaterfigur. Ein Gespräch mit W. H. Auden über die
Persönlichkeit von Dichtern gab der russische Poet Joseph Brodsky
folgendermaßen wieder:
„Auden: Ich habe drei große Dichter kennengelernt, jeder von ihnen ein besonders kolossaler Hurensohn.Ich: Wen?Er: Yeats, Frost, Bert Brecht.(Bei Brecht hatte er unrecht: Brecht war kein großer Dichter.)“1
Ähnlich
zweischneidig wie Brechts lyrisches Werk und die Meinungen dazu ist auch die
Auswahl von Reich-Ranicki. Natürlich darf „Erinnerungen an die Marie A.“ nicht
fehlen (für Reich-Ranicki DAS Liebesgedicht des 20. Jahrhunderts) und ich
persönlich begrüße es, dass das sehr profane, aber dennoch, wie ich finde,
wichtige Gedicht „Fragen eines lesenden Arbeiters“ mit dabei ist. Ansonsten
werden viele Aspekte von Brechts lyrischem Schaffen aufgerufen: Appelle stehen
neben dem Zyklus „Vom armen B.B.“, der wirklich nicht hätte aufgenommen werden
müssen; Schwärmerisches lehnt sich an Liedhaftes an, Balladen rattern neben
kleinen Szenen vorbei.
„Wir liegen allesamt im Kattegat.Viehdampfer haben uns hinabgenommen.Fischer, wenn dein Netz hier viele Fische gefangen hatGedenke unser und lass einen entkommen!
Es fehlt
allerdings einiges. So ist nicht ein Text aus den Buckower Elegien vertreten,
zumindest der „Radwechsel“ hätte sich angeboten. Weder die „Seeräuber-Jenny“
noch „Mackie Messer“ sind dabei; und auch keines der feineren Liebesgedichte,
wie etwa jenes:
„Der, den ich liebeHat mir gesagtDaß er mich braucht.DarumGebe ich auf mich achtSehe auf meinen Weg undFürchte von jedem RegentropfenDaß er mich erschlagen könnte.“
Zugegeben
vielleicht nicht das bedeutendste oder beste Brechtgedicht. Aber wenn man Bert
Brecht schon so viel Platz einräumt, dann sollte man wirklich die besten,
stärksten Texte nehmen. Reich-Ranickis Wunsch, Brecht zu stilisieren, macht da
einen Strich durch die Rechnung, und so wird seine Lyrik nicht in ihrer ganzen
Vielfalt gezeigt.
Eines
der Gedichte von Brecht, das mich bis heute am meisten rührt – obwohl es etwas
leicht Übergriffiges hat und auch die Sachverhalte (das reale Vorbild für die
Person im Gedicht, der Schriftsteller Oskar Maria Graf, war noch nicht
geflohen) nicht komplett richtig wiedergibt – heißt „Die Bücherverbrennung“:
"Als das Regime befahl, Bücher mit schädlichem WissenÖffentlich zu verbrennen, und allenthalbenOchsen gezwungen wurden, Karren mit BüchernZu den Scheiterhaufen zu ziehen, entdeckteEin verjagter Dichter, einer der besten, die Liste derVerbrannten studierend, entsetzt, daß seineBücher vergessen waren.
Er eilte zum SchreibtischZornbeflügelt,und schrieb einen Brief an die Machthaber.Verbrennt mich! schrieb er mit fliegender Feder, verbrennt mich!Tut mir das nicht an! Laßt mich nicht übrig! Habe ich nichtImmer die Wahrheit berichtet in meinen Büchern? Und jetztWerd ich von euch wie ein Lügner behandelt? Ich befehle euch:Verbrennt mich!"
Stichwort
Bücherverbrennung: Es folgt Erich Kästner, ein mir ebenfalls lieber Dichter; in
seiner Sammlung mit Epigrammen befinden sich ein paar der gescheitesten
Gedichte des 20. Jahrhunderts, lehrreich würde ich fast sagen, wenn das nicht zu
schulmeisterlich und wenig reizvoll klänge; aber Kästner-Gedichte machen
meistens Spaß!
„Wird’s besser, wird’s schlimmer,fragt man alljährlich.Seien wir ehrlich:Leben ist immerlebensgefährlich.“
Und
meist tragen sie dennoch eine fein-säu(b)erliche Gesellschaftskritik am Revers.
Aber
auch der Gedicht-Zyklus „Die dreizehn Monate“ ist von ungebrochener
Leichtigkeit und Schönheit, die Weimarer Gedichtbände voller lappalienähnlicher
Kleinode.
Tragisch
fast schon, dass Reich-Ranicki mit „Sachliche Romanze“, „Kennst du das Land wo
die Kanonen blühen?“ und „Die Zeit fährt Auto“ drei glatte, wenn auch durchaus
lesenswerte Texte ausgewählt hat. Wieso nicht Kästners Brief an seinen Sohn?
Oder jenes anklagende, unbequem-direkte Gedicht, das immer noch sehr aktuell
ist: „Wo bleibt das Positive“.
„Und immer wieder schickt ihr mir Briefe,in denen ihr, dick unterstrichen, schreibt:»Herr Kästner, wo bleibt das Positive?«Ja, weiß der Teufel, wo das bleibt.Noch immer räumt ihr dem Guten und Schönenden leeren Platz überm Sofa ein.Ihr wollt euch noch immer nicht dran gewöhnen,gescheit und trotzdem tapfer zu sein.“
Nach
Kästner kommt Kaschnitz, Marie Luise. Eine der Meisterinnen des Hörstücks, des
(lyrischen) Monologs. Ein Rezensent bemerkte einmal, Marie Luis Kaschnitz sei
eine der unpolitischsten Dichter*innen der Nachkriegszeit, ihr lyrisches Werk
begrenzt auf die Vermittlung einer „Einzelseele“. Dagegen spricht das
Lang-Gedicht „Rückkehr nach Frankfurt“, das ihre Begegnung mit der Stadt nach
dem Krieg beschreibt, und ebenso das einzige von Reich-Ranicki ausgewählte
Gedicht. Vielmehr verband sie die Problematiken des Draußen und des Innenlebens
fest miteinander.
„Nicht gesagtWas von der Sonne zu sagen gewesen wäreUnd vom Blitz nicht das einzige RichtigeGeschweige denn von der Liebe.Versuche. Gesuche. MißlungenUngenaue Beschreibung“
So
beginnt ihr Gedicht „Nicht gesagt“, das wie eine Art Abrechnung mit dem eigenen
Ungenügen klingt. Doch, was bei genauerem Hinsehen weitaus schwerer wiegt: dem
Versagen der Themen. Sonne, Blitz und Liebe – sind das Themen? Später werden
noch Blumen, „Verfall“ und „Verzweiflung“ genannt, „Gott“ und der „Teufel“. Es
lässt sich kein wirkliches Thema finden, alles ist zurückgeworfen auf alte
Hüllen. Eines ist wahr: Kaschnitz Lyrik besticht nie, weder in den frühen gereimten,
noch in den späteren wie entwurzelt erscheinenden Gedichten, sie untermalt nur.
„Nur“.
„Gedenke, mein Sohn, gedenke derer,Die einst Gespräche wie Bäume gepflanzt[…]Und ist noch Stimme im heißen Staub.Sie gaben Befehl, die Wurzel zu roden.Es sinkt dein Licht, schutzloses Laub.“
In Peter
Huchels Gedichten dominiert die Dunkelheit, die dunkle Atmosphäre, eine karge
und zugleich reichte Geisterhaftigkeit. Wie Epitaphe wirken sie oft; die Bilder
scheinen, beinahe sofort, mit schweren Gedanken überschrieben, gerade erst
heraufbeschworen. Große Klüfte, zwischen ihnen wandeln seine Verse, profan und
seherisch.
Die
Auswahl umfasst zwei wichtige Gedichte, „Der Garten des Theophrast“ und
„Soldatenfriedhof“. „Exil“, das dritte, ist ein sehr enigmatischer Text und
spiegelt einen essentiellen Aspekt von Huchels lyrischem Œuvre wieder; aber zu seinen
besten Gedichten gehört es, denke ich (der ich nicht so viele seiner Gedichte
gelesen habe) nicht.
„Steh auf, steh auf!Wir werden nicht angenommen,die Botschaft kam mit dem Schatten der Sterne.Es ist Zeit zu gehen, wie die anderen.“
Viel Lyrik
hat er nicht geschrieben; er ging eher als Hörspielautor und Sonderling in die
Literaturgeschichte ein. Dabei ist die eigengeartete Schönheit von Günter Eichs
Gedichten nicht zu leugnen. Eines seiner besten, „Nachhut“ und eines seiner
bekannteren, „Inventur“, sind hier gemeinsam abgedruckt. Letzteres ist
eigentlich nur eine simple Aufzählung von Gegenständen, die vor allem im
Nachkriegskontext verortet werden kann. Was ich an Eichs Lyrik mag: die fast
schon zeitlos zu nennende Verbindung von einfachen Gesten und aufgeladenen
Elementen. So heißt es am Ende von „Nachhut“:
„Wenn wir uns erinnern an die Wegmarken der Liebe,ablesbar auf Wasserspiegeln und im Wehen des Schnees!Komm, ehe wir blind sind!“
Über den
nächsten Dichter könnte ich viele Seiten schreiben und würde es auch gern, da
ich finde, dass viel zu wenig über ihn geschrieben wird, er viel zu wenig
gelesen wird. Dabei war Karl Krolow nicht nur einer der produktivsten, sondern
meiner Meinung nach auch einer der besten deutschen Lyriker der Nachkriegszeit.
In seinem Werk: Stadtgedichte, Jahreszeiten-, Landschafts- Liebesgedichte,
Lebensgedichte, Zeitgedichte, Gedankengedichte, in großer Zahl, sinnlich,
illuminierend, einmalig in der glatten Balance, die nicht aneckt, sondern
größtenteils Nuancen ausbreitet. Vielleicht ist es die Glattheit und die
schlichte Geste des Ausbreitens, die ihn heutzutage suspekt erscheinen lässt. Aber
diese Glattheit scheint, spiegelt, hat Tiefe.
In jedem
Fall hat Krolow sprachlich auch Innovatives zu bieten, nur bewegt es sich immer
im Rahmen einer gewissen Harmonie, einer gewissen Unverfänglichkeit.
Reich-Ranicki
hat eines seiner besten Liebesgedichte, „Es war die Nacht“, ausgewählt, ein
Text, der um Längen besser als Kästners „Sachliche Romanze“ das Ende einer
Beziehung umkreist – und „Was war, was ist“, ein knapp gereimtes Gedicht, an
dessen Stelle ich lieber einen Text aus den Bänden „Die zweite Zeit“ oder
„Zwischen Null und unendlich“ gesehen hätte.
Johannes
Bobrowskis gesammelte Gedichte sind erst vor kurzem bei DVA neu aufgelegt
worden, eine längst fällige Wiederentdeckung – zu der Reich-Ranicki mit dem
abgedruckten Gedicht nur bedingt beiträgt, denn der knappe Telegrammstil zeigt
weder die Qualitäten Bobrowskis, seiner schlanken, aber nichtdestotrotz mit
vielen Gewichtungen besetzen Lyrik, noch ist es ein besonders gutes Gedicht:
Bedeutung gewinnt „Bericht“ aufgrund seines Hintergrunds. Zu dem Verhör der
Bajla Gelblung, Jüdin und angeblicher Partisanin, gibt es ein Foto und dieses
Foto nimmt Bobrowski zum Anlass, die Leichtigkeit (und Leichtfertigkeit), mit
der die NS-Offiziere ihre Opfer behandelten, kurz und knapp darzustellen.
„Umbrische Nacht mit dem Silber von Glocke und Ölblatt.Umbrische Nacht mit dem Stein, den du herumtrugst.Umbrische Nacht mit dem Stein.Stumm, was im Leben stieg, stumm.Füll die Krüge um.“
Unverzichtbar
in solchen Anthologien: Paul Celan. Mit drei Gedichten vertreten, die
vielleicht nicht seine besten sind, aber zu seinen besten gehören: Selbstredend
die „Todesfuge“, dann das in seinen Wiederholungen drohende, tiefe und
funkelnde „Assisi“ und als Abschluss das eindrücklich-knappe „Auf Reisen“.
Natürlich gäbe es noch viele andere Gedichte, die einen Platz unter den besten verdient
hätten – und Celan ist einer der Kandidaten, zugunsten derer man Brecht weniger
Platz hätte einräumen können.
Ein
gutes Beispiel aus ihrem schmalen lyrischen Werk, konzentriert und sublim, ist
Ilse Aichingers „Gebirgsrand“. Trotzdem fehlt mir darin der Witz, die
Widerständigkeit, die in manchen ihrer Gedichte zu Tage tritt. Zum Beispiel in
den Versen:
„Hör gut hin, Kleiner,es gibt Weißblech, sagen sie,es gibt die Welt,prüfe, ob sie nicht lügen“
Ein
Aufruf, der in vielen Ecken von Aichingers Werk nachhallt. „Gebirgsrand“ ist
bekannt und ein guter Kompromiss, ihr bestes Gedicht ist es nicht. Aber
schlecht repräsentiert wird sie dadurch auch nicht.
„Noch einmal sprechenvom Glück der Hoffnung auf Glückdamit doch einige fragen:Was war daswann kommt es wieder?“
Ich
bekenne freimütig, dass ich ein Fan der Gedichte Erich Frieds war und es in
Teilen immer noch bin. Liest man länger in seinen vielen Bänden, wird man der
überfallartigen Wortdreherei und des gleichbleibenden, deklinierenden Duktus
zwar schnell überdrüssig, nichtdestotrotz hat Fried einige Gedichte
geschrieben, die systematische und sprachliche Problematiken mit virtuoser
Geste auf den Punkt bringen.
Politische,
engagierte Dichtung macht den Großteil seines Werkes aus, am bekanntesten ist
er jedoch für seine Liebes- und Lebensabendgedichte, von denen das sehr gute
„Bevor ich sterbe“ von Reich-Ranicki ausgewählt wurde. Gut, dass er auf „Es ist
was es ist“ oder das allzu melodramatisch-lamentierende Gedicht „Fügungen“
verzichtet hat; schade aber, dass keines der engagierten Gedichte, wie zum Beispiel
„dann wieder“, als zweites ausgewählt wurde.
„Was keiner geglaubt haben wirdwas keiner gewusst haben konntewas keiner geahnt haben durftedas wird dann wieder das gewesen seinwas keiner gewollt haben wollte“
Es gibt
einige kurze Gedichte wie dieses, die für mich eine immerwährend-mahnende Aktualität
haben. Stattdessen hat Reich-Ranicki das metapoetische „Macht der Dichtung“
ausgewählt, das auf ästhetischer Ebene zwar komplexer ist, das ich aber
paradoxerweise nicht als eines der stärksten Gedichte von Fried bezeichnen
würde. Vielleicht habe ich in dieser Frage ein allzu starres Bild von Fried,
das ich repräsentiert sehen will.
„Wir sind die menschen auf den wiesenbald sind wir menschen unter den wiesenund werden wiesen, und werden walddas wird ein heiterer landaufenthalt“
Kein
Ottos Mops, kein schtzngrmm, dafür zwei andere bekannte Gedichte: „vater komm
erzähl vom krieg“ und „lichtung“, in dem lechts und rinks velwechsert werden. Nun
hat Ernst Jandl Virtuoseres, Beispielhafteres und Einschneidendes geschaffen
als diese vielzitierten, guten, aber, wie ich meine, eher bekömmlichen und in
ihrer Zeit verhafteten Gedichte. Das kurze Sommerlied (oben zitiert) gehört in
jedem Fall zu dem schönsten, was Jandl geschrieben hat.
„Der Krieg wird nicht mehr erklärt,sondern fortgesetzt. Das Unerhörteist alltäglich geworden“„und nicht,Weil die Nacht mit Kometen prahlt und in mir einen Narren suchtSondern deinetwegen und bald endlos und wie um nichts sonstKlage führen über den unabwendbaren Verlust meiner Augen.“
Noch
immer haben sie diese Wucht, diese Gewalt, in die man eine Haltlosigkeit zu
projizieren versucht ist. Dass härtere Tage kommen und der Krieg nicht mehr
erklärt sondern geführt wird, und wir nahezu blind sind, derlei schlägt uns aus
den drei ausgewählten Gedichten von Ingeborg Bachmann entgegen: „Alle Tage“,
„Die gestundete Zeit“ und „An die Sonne“. Auch hier könnte man kleine
Einsprüche erheben, „Beim Hufschlag der Nacht“ kommt mir in den Sinn, aber im
Wesentlichen ist die Essenz von Bachmanns Dichtung mit diesen drei Texten gut
vertreten; wenn auch die feineren-stillen Seiten vielleicht ein bisschen zu
kurz kommen.
Mit den
Gedichten von Elisabeth Borchers, ihres Zeichens auch Suhrkamp-Lektorin, konnte
ich nie viel anfangen, und Reich-Ranicki hat auch das bekannteste „eia wasser
regnet schlaf“ für die Anthologie ausgewählt. Ein Lied, ein klimperndes, ein
Regenlied, irgendwie ohne Gewicht.
„Nicht nur die Frage nach den Manschettenknöpfen.Auch Dienstleistungen:Halt mal den Spiegel.Glühbirnen auswechseln.Etwas abholen.“
Ich habe
mich einst – noch bevor er durch ein zweifelhaftes politisches Gedicht,
publiziert in einigen Zeitungen, in Misskredit geriet – aus einer Laune heraus
durch das gesamte lyrische Werk von Günter Grass gelesen. Es gibt da einige
schöne Teile, zum Beispiel die „Fundsachen für Nichtleser“ und einige Gedichte
aus den „Letzten Tänzen“, manch aneckenden Vers aus dem Erstling „Die Vorzüge
der Windhühner“. Reich-Ranicki betonte ja hier und da, dass er Grass mehr als
Lyriker denn als Romancier schätzte.
Sie hat einen
Vorzug, diese Lyrik (oder eine Schwäche, das ist Auslegungssache), der klar
heraussticht: Sie ist extrem zerfasert, wie zusammengebastelt aus
unterschiedlichen Aggregatzuständen, und macht zahlreiche, aber oft auch
unvollendete Nuancen auf; und doch ist sie in den Nuancen oft kraftvoller als
im Gesamten, das eher verschwimmt: ein Mosaik mit zu großen Steinen. Das erste
Gedicht „Ehe“, eine Sammlung von Privatem, das zum Sinnbild gegossen wird, hält
irgendwie zusammen, eine Elegie, die sehr langsam anbricht; das „Kinderlied“
ist ein Späßchen, nett und irgendwie auch schön, dass es hier steht.
„Hier gibt es weiche Mädchengegen harte Devisen.Das Pflaster ist aufgerissen.Dort standen die Panzer.“
Ein
wenig erstaunt bin ich, dass Reich-Ranicki gleich drei Gedichte von Hans Magnus
Enzensberger ausgewählt hat. „Stadtrundfahrt“, ein Schweifen durch das
versehrte Budapest, wirkt heute etwas altbacken, jedoch immer noch stimmig.
Dann „Utopia“, eines jener wilden, zornig-schwelgenden Gedichte, die
Enzensbergers Lyrik einst sehr anziehend machten, heute leicht verwittert. Es
fehlen die klugen und fast schon intimen Gedichte, aus „Kiosk“ oder das schelmisch-moralische
Spiel manch späterer Verse. Den Schluss macht „Ins Lesebuch für die Oberstufe“,
das mit jenem Vers beginnt, der für die Nachkriegsgeneration das passende
Pendant zu Rilkes Requiem-Schluss lieferte:
„Lies keine Oden, mein Sohn, lies die Fahrpläne:Sie sind genauer.“
„Frist“
von Günter Kunert les ich immer wieder gerne. Für mich ist es eines jener
wenigen vollkommenen lyrischen Texte. Hier kann ich einmal aus vollem Herzen
zustimmen: eines der besten Gedichte des Jahrhunderts.
„Schön, wie sich die Sterblichen berühren –Knüppel zielen schon auf Herz und Nieren,dass er Liebe gleich der Mut vergeh …Wer geduckt steht, will auch andere biegen(Sorgen brauchst du dir nicht selber zuzufügen;alles, was gefürchtet wird, wird wahr –)Bleib erschütterbarBleib erschütterbar – und widersteh.“
„Wer
Lyrik schreibt ist verrückt, wer sie für wahr nimmt, wird es“ dichtete Peter
Rühmkorf einst. Einen verquereren Sänger hat die deutsche Sprache wohl selten
gesehen, wobei Rap und Slam Rühmkorf vielleicht heute die Show stehlen würden.
Weniger schwerfällig als Durs Grünbein, doch mitunter ebenso metaphysisch,
außerdem cleverer, agiler, anziehender, ist Rühmkorfs Dichtung bis heute eine
lesenswerte und besondere Erscheinung. „Bleib erschütterbar und widersteh“,
eine kampflustige Ballade, eine Mischung, so scheint es, aus Brecht, Heine,
Biermann und Karl Kraus, gehört tatsächlich zu seinen besten Gedichten und darf
hier keinesfalls fehlen.
Sarah
Kirschs erster Gedichtband „Landaufenthalt“ ist einer jener Einzelbände, den
ich von vorne bis hinten durchlesen kann, immer mal wieder, beglückt.
Reich-Ranickis Auswahl von drei Liebesgedichten finde ich etwas kurz gegriffen.
Es sind wunderbar-schlichte Gebilde, tiefgreifend in ihrer unprätentiösen Art.
Aber da gibt es noch mehr, das Sarah Kirsch ausmacht, und ihre besten Gedichte,
finde ich, handeln von Augenblicken, von Zeitfenstern, von Zusammen-gefasstem.
In den Liebesgedichten wirkt sie allzu sehnsüchtig, allzu brav.
Schön,
dass auch Wolf Biermann noch kommt, schade allerdings, dass es seine eher
leicht beliebig wirkenden Lieder „Ballade vom preußischen Ikarus“ und
„Ermutigung“ sind, die Reich-Ranicki erklingen lässt. Munteres, kämpferisches
Liedgut, zweifelsohne, aber nicht das beste, bissigste von Biermann – was ist
mit den Träumen von besseren Zeiten oder mit dem Wandel, der sich treu bleibt?
„Woran soll es gehn? Ans Sterben?Hab ich zwar noch nie gemacht,doch wir werd’n das Kind schon schaukeln –na, das wäre ja gelacht!Interessant so eine Sanduhr!Ja, die halt ich gern mal fest.Ach – und das ist ihre Sense?Und die gibt mir dann den Rest?“
„Der
einzige legitime Nachfolger Heines“, so hat Reich-Ranicki ihn einmal genannt.
Ähnliche Vorwürfe wie damals jener musste sich Robert Gernhardt auch anhören:
zu einfacher Witz und Wortschatz, die Reime und die Metrik hingebogen, das
Sujet oft uninteressant, beliebig. Es ist das Launische, was ich an Gernhardt
wiederum durchaus schätze, auch wenn es mich schnell mal nerven kann.
Reich-Ranickis Auswahl mit dem seicht-sehnsuchtsvoll-frivolen „Doppelte
Begegnung am Stand von Sperlonga“, dem simplen „Schön und gut und klar und
wahr“, sowie dem neckischen Todesstück „Ach“ ergibt keine schlechte Werkschau,
aber vermutlich wäre ein Gedicht bei Gernhardt genug gewesen.
„Bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin.“
Von
Thomas Brasch ist es das unvermeidliche „Lied“ geworden, eine Entscheidung, die
man – obgleich das dichterische Werk von Brasch auch ein zweites Gedicht
hergegeben hätte – durchaus unterstützen kann; diese zeitlosen Verse sollten in
keiner Anthologie zum Jahrhundert fehlen.
Reich-Ranickis
Begeisterung für die Lyrikerin Ulla Hahn kann ich leider ebenso wenig teilen
wie einst Sigrid Löffler. Das Verspielte darin, ich sehe und verstehe es, aber
aus irgendwelchen Gründen finde ich es nicht zuckersüß, sondern nett und
unergiebig.
„Nichts zu fühlen im Frühling, wie amputiertVor defekten Riesenrädern …“
Enden
tut das Jahrhundert mit Durs Grünbein, dem bisher letzten Klassiker, so wird er
oft inszeniert, anscheinend schloss sich Reich-Ranicki dieser Meinung an. Zu
Grünbein wäre viel zu sagen, u.a. dass er mehr noch als viele andere in diesem
Band an Traditionen anknüpfen will. „Wußten wir?“ und „In der Provinz 5“
spiegeln sein Werk allerdings eher dürftig wider, da gebe viel unwillkürlichere
und widerspenstig-zärtlichere Poeme von ihm. Aber, genug. Beenden wir das
Jahrhundert.
Und
fragen zuletzt: was fehlt? Geradezu als unverzeihlich empfinde ich das Fehlen von
Mascha Kaléko. Aber auch Namen wie Friederike Mayröcker, Nicolas Born, Michael
Krüger, Thomas Kling oder H.C. Artmann werden schmerzlich vermisst, und sicher
gibt es einige, deren Fehlen mir entgangen ist. Der Band sollte ehrlicherweise
heißen: „Marcel Reich Ranickis hundert Lieblingsgedichte aus dem 20.
Jahrhundert“ oder „Eine repräsentative Lieblingsgedichtauswahl von Marcel
Reich-Ranicki“. Natürlich ist jede Auswahl persönlich – aber es geht besser,
denke ich. Mal sehen, wie sich Steffen Popps Anthologie „Spitzen“, die im
Frühjahr erscheinen und angeblich die besten Gedichte seit dem Jahr 2000 fassen
soll, in dieser Hinsicht schlagen wird.
1 Nachzulesen in dem Text „Einem Schatten gefallen“, publiziert im Buch „Flucht
aus Byzanz“, Fischer Verlag 1991, Seite 324 oben.
(Marcel Reich-Ranicki:) Die hundert besten deutschen Gedichte des Jahrhunderts. Berlin (Insel Verlag) 2017. 150 Seiten- 9,00 Euro.