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(Magnus Wieland:) Lokusblüten

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Felix Philipp Ingold
Witz und Elend der Latrinenliteratur


Als Schimpf- und Fluchwort gehört «Scheiße» längst zum deutschsprachigen Alltagsparlando. Zahlreiche zusammengesetzte Ausdrücke – «Scheißkerl», «Scheißliteratur», «Scheißwetter» – und Anglizismen wie «Shit», «Shitstorm» oder «Bullshit» bestätigen die weitreichende Vor-liebe für fäkalsprachliche Kommunikation. «Scheiße», so könnte man meinen, sei heute frei von jeglicher Tabuisierung, so frei, dass sie selbst in der Politik und bei der Polizei gang und gäbe ist.
           Tabufrei ist «Scheiße» allerdings nur als Begriff, nicht in der Sache. Scheiße als Substanz und Scheißen als Geschäft bleibt vom privaten wie vom öffentlichen Lebensraum noch immer strikt getrennt (WC, Abort, «stiller Ort» usf.) und wird auch von künstlerischen Medien weitgehend ausgespart – fiktives Film-, Theater- und Romanpersonal scheint keine Notdurft zu kennen und nicht auf entsprechende Erleichterung angewiesen zu sein: Kaum je wird ein Protagonist, ob «Held» oder nicht, beim Austreten vorgeführt, die Normalität der Defäkation findet in Werken der Kunst und Literatur gemeinhin keine Beachtung, ist für deren Anlage oder Aussage offenbar irrelevant, nicht anders als bei mythologischen und religiösen Darstellungen, die ihre Heroen und Götter von solch unbedarfter Normalität konsequent frei-halten. Dass Osiris oder Achilles oder Medea jemals den «stillen Ort» aufgesucht haben sollten, ist ebenso unvorstellbar und skandalös wie im Fall von Dantes Beatrice, Shakespeares Hamlet, Lessings Nathan der Weise oder Tolstojs Anna Karenina.
           Dennoch gibt es, gerade in belletristischen Texten, eine beiläufige, zumindest punktuell sich manifestierende, deshalb kaum beachtete skatologische Tradition, die sich aus der griechisch-römischen Antike herleiten und über alle nachfolgenden Epochen in wechselnder Intensität bis in die Gegenwartsliteratur verfolgen lässt. Durchwegs hat man es dabei mit knappen Szenen oder auch bloß mit mehr oder minder expliziten Beschreibungen entsprechender Vorgänge in größerem Zusammenhang zu tun, mit marginalen Einsprengseln in Romanen, Bühnenstücken oder autobiographischen Schriften. Fast ausschließlich sind derartige Werkpassagen hyperbolisch angelegt, mithin in satirischer, polemischer, grotesker Übertreibung – als Provokation des guten Geschmacks, der Tugendhaftigkeit und Ordent-lichkeit.

Eine kommentierte Auswahl solcher «Schüsselstellen [so!] der Weltliteratur» legt nun – in Fortführung und Ergänzung früherer Sammelwerke zu dieser prekären Thematik – Magnus Wieland unter dem Titel Lokusblüten vor.* Man ist erstaunt, unter den zahlreichen Autoren (und den nur ganz wenigen Autorinnen) neben weithin bekannten auch unbe-kannte oder vergessene Namen vorzufinden – alle und alles überragend François Rabelais mit seinen wuchtigen, ebenso menschenverachtenden wie gotteslästerlichen Obszönitäten, eher harmlos sekundiert von Montaigne, Molière, Goethe und Jean Paul bis hin zu Proust, Joyce, Beckett, Cortázar oder Michael Ende, begleitet aber auch von weniger promi-nenten Beiträgern wie Balthasar Anton Dunker, Mateo Aleman, G. F. Krause oder Liselotte von der Pfalz.  
Anders als die erotische Literatur, die mancherlei Praktiken an beliebigen Orten absolvieren kann, bleibt die Latrinenliteratur auf den desolaten Einweg-Akt der Notdurft an einem zumeist verborgenen Ab-Tritt verwiesen. Dort geht es dann in aller Regel um Trivia wie Durchfall oder Verstopfung, Form und Gestank der Exkremente, oft auch um das «Wischen» des Hintern (mit Gras, Stroh, Papier, Gefieder) nach der Entleerung – alles in öder, freudloser Wiederholung, es sei denn, der «stille Ort» werde gleichzeitig für Lektüre oder Meditation genutzt. Die massive szenische Einschränkung des Geschehens macht jedenfalls einschlägige Texte zu einer monotonen Angelegenheit und lässt einzig auf stilistischer Ebene eine gewisse Variationsbreite zu – von den derben Reimen eines Hans Sachs im 16. Jahrhundert über Goethes frivole Stuhlganglyrik bis zu Thomas Bernhards wüster Klo-Tirade in «Alte Meister».
 
      Dass skatologische Dichtwerke auch bei herausragenden Autoren kaum je «weltliterarischen» Rang erreichen, bezeugt die vorliegende Anthologie ebenso, wie sie – am Beispiel von Luthers privaten Notaten oder von Mozarts obszönen «Toilettern» – dartut, dass die After-Thematik auch (und gerade) außerhalb der Literatur besonders hingebungsvoll abgehandelt wird. Die in dieser Hinsicht exzessiven Tagebücher von Thomas Mann und Witold Gombrowicz sind beispielhaft dafür.
 

 
 

 
Auch wenn der Stuhlgang als solcher darstellerisch uninteressant und unergiebig sein mag, kann er doch auf der Bedeutungsebene manches zu denken geben. Exkremente können bekanntlich als Spuren, sogar als Prognosen (Auspizien) «gelesen» werden, sie können auf moralische Reinigung oder geistige Befreiung verweisen, und sie können überdies – als Düngemittel – Nützlichkeit für sich beanspruchen.
 
        Durchaus bedenkenswert ist der häufig angestellte Vergleich der Verdauung und Defäkation mit dem Akt des Schreibens (vollends des Übersetzens), der seinerseits auf die unvermeidliche Rezeption von vorgegebenen Fremdtexten angewiesen ist und der solche Texte nicht nur absorbiert, sondern immer auch transformiert.
 
        Dieter Roth, der im hier angezeigten Band nicht vertreten ist, hat diese gängige literarhistorische Vorstellung mit seiner mehrbändigen «Scheiss»-Lyrik parodistisch konterkariert (zuletzt in «Gesammelte Scheisse», 1972). Literarisches Schreiben wird von ihm nicht mehr produktiv und kreativ gedacht, sondern umgekehrt als ein Akt der Verformung und Vernichtung. Poesie als Eat art: Etwas Vorgegebenes, Vorgeformtes wird – wie Nahrung – einem Stoffwechsel zugeführt, der alles zersetzt, vernutzt und als Exkrement wieder ausscheidet. Das «Werk» wird nicht mehr als Schöpfung herausgestellt, sondern als Abfall entsorgt und mutiert mithin zu einem Memento mori. «Auch wenn sich das Exkrementelle in radikaler Abgrenzung zur Zivilisation definiert, bleibt es als das von ihr Ausgeschiedene ex negativo dennoch kulturell bestimmt», unterstreicht Magnus Wieland im Nachwort zu seiner umsichtigen Textauslese: «Die Art und Weise, wie der Mensch mit seinen Verrichtungen umgeht, mit welchen Symbolen und Ritualen er sie versieht, lässt die Defäkation als Kultur-technik kenntlich werden.»
 

 
*) «Lokusblüten». Schüsselstellen der Weltliteratur. Herausgegeben von Magnus Wieland. Frankfurt a.M. (Verlag Schöffling & Co.) 2025; 187 Seiten, mit 17 Abbildungen. 18,00 Euro.


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