(Friedemann Spicker, Jürgen Wilbert:) Deutsche Aphoristik der Gegenwart
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Felix Philipp Ingold
«Deutsche
Aphoristik der Gegenwart». Eine aktuelle Bestandsaufnahme, herausgegeben von
Friedemann Spicker und Jürgen Wilbert. Edition Virgines, Düsseldorf 2023. 398
Seiten. 25,00 Euro.
Als Text ist
der Aphorismus ein ambivalentes Unding – der Form nach oszilliert er zwischen
Prosa und Poesie, seinem Anspruch und seiner Aussage nach ist er ein Genre
sowohl literarischer wie auch philosophischer Rede. Aphoristik behauptet sich
durchwegs als Formkunst, nutzt konsequent die unterschiedlichsten dichterischen
und rhetorischen Verfahren, hat stets die Ambition, eine wie immer geartete
«Wahrheit» auf den Punkt zu bringen, heißt – sie in prägnanter Kürze
festzuhalten.
Tatsache ist, dass der Aphorismus weder
philosophisch noch literarisch als jeweils eigenständige Textgattung aufgefasst
wird: Bald gilt er als literarisches Philosophem, bald als philosophisches
Bonmot, und so oder anders bleibt er suspekt. In Lyrikanthologien, bei
Lyrikfestivals und bei Lyrikwettbewerben hat er keinen Platz, so wie er auch
bei der Lyrikkritik keinerlei Interesse findet. Unvorstellbar, dass ein
Aphoristiker den Büchner- oder irgendeinen Buchpreis zugesprochen erhielte,
unvorstellbar ebenso, dass bei einer professionellen philosophischen
Veranstaltung statt Referaten aphoristische Texte vorgetragen würden. Doch
beides wäre durchaus wünschenswert und ließe sich auch sachlich rechtfertigen.
Dem unklaren Status und der
zurückhaltenden Rezeption aller Aphoristik zum Trotz ist aphoristisches
Schreiben nach wie vor beliebt und weit verbreitet. Im Internet finden sich
dafür beliebig viele Belege. Aphorismen sind zu Tausenden abrufbar, teils von
privaten Websites, teils von einschlägigen Vereinen und Sammelstellen. Dazu kommen
zahlreiche Publikationen in Buchform, mehrheitlich aus Selbst- und
Kleinstverlagen. Im Literaturbetrieb hinterlässt diese Produktion allerdings so
gut wie keine Spuren – Aphorismen werden kaum je rezensiert und schon gar nicht
mit Preisen gewürdigt.
Dem könnte und sollte man entgegenhalten,
dass der Aphorismus heute, da permanent die Zeit drängt und die
Aufmerksamkeitsspanne abnimmt, doch eigentlich die adäquateste Textform ist:
Rasch zu lesen, meist problemlos verständlich und dennoch Stoff bietend zu
eigener Reflexion und Nachdenklichkeit. Aber bekanntlich sind die Bestseller-
wie die Bestenlisten weithin dominiert von großspuriger Belletristik.
•
Wenn nun seit
kurzem ein Sammelwerk zeitgenössischer deutschsprachiger Aphoristik vorliegt,
das auf 396 Seiten Texte von 68 Autoren und drei Autorinnen als «aktuelle
Bestandsaufnahme» präsentiert, bietet dies die willkommene Gelegenheit, das
Verfahren und den Ertrag heutigen aphoristischen Schreibens in gebotener Kürze
kritisch zu sichten.
Jeder Beitragende ist mit durchschnittlich
zwanzig Originaltexten und einem knappen Statement zu seiner Arbeit am
Aphorismus vertreten. Auffallend ist die äußerst schwache Vertretung weiblicher
und jugendlicher Autoren – lediglich ein halbes Dutzend der Beiträger ist nach
1980, die überwiegende Mehrheit in den 1940er und 1950er Jahren geboren.
Auffallend auch, dass die meisten Aphoristiker in akademischen Berufen
engagiert sind (Universität, Bibliothek, Jurisprudenz, Publizistik), derweil
nur ganz wenige als freie Autoren firmieren.
Daraus ist wohl
generell zu schliessen, dass der Aphorismus bei der jungen und jüngsten
Generation kein Interesse mehr findet, weil er als elitäre, mithin als obsolote
Denk- und Kunstform wahrgenommen wird.
Sicherlich ist die Aphoristik kein
populäres, bloss unterhaltsames Genre «schöner Literatur» und kurzweiliger
«Lebenshilfe» – mit ihren zahlreichen mythologischen und literarischen
Anspielungen, ihren philosophischen und sprach-spielerischen Finten, die
allesamt auf eine als Pointe zugespitzte «Wahrheit» hinauslaufen, stellt sie
verhältnismäßig hohe intel-lektuelle Anforderungen. Abschreckend braucht sie
deshalb jedoch nicht zu sein. Der vielberufene (freilich im Schwinden
begriffene) «gesunde Menschenverstand» genügt in den meisten Fällen für die
Erfassung des aphoristischen Einfalls, der im Übrigen immer auch als ein
Ausfall intendiert ist. Zudem gibt es nebst hochkarätigen auch banale
Aphorismen, die sich von kommunen Redensarten oder von Werbesprüchen kaum
unterscheiden und die ebenso problemlos zu verstehen sind wie diese.
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Der Aphorismus präsentiert sich in aller Regel als feststellende und behauptende Rede von allgemeiner Geltung. Am häufigsten treten deshalb «man», «es», «wir», allenfalls «du» in der Subjektstellung auf, während «ich» als Erste Person nur ausnahmsweise zum Zug kommt: Der Aphoristiker tut nicht seine Meinung kund, er konstatiert Sachverhalte und spricht Wahrheiten aus, die für jedermann verbindlich sein sollen, weshalb sie denn auch häufig als Imperative vorgetragen werden oder den Charakter von Diktaten annehmen.
Althergebrachte Themen und Probleme
zwischen Gott und Welt, Natur und Kultur haben in der Aphoristik seit jeher
Vorrang vor der Tagesaktualität und privaten Fragen. Aphoristische Texte
gewinnen daraus eine Autorität, die über ihre Autoren weit hinausreicht – so
etwas wie Gesetzeskraft, die ja auch nicht auf einen Autor, eine Autorin
zurückgeht, die vielmehr, als solche, Autorität begründet und hochhält.
Das heisst: Nicht der Verfasser, sondern
der Aphorismus selbst steht für die «Wahrheit», die er zum Ausdruck bringt, und
er bewerkstelligt dies allein mit sprachlichen Mitteln – mit Wortspielen und
rhetorischen Figuren. Alle Aphoristik ist selbstredend, zumindest lässt
sie die Sprache als solche mitreden, indem sie grammatische und
syntaktische Strukturbildungen ebenso wie vorgegebene Redewendungen oder
Assonanzen in ihrer Eigenart und Eigendynamik bestehen lässt. Das Sprachspiel
geht der Gedankenfügung voraus, bedingt und bestimmt sie so weitgehend, dass der
Aphoristiker als Autor seine Werkherrschaft verliert und sich mit der Funktion
eines Arrangeurs begnügen muss: Der gelungene Aphorismus ist nicht erfunden, er
wird gefunden, in die gewünschte minimalistische Form gebracht und auf die
gewollte Aussage zugespitzt.
In keiner andern Textsorte ist die Aussage
(der «Inhalt») so klar als Produkt der Sprachform zu erkennen wie in der
Aphoristik. Man lese und merke (beispielshalber): «Gewissheit: Das gute
Gewissen des schlechten Denkens.» – «Cogito ergo sum? Selfie ergo sum!» –
«Erobern die Lauten die Lufthoheit, beginnt für die Leisen der Untergrund.» –
«Wer lästert, wird seine Last nicht los.» – «Er war ein Tor, aber man konnte
hindurchgehen.» – «Der Augen Blick zueigt, was im Augenblick möglich ist.» –
«Sinn. Sonne. Besinnen. Besonnen.»
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Hunderte von
Aphorismen (lauter Einzelwerke!) gibt der vorliegende Band zu lesen und zu
bedenken. Bei allzu vielen davon handelt es sich allerdings lediglich um
formschwache Sprüche, die über Binsenweisheiten nicht hinausgelangen. Der
sprachlich und gedanklich gleichermaßen präzise ausgeformte Aphorismus, der
nicht auf beliebige Weisheiten, sondern auf diese oder jene (vielleicht
unbequeme, vielleicht provokante, vielleicht gar absurde) «Wahrheit» angelegt
ist, bleibt hier die Ausnahme.
Der Besprechung, der Erklärung, der Kritik
bleibt die Aphoristik weitgehend entzogen. Entweder funktioniert sie und
erbringt einen jäh erhellenden Aha!-Effekt, oder sie läuft leer, weil sie
lehrt, was man längst erfahren und begriffen hat; etwa dies: «Wenn Menschen
zusammenkommen, gehen die Meinungen auseinander.» – «Immer muss man dankbar
sein, dass es nicht noch schlimmer ist.» – «Wer nicht unanständig sein will,
muss selbstlos bleiben.» – «Manche Kerze, die nicht zu den hellsten auf der
Torte gehört, brennt dafür länger.» – «Erwartungen sind die K.O.-Tropfen des
Lebens.» – «Auch Vögel hinterlassen Fußspuren.» Et cetera ad libitum.
Demgegenüber bleiben starke Aphorismen in
diesem Kontext die rare Ausnahme. Das sollte nicht verwundern – hohe Qualität
ist nun mal in der aktuellen Literaturproduktion eine Ausnahmeerscheinung:
Jedes Lyrikjahrbuch, jede Lyrikanthologie bestätigt den Sachverhalt. Dass und
wie aphoristische Rede dennoch gelingen kann, lässt sich anhand der jüngsten
«Bestandsaufnahme» durchaus auch belegen; hier ein paar wenige Beispiele
dafür: «Der Abgrund, der dich von der Wahrheit trennt, ist sie selbst.» – «In
der Fremdheit des Körpers überleben. Er ist mein Exil.» – «Es muss etwas
fehlen, damit das Leben einen Sinn hat.» – «Das Schweigen hört auf, wenn du es
nicht brichst.» – «Ein Wort, das niemals wahr gewesen ist, noch jemals wahr
sein wird, ist keines.» – «Der kategorische Konjunktiv: Das wäre eine
Wirklichkeit unter soviel Möglichkeiten.» – «Aphorismus: Denn man kann beim Schreiben
nicht alles weglassen.» – Das passende Schlusswort.