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"Flüstergalerie" - Buchpräsentation

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Dämonenwahl in der Juristischen Bibliothek



Ludwig Steinherr präsentierte am Mittwoch, 20. November, seinen neuen Gedichtband „Flüstergalerie“, erschienen bei Allitera/Lyrikedition 2000, in der Juristischen Bibliothek München. Der Titel seines neuen Bandes Flüstergalerie – den er übrigens nicht erfunden hat, sondern der ein feststehender Begriff ist für einen Ort, an dem man auch Geflüstertes hört und über größere Distanz in normaler Lautstärke miteinander sprechen kann – passt ausgezeichnet zur Architektur des Lesesaals im floralen Jugendstil.


Das Zimmer 366 ist ein ganz spezieller Raum. Golden schimmernde Balustraden auf zwei Stockwerken, blütenförmige Lampen, eine gewundene Wendeltreppe; alles erstrahlt zusammen mit dem vielen Holz in dunkel anmutendem, gediegenem Gold. Der Raum schafft eine ehrfurchterweckende und doch heimelige Atmosphäre. Die Leiterin der Bibliothek, Frau Christa Waltenberg, erläuterte in ihrer kurzen Einführung die Geschichte der Juristischen Bibliothek, 1906 in eine Präsenzbibliothek umgewandelt, war sie eine der Keimzellen der Münchner Stadtbibliothek. Der stimmungsvolle Raum, in dem tagsüber arbeitsame Stille herrscht, hat zugängliche Arbeitszeiten. Fotografieren ist dort normalerweise nicht gestattet.

Zu Steinherrs gut besuchter Lesung wurden anfangs schubkarrenweise Stühle hineingeschafft, immer noch kamen weitere Zuhörer. „Von hohem Niveau“ seien Steinherrs Gedichte, zugleich „anspruchsvoll“ und „zugänglich“, stellte Verleger Alexander Strathern seiner Rede vornean und betonte im Weiteren, das allerneuestes Werk sei gar nicht die „Flüstergalerie“, sondern der von Paul-Henri Campbell ins Englische übertragene Band „Ganz Ohr“ (2012), mit dem Titel „All Ears“.

Ludwig Steinherr erwähnte anfangs Gottfried Benn, der sagte, Gedichte würden „gemacht“. Steinherr „fände“ sie eher. So heißt auch das erste Gedicht des vorgestellten Bandes


GEDICHTE FINDEN

Wie in dem Film
wo eine Frau an den verrücktesten Orten
Spielkarten entdeckt –

von einer Metrostation
zwischen Steinen an der Meeresküste –

(…)

ich weiß nur ich bin süchtig
immer neue zu finden –

Ob das nun ein Scherz ist
oder eine Liebeserklärung
oder eine Schnitzeljagd
schnurstracks
in den Hades

Steinherrs Gedichte kreisen in vielfältigen Anspielungen um Begebenheiten und Mysterienerlebnisse, häufig mit Bezug auf die Antike. Zum Beispiel um die eigene Dämonenwahl vor der Geburt oder um die Förderung des inneren Lichts.
In seiner ca. 45-minütigen Lesung trug er Gedichte aus seinem Band und zwischen den Gedichten kurzweilige Erläuterungen und kleine Anekdoten vor. Auch die ihm wichtige Sehnsucht nach der Sehnsucht (desiderium desiderii), das Phänomen der Hyperakusis und der Epiphanie wurden thematisiert. So habe der erst geplante Titel Mysterienspiel des Bandes vor allem seiner Tochter Rafaela nicht gefallen. Sie wünschte sich etwas mit einer Schildkröte.


PHYSIK

Andererseits, sagt der Rabbi:

Wir haben eine Schildkröte
sie rührt sich fast nicht
sieht aus wie ein Stein -

Aber wenn wir einen Augenblick
nicht hinschaun
ist sie plötzlich
am anderen Ende des Gartens -

Und dabei wissen wir noch gar nichts
von ihren Träumen


Foto: Wolfgang Reinicke


Steinherr beschloss den Abend mit einer neuen Version der schon im letzten Band (Ganz Ohr, 2012) enthaltenen Aphorismen „Glückskekse & Knallbonbons“, diesmal als „Zweiter Karton“.

Hier bedient Sie Frau Pythia!
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Angebot des Tages: Wer heute dem Teufel seine Seele verkauft, bekommt einen Pflaumenschnaps gratis!
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Die nächste Runde Selbsterkenntnis geht aufs Haus!

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Armin Steigenberger/KK


Siehe auch Dirk Uwe Hansens Rezension der „Flüstergalerie“.


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