(Dr. Aftab Husain:) Der Blickwechsel: Der Wechselblick
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Astrid Nischkauer
(Dr. Aftab Husain:) Der Blickwechsel: Der Wechselblick. Wiens Migrationsliteratur sieht Wien. Wien (Worte & Welten) 2021. 88 Seiten. 15,00 Euro.
Der Blickwechsel: Der Wechselblick
Im Vorwort zu Der Blickwechsel: Der Wechselblick schreibt der Herausgeber Dr. Aftab Husain:
Diese Anthologie ist eine Liebeserklärung und ein Zeichen der Dankbarkeit gegenüber Wien.Bei Exil oder Migration geht es nicht nur um die zurückgelassenen Orte und die Nostalgie, die durch die Vergangenheit hervorgerufen wurden. Die Erfahrung besteht auch darin, sich umzusehen und nach vorne zu schauen.
In Aftab Husains (Pakistan/Österreich) Gedichten, die den Anfang machen, wecken der Huf-schlag eines vorbeifahrenden Fiakers und der Geschmack von Mangos Erinnerungen, während das Hier und Jetzt die Unsicherheit in einer neuen Sprachumgebung ausmacht:
Steckengeblieben irgendwoin der Taubstummengasseim Hier und Jetztfindet er in seinem Mundeinen Kaugummidas schmeckt nach Unsicherheit
In einem anderen Gedicht von Aftab Husain, das von Helmuth A. Niederle aus dem Englischen übersetzt wurde, geht es um das Ringen, sich verständlich zu machen in einem anderen Land, einer fremden Sprache und ungewohnten Art zu sprechen. In dem Gedicht wird das Ich nicht gehört und verstanden, da es nur laut sprechen, nicht aber laut flüstern kann, was hier von ihm verlangt werde. Mit den Gedichten beginnen wir zu erahnen, was es für einen mit und in Sprache lebenden Dichter bedeuten muss, sich in einer anderen Sprachumgebung wiederzufinden, in der man sich des eigenen Mediums, der Sprache, nicht mehr bzw. noch nicht sicher ist.
Andreas Sucharski (Österreich/Polen) beschreibt in seiner „ODE AN WIEN“ die Stadt voll Dankbarkeit als große Inspirationsquelle. Liest man seine Worte, geht man, auch als in Wien Geborene, mit anderem Blick durch die Straßen dieser Stadt.
Lyrik und Musik vereinen sich zu einer majestätischen Atmosphäre, welche diese Stadt umhüllt.Freiheit und Fantasie verschmelzen zu einem orgiastischen Spiel der Magie.Der Duft der Kreativität strömt aus jedem Winkel, sodass dieser Odor der Poesie ganz Wien erfüllt.Ich wandere durch diese Stadt und die Gegenwart alter Gebäude entflammt mein Dichterherz/Kinderherz und weckt in mir eine schöpferische Manie.
Wie schon der Titel Der Blickwechsel: Der Wechselblick deutlich macht, geht es in der Anthologie darum, das Vertraute mit anderen Augen sehen zu lernen und dabei die Perspektive der anderen, also in diesem Fall von Menschen mit Migrationserfahrung, besser kennen und verstehen zu lernen. Denn für ein gutes Miteinander ist es notwendig, einander zuzuhören und entgegen zu gehen. Dies wird auch in der Erzählung „DIE NACHBARN“ von Anton Marku (Kosovo/Österreich) vermittelt, in der beschrieben wird, wie aus einer Situation heraus, die ebenso gut zu einem Nachbarschaftsstreit führen könnte, stattdessen Versöhnung und Freundschaft geschlossen wird.
- Guten Abend! Es ist spät undich kam nur um Sie zu warnen… für …- Ich weiß, ich weiß … für denLärm. Aber kommen Sie bitteherein, und ich werde allesklären. Ich bestehe darauf!Lassen Sie mich das tun!
Boško Tomašević (Bulgarien/Österreich)
beginnt seinen Beitrag damit, daran zu erinnern, dass Wien nicht nur
Zufluchtsort war und ist, sondern unter dem Nationalsozialismus auch Ausgangs-punkt
für Fluchtbewegungen war:

Wien. Berggasse. Von dort musste man eines Morgengrauensfortgehen. Das Couch-Purgatorium verlassen. Europa schautestumm zu. Zürich, London, die Städte des amerikanischenKontinents.
Hamed Abboud (Syrien/Österreich) findet in seiner Erzählung „WAS WIRKLICH AUS DEN ZUGVÖGELN WURDE“ in Tauben eine Metapher für sein eigenes Schicksal und erzählt davon, wie schwer es für ihn nach zwei Jahren im Burgenland war, in der anonymen Großstadt Wien Ansprache zu finden. Sein Text wurde von Larissa Bender aus dem Arabischen übersetzt.
Und unabhängig davon, ob wir etwas Greifbares im Gepäck hatten, das glänzte oder Interesse hervorrief, oder ob wir mit unseren Flügeln schlugen, unter denen sich nichts verbarg als Spuren unseres früheren Lebens, so brachten wir doch alle unsere Identität mit. Und diese Identität fügt jedem Viertel in dieser großen Stadt einen neuen, besonderen Glanz hinzu.
Ishraga Mustafa Hamid (Sudan/Österreich) steuert mit „WIEN, DATTELPALME DER SEHNSUCHT UND DES SCHREIBENS“ ein Kapitel ihrer ebenso persönlichen wie bewegen-den Biographie „Die Schwarze Wienerin“ bei. Darin schreibt sie über die Hoffnungen, die sie in ihr Schreiben setzt, einem Schreiben, das von Sehnsucht, Schmerz und Leidenschaft erfüllt ist. In einer sehr poetischen Sprache erklärt sie, wie ihr das Schreiben Halt gibt und Zufluchtsort ist. Und sie schreibt von ihrer Beziehung zu Wien, das eng mit ihrem Schreiben verknüpft ist:
Ich schreibe mit den entfernten Sternen.Ich schreibe, um das Leben zu ertragen.[…] Wien ist ein Stück Paradies, so hörte ich leidenschaftlich die ägyptische Sängerin Asmahan.Paradiese gibt es nicht auf Erden, aber es gibt Wien, die Dattelpalme meiner Sehnsucht und meines Schreibens.
Jadranka Klabučar Gros (Österreich/Kroatien) beobachtet in ihren Gedichten die Stadt Wien im Wechsel der Jahreszeiten:
Beim ersten Windstoßwird das Laubim Gras Walzer tanzen.
Jelena Semjonowa-Herzog (Belarus/Österreich) entführt uns in das nächtliche Wien ihrer Traumwelt und begegnet der Stadt dabei fast wie einem Menschen:
Ich spüre, wie diese Stadt atmet,ich sehe, diese Stadt – sie ist lebendig.Und jeden Abend treffe ich mich neu mit ihr,der von Mondsilber Überfluteten,als würde ich zu den Ursprüngen zurückkehren.Aber was weiter, was danach?
Margarita Valdivia (Mexico/Österreich) beschreibt das Leben in einem anderen Land und einer anderen Sprache trotz vorübergehender „Zweifel/zwischen den Wörtern“ und der Melancholie „[i]n jedem Schritt“ doch vorwiegend positiv. Sie bezeichnet die Migrationserfahrung als Abenteuer und als eine Möglichkeit, sich selbst in anderen Farben neu zu erfinden:
Diese sanfte Gewissheithier verloren und trotzdemneu erfunden zu sein,diese Kenntnisist der Geschmackeiner exotischen Frucht,ist eine neue Landschaft,ein Horizont bewohntvon neuen Farben.
Mark Klenk (USA/Österreich) stellt in seinen beiden Gedichten dem einsamen Wien das stimmungsvolle Wien gegenüber, wobei beide wie zwei Seiten einer Medaille zusammen zu gehören scheinen:
Wie stimmungsvoll,ja, wie stimmungsvollist Wien in all seinen Facetten!
In Marzanna Daneks (Polen/Österreich) Text „… WIEN, WIEN NUR DU ALLEIN… WIEN, WIEN NUR DU ALLEIN …“, übersetzt von Silvia Gelbmann, führt eine Enkelin ein Gespräch mit dem toten Großvater, in welchem die Familiengeschichte aufgerollt wird. Hier ist die Migration von Krakau nach Wien, über Generationen hinweg betrachtet, eine Rückkehr. Die Enkelin fühlte eine Verpflichtung, das ungeschriebenen Testament des Großvaters zu erfüllen und in die Stadt aufzubrechen, nach der er sich immer zurückgesehnt hatte. Obwohl oder gerade weil viel Ernstes thematisiert wird, geschieht das mit viel schwarzem Humor und in vollem Bewusstsein der Skurrilität der Setzung:
Ärgere Dich doch nicht. Erinnerst Du Dich, als Du Dich das letzte Mal so geärgert hast, bist Du an einem Herzinfarkt gestorben … Was? Was ich aus meinem Leben gemacht habe? Fängst Du wieder an mich zu sekkieren? Gerade mich? Opa, nun hör doch auf … Schwer zu sagen …
Mitra Shahmoradi (Iran/Östereich) erzählt in „WIEN – BLEIBEN UND GEHEN“ von einer Frau, die Wien erstmals als junge Frau mit ihrer Schwester als Touristin besucht hatte, ohne zu ahnen, dass sie selbst schon bald darauf wiederkehren würde um hier zu leben. Sie erinnert sich am Beginn der Pandemie 2020 zurück an das Wien von damals und wie sie selbst und die Stadt sich in den 40 Jahren, die sie nun schon hier lebt, verändert haben. Auch wenn für sie Wien inzwischen zur Heimat geworden ist, schreibt sie Briefe „nach Hause“, was die durch die Exilerfahrung hervorgerufene innere Zerrissenheit sehr anschaulich vor Augen führt:
Was ist aus Wien geworden? Wien war damals vor vierzig Jahren anders als heute. In Wien war damals nicht viel los. Es war sehr grau mit vielen alten Gebäuden, noch einige kaputte Mauern vom Zweiten Weltkrieg, mit vielen alten Menschen und relativ einfachem Leben. […] Sie will wissen, was aus dem Iran geworden ist. Sie ist sehr viele Jahre nicht mehr in der Heimat gewesen. Mit all ihren Sehnsüchten und ihrem Heimweh ist sie in Wien geblieben. Wien ist zu ihrer Heimat geworden. Sie hat manchmal das Café Museum und auch andere Caféhäuser in Wien besucht und dort Briefe nach Hause geschrieben.
Nahid Bagheri-Goldschmied (Iran/Österreich) zeigt sich in ihren Gedichten „gequält von den abgebrochenen/Brücken hinter mir“ und „[n]och immer mit Vorbehalt/gegen dieses Fluchtland“. Vor die Wahl dreier farblich markierter Wege gestellt, möchte das Ich ihrer Gedichte sich für keinen davon entscheiden, sondern sucht nach einer versöhnlicheren Lösung:
Sag, gibt es keinen Wegder Farben- Eintracht, des Zusammenwirkenswie in einem Regenbogen?
Nathalie Rouanet (Frankreich/Österreich) erzählt in ihrem Romanauszug „VON HONIG UND ABSINTH“, wie Wien für eine französische Migrantin mit den Jahren langsam von einer abstoßenden zu einer geliebten Stadt wird. Dieser Wandel wird eingeleitet von der legendär gewordenen Aufführung von Thomas Bernhards Stück „Heldenplatz“ am Wiener Burgtheater, in der Inszenierung von Claus Peymann:
Nach vier Stunden fiel der Vorhang. Ein magischer Moment für Léna, als das Licht im rotgoldenen Saal wieder anging und die übrigen Zuschauer zu klatschen begannen, in einem langen Beifall für den Mut, Wien als eine geist- und kulturlose Kloake geschildert zu haben, die in ganz Europa ihren penetranten Gestank verbreitet. Léna fühlte sich nicht mehr allein. Vielleicht ändern sich die Dinge noch.
Sarita Jenamani (Indien/Österreich) schreibt in ihren Gedichten, übersetzt von Helmuth A. Niederle und Utta Roy-Seifert, über Stille, Einsamkeit und Vergänglichkeit, über den Friedhof Sankt Marx, Wiener Kaffeehäuser, den Winter in Wien, sowie über den ersten Regen in Wien:
Und irgendwo tief untenschlägt das Verlorensein Wurzeln
Şerafettin Yıldız (Türkei/Österreich) findet sich „Nord-östlich von einer Kaffeetasse“ wieder um dann in seinem Listengedicht „WIEN“ eine Inventur über sein Leben in Wien zu machen:
Mein neues AlphabetIn dem ich mich ins Reine schreibeDas uferlose Morgen,Das mein Herz behaustMeine Boheme-NiemandslosigkeitMeine neue DialektikDie Suche,In der ich mich zum Brüten setze
Den Abschluss macht Victor Klykov (Russland/Österreich). Mit seinen Gedichten springt er gleich einmal voll Elan in den Frühling in Wien, um „den endlosen Winter Russlands“ zu vergessen, versetzt den empörten Puschkin kurzerhand nach Oberlaa und beschreibt den Sonnenaufgang über Wien als magisch-fantastischen Flug des Feuervogels:
Was der Tag uns wohl bringen mag?Plötzlich ändert der Feuervogelseine rote Farbe in rosa…Und danachbeginnt er sich ganz zu verändern,zu schmelzen und gar zu verschwinden.
Die Anthologie zeigt mit all ihren Beiträgen sehr eindrücklich, dass Exil und Migration von jedem und jeder anders empfunden und verarbeitet werden, und daher auch jede einzelne Stimme Wichtiges beizutragen hat und Gehör verdient. Lässt man sich auf den Band ein, wird man von einem Prisma der Vielfalt und Vielstimmigkeit in Staunen versetzt und von nun an anders durch Wien gehen: vielleicht zwar nicht im Wechselschritt, doch mit neuem, frischen Wechselblick.
Auch macht der Band, wie jede gelungene Anthologie, neugierig auf eigenständige literarische Werke der vorgestellten Autorinnen und Autoren, da man vielleicht von dem einen oder der anderen schon etwas gelesen oder gehört hat, vermutlich aber noch nicht von allen. Damit ist es ein in vielerlei Hinsichten empfehlenswertes und anregendes Buch, dem es gelingt, neue Perspektiven aufzuzeigen und neue Denkanstöße zu geben. Und nicht zuletzt setzen sich alle Beteiligten mit dem Buch und ihren Beiträgen vermittelnd und brückenschlagend mit ungeheurer Menschenliebe für ein besseres Miteinander ein.
Bei Interesse kann man das Buch direkt beim Verein Worte & Welten bestellen:
https://www.wordsandworldsmagazine.com/