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(Aron Koban, Annett Groh:) denkzettelareale

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Armin Steigenberger

(Aron Koban, Annett Groh:) denkzettelareale. junge lyrik. Leipzig (Verlag Reinecke & Voß) 2020. 432 Seiten. 24,00 Euro.

Multiverse im Multiversum


Allein die Idee ist hochspannend: Man versammle gut 40 Autor*innen mit ihren Gedichten, eingeführt von jeweils einer anderen Stimme, um anschließend den intensiven Äußerungen und Selbstdeutungen der Dichter*innen selbst zu lauschen.
  Dieses Frühjahr ist mit über 400 Seiten ein Buch namens denkzettelareale bei Reinecke & Voß erschienen, herausgegeben von Aron Koban und Annett Groh. Das ganz Besondere an diesem Band, der nahezu lexikondick daherkommt und neben seinen speziellen Poetikparts – die zwischen 2009 und 2018 allesamt als Lagebesprechung(en) im Ostragehege erschienen waren – natürlich auch eine Anthologie darstellt, ist die Tatsache, dass Gedichte von 43 Lyriker*innen von den stets wertschätzenden Kommentaren sowie den Äußerungen und Gedanken anderer Dichtender umrahmt werden: Man könnte auch sagen, von den Denkzetteln der Autor*innen selbst. „Es wurden zwölf¹ KritikerInnen, und DichterInnen gebeten, jeweils vier AutorInnen vorzustellen. JedeR konnte dabei ohne Vorgabe eigenen Obsessionen folgen, denn einem Anspruch auf Vollständigkeit oder Repräsentativität mussten sie somit nicht gerecht werden. Wer sich über den Stand der deutschen Gegenwartspoetik und deren Entwicklungen innerhalb des letzten Jahrzehnts informieren möchte, findet hier eine facettenreiche Materialgrundlage“, ist auf der Verlagswebsite zu lesen.

What a mindblasting multiverse (SIC!) – war das erste, was ich in einer Art Kinderenglisch so vor mich hingedacht habe, als ich dieses Buch aufschlug – also ein ganzer Strauß Multiverse im Multiversum – und mir wurde sogleich fast schwindlig von einer geradezu galaktischen Vielzahl an Dichtungen und poetologischen O-Tönen. Der graue Einband mit den getürmten Pflaster-steinen, auf denen sich Florales abzeichnet, täuscht hier ein wenig über dieses schillernde, vielfarbige und abwechslungsreiche Buch hinweg. Und nach kurzem ungeduldigem Blättern hatte ich schon den ersten Eindruck gewonnen, nämlich den, dass sehr offensichtlich alle Lyriker*innen (sowie die sie Einführenden bzw. Besprechenden) ganz in ihren eigenen Universen leben. Die Vorbesprechungen und nachfolgenden Poetiken bieten dennoch Navigationshilfen an; manchmal wirken sie auch wie weit entfernte Laternen oder Leuchttürme, wo einem klar wird, wie weit Autor*in und Rezipient*in auseinanderliegen. Und doch ist gerade das hochinteressant. Es reizt mich sehr, zu erfahren, was andere Autor*innen denken, wie sie an Texte herangehen, wie sie ihre eigenen Texte empfinden. In der Regel ist das sehr aufschlussreich. Für mich persönlich gibt es auch Fälle, wo es so subjektiv wird, dass mir das Bild – statt es schlüssiger und präziser zu machen – eher verundeutlicht wird, also mehr Fragen aufgeworfen als Antworten geliefert werden. Es passt eben nie alles für jeden. Die Ausnahme bestätigt die Regel und die meisten Aufsätze – von denen manche schon älteren Datums zu sein scheinen – gelingen: sie erhellen und beleuchten mir die Situation des Dichtens. Aber auch das, was mir unverständlich bleibt, zeigt ja nur, wie weit und reich Dichtung und alles dazugehörige Denken sein kann; nicht alles muss sich, kann sich mir erschließen. Und das ist vielleicht die wichtige Erkenntnis aus der Lektüre dieser reichhaltigen Auswahl.

Was zunächst verblüfft, ist, dass – wenn man einfach mal frisch und frei mitten hineinblättert –, es schon wesentlich heterogener ist als erwartet, denn es gibt da tatsächlich solche und solche und solche Gedichte. Es gibt lange und kurze Einlassungen, Besprechungen, Kommentare, die irgendwie ungezügelt ins Kraut wuchern durften, ohne gleich von den Herausgeber*innen – wie es andernorts manchmal erscheint – in einer Form von Vereinheitlichungsbefleißigung zu uniformiertem Look heruntergestutzt worden zu sein. Was, genauer besehen, gerade bei den so verschiedenartigen Poetiken auch gar nicht wirklich geht. Hier ist genau das mit Fleiß nicht passiert; was mir äußerst sympathisch ist.

Dieser Band „ist keine Blütenlese mit Anspruch auf Repräsentativität²“, eher etwas für Leser*innen, die eine Auseinandersetzung suchen mit der Frage, wie zeitgenössische Dichtung entsteht, was in den Autor*innen vor sich geht, was denn eigentlich am Nukleus einer Gedicht„produktion“ passiert. Es ist ein Band, wo manche Lesenden unter Umständen recht schnell die Ohren anlegen: Ob dieser Hochverdichtung, die umso massiver wirkt, je mehr man registriert, dass sie auf über 400 Seiten hin angelegt ist. Darüber kann man sehr unterschiedlicher Auffassung sein. Die denkzettelareale sind ein kerzengerades Buch für Lyrikkenner*innen und solche, die es werden wollen. Das Buch verhandelt keine Phrasen und schnelle Ober-flächlichkeiten, sondern lässt sich Zeit und geht in die Tiefe. Das Buch bedeutet somit Arbeit für seine Leser*innen – denn es könnte einige der mitunter felsenfest gefügten Standpunkte über Lyrik möglicherweise erschüttern, und gerade zu einem (heiklen und komplizierten?) Gegenstand wie zeitgenössische Lyrik – zu dem man aber doch die eigenen einfachen Antworten schon längst gefunden hatte? Aber das, genau das ist doch der Zweck der Literatur. Oder nicht?

Die Aufsätze in den denkzettelaleralen sind eigen, kühn und subjektiv, die veritabel geschilderten Erlebnisse mit Dichtung und Poetik, der anderen und der eigenen, sehr authentisch. „Zeitgenössische Lyrik gilt als etwas Randständig-Hermetisches, als ein schwer verständliches Nischen-Genre, für das lediglich eine kleine Zahl von Szene-Enthusiasten oder Dichterkollegen zu gewinnen sei“, schreiben die Herausgebenden in ihrem Vorwort. Mir persönlich sagt und gibt dieses Buch sehr viel. Denn immer da, wo Gedichte aufhören, mir etwas direkt zu sagen, wo sie sich zurecht in ihre Geheimnisse ab- und einrollen (und eigentlich wäre das vollkommen genug!), kann es passieren, dass ich als Poesierezipient*in trotzdem noch ein kleines Stück weit(er) hinter schauen möchte, hinter die Kulisse(n), in den Flitter-Filter dahinter; und dass ich, vor allem als Poet*in, wissen möchte, was denn da nun passiert, was genau geschehen ist, wie das gemacht wurde, warum es genauso geworden und was dabei abgelaufen ist. Wer diese Neugierde ebenfalls hegt, kommt hier vollends auf die Kosten. Und erfährt, in den Worten der Besprechenden und der Dichtenden selbst, wie die Dichtungen vom „Erzeuger“ gedacht waren. Auch wenn das bekannte und wohlstrapazierte „Was wollte uns der (!) Dichter damit sagen“, ein Unding ist³– aber darum geht es nicht, sondern um viel feinsinnigere, empfindsamere Versuche, die Atmosphären, das Atmosphärische der eigenen (un)bewussten Poetik mitsamt all ihren Sublimitäten einmal zu skizzieren – und das zumeist weniger bekenntnishaft als vielmehr das eigene Sensorium (und das der vorgestellten Autor*innen) erforschend und ertastend. Es sind Versuche, Erforschungen, Aufschlüsse, Befunde und Erkundungen, die den Raum umreißen, das Denkzettelareal, in dem sich das jeweils dichtende Subjekt befindet. Die Fein-Bilder in den Stimmungslagen liefern vielleicht eine Art unbeabsichtigtes psychosoziales Artefakt, also die periphere, ephemere, vorübergehende, davonfliehende Konstellation im Kopf zeichnet sich flüchtig in Moment-aufnahmen als „fein geschichtete Signale“ (Nico Bleutge) ab. Und das geschieht hier eben nicht prätentiös im protzigen Wechselspiel aus Zurückhalten und Preisgeben von Rezepten, sondern mittels minutiös abgewogener, facettenreicher, möglichst exakter Deskription der eigenen Selbsterkundung, indem „sie sich zu den je eigenen Herangehensweisen, Schreibhaltungen und Schreibstrategien äußern.“Hierin wird deutlich, dass alle Fragen der subjektiven Ästhetik dem schreibenden Subjekt nur sehr rudimentär zugänglich und bewusst zu machen sind. Schreibende können im Akt des Schreibens nicht gleichzeitig empfindsame Messstationen des eigenen subjektiven Denkens und Empfindens sein.

Sehr klar und auch sehr treffend beschreibt Karin Fellner diesen Konflikt in ihrem Eingangssatz:

Für eine bestechende poetologische Einsicht in meine eigene Gedichtproduktion bräuchte ich die Überschau eines Aliens, das die nächsthöhere Dimension bewohnt. Aber ich bin nicht außerhalb meiner Sprache. Sprachfindung – wie findet die Sprache mich? – bleibt für mich ein von der Deskription nicht einzuholendes Phänomen, das ich nur behelfsmäßig mit Wortgirlanden schmücken könnte.

Navigationshilfen – einige Beispiele, um die Bandbreite zu verdeutlichen: Carl-Christian Elze deutet den dichterischen Impuls als ein Zeigenwollen und Erzeugen von Gefühlen, einen Verständigungswunsch, um sich letztlich mit der Welt verbundener zu fühlen. Texte als Orientierung im Gestrüpp, wenn irrlichtern nichts hilft, schweigen und singen auch nicht, lesen wir bei Kristin Schulz. Wer weiß schon, was er sagt, wenn er spricht? Ich nicht. Schüttgüter kommen ins Rutschen, wenn eine/r den Mund aufmacht, Zucker zum Beispiel, das Süßmäulchen kotzt. Oder spuckt. Oder wirft einfach aus. Wer weiß das schon. – fragt Kathrin Schmidt.
    Vielmehr haben wir es mit einer Art Medium zu tun, das diese Tastbewegung ermöglicht, mit einem „blauen Strahl“, der gleichermaßen an Motive mystischer oder romantischer Herkunft denken lässt wie an den Laserstrahl eines Players. Über Mischungen aus geographischen und biologischen Bildsplittern tastet sich der Strahl an Schichten entlang, schreibt Nico Bleutge zu den Gedichten von Philip Maroldt, während Michael Spyra konstatiert: Natürlich besteht eine Wechselwirkung zwischen Form, Inhalt und Sprache, aber es ist die Aufgabe der Dichterinnen und Dichter genau da einzugreifen. Bei Klopstock finden sich hierzu einige wichtige Gedanken und Erklärungen, auf die ich an dieser Stelle lediglich verweisen möchte. Das nur ein winziger Ausschnitt der insgesamt geäußerten Statements.

Die Dichtung selbst kommt ebenso vielgestaltig und abwechslungsreich daher. Die Bandbreite der Ausdrucks- und Darstellungsmittel, die Beschaffenheit der Sprache(n), die Positionen der Sprechakte, die expliziten Inhalte und die Findung geäußerter Gegenstände sind sehr unterschiedlich.


Niklas L. Niskate bringt u.a. Bildgedichte, Konkrete Poesie. Würde man die ganze Fülle der Poesien hier vorstellen wollen, käme man aus dem Zitieren nicht mehr heraus; deshalb hier nur sehr schnell und flüchtig einige markante Dichtungen herausgegriffen:

(…)
Mein All-Sein ohne, mein Ruf: Du. Die Steinresonanzen, mein
unerwiderter Loop: Du. Mein inhalierender Mund. Unterm Tuch, das, was
unter, das verblassende Uns, unser nur-noch, unser: War; das
Tuch, das ganz die Konturen tilgt, heiligt, mein O:
dein vokalisches Fehlen; mein flehendes O:
leerer Mond.
(…)
            
Mara Genschel, aus ihrem Zyklus „Neue Metaphern neunfach in den rachen der Liebe, wieder“, 2008. Mara Genschel wird eingeführt von Anja Ultler.

(…)
Stadtwatte nein Watte nicht
gröbere Schichten Ge-
Stöber der Sicht der Schichten
der sich das Gesicht und
die Sicht trübenden Körner?
Partikel? Körnchen? Gekörntes?
Was lullt mich hier ein nein nicht
lullt sondern stickt
(…)
Empfasün-verschiebung hârsch
diehsm heck- diesm hektier- dehm
heckta-tar Pfi-Pwirrsichtatar dhen Hektar-en
an Konvekt- con Komfekt kon ko-noch noch
k-nochım wa-wakkıln’n’zittan an-na ka-Kasse unn
schwitzan kain witz diese witzig Grad fi-
                             
Karat Viehber und alles muss hecktisch imm
Halts imm ha-Hals ma-main-Manndellpaar
pa-pariert nich part pas la enflure est-en
floeur é deux lards ki Lé-lézardent y ke arden
milli-milliarden ha-Hektar Konvent- Imbvent-ârien
Imbdumentariem main Pwrack

Léonce W. Lupette, eingeführt von Bertram Reinecke

Girlanden

Gemauerte Bündel Zitronen wechseln
uneinander austreibender Akanthus
im Bogen der weich geflochtenen Hüften
und wie Seen ohne Gewicht
Wind und Gold der Lorbeer stets
weiße Punkte Sellerie Blüten
Zopf aus Licht das Süßwasser geht
uns aus Kränze welche Stirnen
Kante Übergang Blöße Ruhe über den Pinienzapfen
winden um die offenben Granaten
Rot und Vergraben fällt ihr Schatten.
Nie mehr Dürre, in den Fresken

Tobias Roth, eingeführt von Bertram Reinecke

Ich lasse die Gedichte und ihre zugehörigen Poetiken bewusst unkommentiert, da es ja sonst gleich drei unterschiedliche Auslegungen gäbe. Nur so viel: Ich persönlich lese gerade in den Gedichten sehr viel Leichtes, Unbeschwertes und habe große Freude an diesem Band. Die poetologischen Erkundungen sind Nachrichten von der – wenn man es so vereinfacht sagen kann – eigenen Dichtungsbaustelle. Ich dachte beim Lesen über deskriptive Wörter nach wie Bauungen, Schichtungen, Türmungen. Und bestimmt sind für manche Leser*innen darin auch Nebelkerzen und Wortgirlandenvorhanden, doch auch diese geben ihre Einblicke und ermitteln spezielle Eindrücke und Einsichten.

In den denkzettelarealen bekommen, und das finde ich sehr schön, all jene Gedanken (und sonstige Denk-Zutaten, subjektive Stimmungen der Autor*innen, …) endlich einmal genügend Raum, die sonst gerne unter den Tisch fallen. Hier kann man sich unvoreingenommen der Poetik und/oder Poetologie im Einzelnen nähern und dabei buchstäblich in den Kopf der Dichterin und des Dichters hineinblicken. Um es in den so ganz selbstironischen Worten Christian Morgensterns zu sagen: hier wird jeder „exzösen Weltauffasserraumwortkindundkunstanschauung“der einzelnen Autor*innen in allen Worten Platz gelassen und prompt stattgegeben. Und obendrein fällt hier die Abstufung der poetologischen Gedanken zur (minder interessanten?) Sekundärliteratur weg, d.h. hier bekommen wir als intensive Lyrikkenner*innen endlich auch den Stoff, aus dem Gedichte gemacht sind, auf Augenhöhe mit denselben. (Ein Bonmot, das ich neulich gehört habe: Gedichte sind es, die zu Poetiken anregen–; letztere aber wären viel einfacher zu handhaben, wenn es erstere gar nicht gäbe.)
    Da etliche der vorgestellten Lyriker*innen mitsamt ihren Gedichten keine aktuellen Texte sind, sondern im Zeitraum der letzten 20 Jahre entstanden sind (Beispiel: Texte von Ron Winkler von 2001 u.a.), ergibt sich (wenigstens für mich) eine gewisse Rezeptionsverschiebung – Worte, Gedanken und Sprechweisen erfahren heutzutage wieder ganz andere Aufladungen – man denke dabei auch an jüngste Diskussionen über das Werk von Brinkmann, Kling oder auch Novalis. Mit welchen so ganz anderen Augen und Auffassungen man heute bereit ist, deren Arbeiten zu behandeln und zu bedenken. Darüber hinaus lese ich Gedichte aus einer anderen Epoche mit einem anderen Blick, immer antizipierend, dass sie auf gegenwärtige Strukturen, Sichtweisen, Narrative noch nicht reagieren können.

Hinzu kommt, dass das Buch erschienen ist, als Corona noch ein mexikanisches Bier war. Alle Texte wurden vor der Pandemie verfasst – kein Wunder, sie haben darauf noch keine Antworten und dürfen dahingehend sehr „naiv“, unvoreingenommen und unbelastet daherkommen; aber sie haben Antworten auf die Welt vor Covid-19. Die Texte des Buches entstanden in den letzten Jahren, und so werden andere Fokussierungen auf Diversität, Genderneutralität, Populismus usw. gesetzt. Dennoch werden hier viele Gegenstände mit heutigen Wahrnehmung(sreflex)en rund um die gegenwärtige Dichtung durch heutige, neu geschärfte Brillen gelesen. Hierdurch gibt es eine Verschiebung, und es mischt sich zur Lesart teils ein Schuss Nostalgie; es sind ferner Gedichte, die nicht in allem schon so geglättet waren, wie es einem heute hie und da zeitweilig erscheint. Das Nachwort von Kurt Drawert stammt von der Lagebesprechung (hrsg. 2001), mit einem ergänzenden Teil von 2018. Insofern mag er manches noch nicht können, was ein Band heute können sollte; dennoch stellt er eine stattliche Publikation dar, mit für mich durchaus ein paar Neuentdeckungen.

Hochinteressant ist, wer wen vorstellt und was wer zu wem sagen kann. Es ist auch so, dass ich selten das Gefühl habe, alle könnten beides gleich gut, also dichten und über Dichtung sprechen. Im Umkehrschluss heißt das: Nicht alle Dichter*innen haben eine mit allen Hirnfasern durchdachte oder eine mit Leichtigkeit explizierbare Poetik. Höchstwahrscheinlich haben sie eine solche, implizit, aber sie kann nicht ad hoc (allgemeinverständlich?) verbalisiert werden. Zumal ja Allgemeinverständlichkeit gerade bei Poetik sowieso eine Illusion ist. All das lässt sich unterschiedlich sehen und bewerten.

Es gibt Vorbilder. Einmal die Frankfurter Anthologie (dort wurden auch zum ersten Mal Selbstdeutungen der Autor*innen mitveröffentlicht) sowie weitere textkommentierende Ausgaben zu Gedichten, oder den bisher in 3 Bänden erschienenen Der gelbe Akrobat oder Aus Mangel an Beweisen¹⁰ neben weiteren Anthologien wie das Jahrbuch der Lyrik u.a. Das Alleinstellungs-merkmal der vorliegenden Ausgabe ist die Dreiheit aus Vorbesprechung, der Lyrik selbst und der nachfolgenden Selbstdeutung. Auch wenn man einwenden könnte, dass es sich bei der Zweitverwertung der Ostragehege-Artikel um ein geschicktes Recycling handle, so kenne ich wenigstens kein Beispiel, wo Gedichte gleich je zwei Kommentare bekommen hätten. Es ist deshalb in seiner Art ein Unikum.

Das gesamte Konzept des Bands regt beim Lesen und Ergründen immer wieder zum geistigen Mitmachen an. Es reizt zum unmittelbaren Mit- und Weiterdenken. Und nochmal Morgenstern: Man will ja ebenfalls immer Mitschaffende*r sein, will auch in der Kunst mit-spielen, mit-schaffen dürfen und nicht so sehr bloß bewundernder Zuschauer sein¹¹. Wer sich hier wieder findet, sollte den Band unbedingt lesen.


¹ Es sind neun Autor*innen, Ron Winkler ist besprechende und dichtende Stimme zugleich.
² s. Vorwort der Herausgeber.
³ Und obendrein doch de facto unergiebig: Denn warum hat der (!) Dichter dann sein Gedicht geschrieben, wenn er es auch so mit profaneren, prosaischeren Worten hätte sagen können?
s. Vorwort der Herausgeber.
s. Karin Fellner, s.o.
Christian Morgenstern, Versuch einer Einleitung zur dritten beziehungsweise ersten Auflage, Alle Galgenlieder, Insel-Verlag, Zweigstelle Wiesbaden, 1954
Es sei denn, man konstatiert ein Henne-Ei-Problem.
Für mich ist es nicht unbedingt erforderlich, dass ein Autor sich überhaupt mittels einer eigenen Poetologie äußert, äußern kann; und die es können, tun es oft zu meiner Überraschung in Worten und Vorstellungswelten, die ich mit ihren Gedichten nicht immer vereinbaren kann – was die Sache zusätzlich interessant und spannend macht.
[https://www.poetenladen-der-verlag.de/einzeltitel/gelbe-akrobat.htm]
¹⁰ [https://www.wunderhorn.de/?buecher=aus-mangel-an-beweisen]
¹¹ C. Morgenstern, 1913 zu seinen Galgenliedern.


*
Beteiligte Autoren:

Nico Bleutge, Thomas Böhme, Yevgeniy Breyger, Lydia Daher, Julia Dathe, Kurt Drawert, Carl-Christian Elze, Karin Fellner, Claudia Gabler, Peter Geist, Mara Genschel, Markus Hallinger, Jayne-Ann Igel, Torsten Israel, Alexander Kappe, Aron Koban, Birgit Kreipe, Jan Kuhlbrodt, Gregor Kunz, Sünje Lewejohann, Swantje Lichtenstein, Léonce W. Lupette, Philip Maroldt, Undine Materni, Titus Meyer, Niklas L. Niskate, Marlen Pelny, Teresa Präauer, Kerstin Preiwuß, Robert Prosser, Bertram Reinecke, Tobias Roth, Ulrike Almut Sandig, Kathrin Schmidt, Katharina Schultens, Kristin Schulz, Daniela Seel, Michael Spyra, Sebastian Unger, Anja Utler, Charlotte Warsen, Levin Westermann, Ron Winkler.


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