(Anja Bayer, Daniela Seel:) all dies hier, Majestät, ist deins
Markus Hallinger
Anmerkungen zur „Lyrik im Anthropozän“
Vielleicht hat diese Anthologie das Zeug zum Klassiker. Nicht, weil sie reihenweise gute Texte enthält und mit einigen Ausnahmen alle versammelt, die in der gegenwärtigen Szene irgendeine Rolle spielen (wobei mir hier, gerade hier, dann doch einige Namen abgehen, Falkner, Stolterfoht, Ames, Cotten…), sondern vor allem, weil sie es schafft Autoren und Texte unter einem Begriff zu versammeln: das Anthropozän. Das ist kein stilgebender oder stilbeschreibender Begriff aus der Kunst, wie Expressionismus, oder Realismus usw., sondern ein Begriff, der die Bedingungen veranschaulicht, unter denen heutiges Schreiben stattfindet. Anthropozän, das ist der gemeinsame Raum, der Beziehungen zwischen Wissenschaft, Literatur, Politik usw. herstellt, und hier unterschiedlichste Schreibweisen verbindet. Unterschiedlichste Sprechweisen sind es, ja, aber es ist kein Babelsprech, was einem schnell klar wird, denn alle schlagen sich mit denselben Problemen herum. Der Anthropozänbegriff schafft paradoxerweise der Entgren-zung des Bewusstseins einen Raum. Die Aufsätze am Ende des Buches sind deshalb wichtig, und sollten gelesen werden.
Sicher, die zu Grunde liegenden Erkenntnisse sind nicht neu und tauchen immer wieder in Philosophie, Sozialwissenschaft, etc. auf – Peter Sloterdijk 1983: „Im Grunde glaubt kein Mensch mehr, daß heutiges Lernen <Probleme> von morgen löst; fast sicher ist vielmehr, daß es sie auslöst.“ Aber im Gegensatz dazu, als solche Aussagen noch als Warnung, Befürchtung, oder kulturell begrenzt, verstanden werden konnten, sind es heute globale Tatsachen, vor denen wir alle stehen. Wir sind, jedem spürbar und sichtbar, im Anthropozän angekommen.
Dass es bei dieser Anthologie zu einer Kooperation zwischen Deutschem Museum und einem Literaturverlag (kookbooks) führte, ist aus diesem Blickwinkel folgerichtig. Die Hoffnung, dass daraus für beide Seiten eine Chance entstehen könnte, eine Chance für alle, ist vielleicht naiv – aber, bitte sehr: immerhin.
(Anja Bayer, Daniela Seel:) all dies hier, Majestät, ist deins: Lyrik im Anthropozän. Anthologie. Berlin (kookbooks) 2016. 336 Seiten. 22,90 Euro.