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Şafak Sariçiçek: Jamsids Spiegelkelch

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Slata Roschal

Şafak Sariçiçek: Jamsids Spiegelkelch. Dortmund (edition offenes feld) 2019. 80 Seiten. 16,50 Euro.

Jamsids Spiegelkelch


Als ich den neuen Lyrikband von Şafak Sariçiçek zum Rezensieren bekomme, bin ich gespannt, was sich nach dem letzten kompakten, spannenden Buch (der gestaute und der frei fließende fluß, bei ihm getan hat. Auch, gestehe ich ein: ich bin beeindruckt von einem gleichaltrigen Autor, der in zwei Jahren vier Bücher, davon drei innerhalb eines Jahres veröffentlicht hat.
    ‒ Jamsids Spiegelkelch versammelt Aufzählungen mythischer Namen (Ahura Mazda, Jamsid, Hephaistos, Ahriman, Kybele, Astarte, Jam, Ormuzd, Mithras, Tiamat, Marduk, Ormuzd, Zahhak, Prometheus, Asura, Horus, Isis, Shiwa, Zeus, Lots Töchter, Kain, Lilith), Religionsmotive (Amulette, Sonnengebet, Das Göttliche, Akolyth, Reliktgefäße, Schamanen, Baaltempel, Vergeistigte Keilschriften zu Flammengebet, dunkle Göttinnen, Altare, Schreine, Magus, Zen-Hohepriester, Ahnengeister, Missionare, Felsendaemon), östliche Kostbarkeiten (feuchtes Silber, Teppiche aus Terpentin, Wunderharze Äther, Rubine, golden Taler, Hände zwischen Harfensaiten, Ultramarin-Lapislazuli, bernsteinfärbende), Kombinationen von Grundelementen (Feuerlager, In den Wassern, Erdsatt, erdschwer, Feuerwasser), geheimnisvolle Tiere (Kamele, Fledermäuse, Zikadensurren, Schleiereulen, Tentakeln, Tausendfüßler, Wölfe, giftige Spinne, der Löwen Milch, Regenbogenschlange, Urvögel, Geistertiere), Himmelsbetrachtungen (verglühender Satellit, In das Sternensieb geworfen, Hände zur Sonne, Nimm Milchlicht, Komm zur Sonne Leib, Seine Sterne fielen in den Abend, Du willst die Sterne herunterholen, Mondenaug, Den Himmel seh ich, kleine Meteoren, Nachtigallfedern zwischen den Sternen) und im Hintergrund dann orientalisch anmutende Landschaften (Kaukasus, Wüste, Kaktuszungen, Orkane, Gefallene Olivensteppe, Steppen, Mesopotamien, Babylonien, Euphrat, Tigris, Im Süden eines Bernstein-/Raums, im wilden / Osten Anatoliens).

Eine zunächst anziehende, immer mehr überladene, dann kurz vor dem Explodieren stehende Welt, die verschiedenste und zu viele Ur-Kulturen aufgenommen hat. Die Texte selbst ähneln Nimrods Neubauten, verworrenen, chaotischen Sprach-Aufstapelungen, die mündliche Formen, Gebete imitieren und von Pathos durchzogen sind. Dem tragenden Kompositionsprinzip nach wird ein Wort des Satzes bzw. Verses im nächsten aufgegriffen, wiederholt, mit einem Ausruf, einem (anderen) Attribut ergänzt oder durch eine Alliteration ersetzt (zB. Wein! Wein der Nagetiere Reben. oder Ein Brand färbt die Teppiche aus Terpentin. / Gefallener Nadeln.)

Wiederholungen und Interjektionen reichen nicht aus, um das Mündliche glaubwürdig zu machen. Gleichzeitig spielen eingeklammerte Buchstaben im Wort und Absatzbrüche auf Mehrdeutigkeiten an, sind oft überflüssig (z.B. unsre paranoide(n) Straße(n), hier ein irrelevanter Unterschied zwischen Singular und Plural). Rhetorisch-melancholische Fragen (Wo? / Wo? Wo? Wo bin ich. oder Erste Zugvögel fliehen als Strich ins Land. Wohin?) und unklare Bilder verkomplizieren das Lesen (Geköpfte Wahrheiten blüten zu Boden. / Vom Henkerwind, Tag für Tag. / Gekreuzigt. ─ es reicht aus, dass Blumen als Wahrheiten bezeichnet werden und dass sie durch den Wind zu Boden fallen, warum sollen sie noch gekreuzigt werden, und wie?). Die [d]ünnen, undurchsichtigen Goblins und die Schnecke, die undurchsichtig und weiß ist, werfen die Frage auf, ob diese Wesen denn a priori durchsichtig seien (bei Goblins lässt sich darüber streiten, doch Schnecken sind normalerweise sichtbar). Oder soll das Undurchsichtige das Weiße spezifizieren (dann umgekehrte Reihenfolge)?

So ein Gedicht, das toll anfängt,

Ein Magus, ein Dengbej und Fünf
Geflügelte Zwerge sind aus meinem Traum ausgebrochen.
In die Welt. Farben und andres verköstigend.
Den Staub der Milchstraße haben sie verloren.
In den tosenden Schlaf der Welt; den Traum
aus Blau und Heroin.

aber es endet mit der unnötigen, refrainhaften Wiederholung

Sie hatten wohl wenig entwendet. Styropor und
Flaschen übergeben sich auf den Wegerand: Ich
suche Sie. Den Magus, den Dengbej. Die Zwerge.
Einbrecher im Traume der Welt. Blaues. Heroin.

Das Buch ist wieder sympathisch, grafisch sorgfältig gemacht, wird seinem gewaltigen Vorhaben aber nicht gerecht. Es deutet einen Einblick in Jamsids Kelch an, der das Wissen über die Welt enthält, bevor das Goldene Zeitalter endet, und gibt ein Chaos wieder. Zwar, könnte man einwenden, ist das auch das Ende des Mythos ‒ nur braucht es, um ein Chaos darzustellen, eine präzise Poetik. Ich habe das Gefühl, dass die Texte mehr sagen könnten, wenn man sie ließe, wenn sie mehr Zeit und Geduld in ihrer Bearbeitung erfahren hätten.


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