Şafak Sariçiçek: erkundungen eines schwindelgefühls

Şafak Sariçiçek:
erkundungen eines schwindelgefühls
hier, in der türkei,
ist der ausnahmezustand ausgerufen,
dort, in deutschland,
schießen drei männer um sich im olympiaeinkaufszentrum,
der juni ist der heißeste
seit jahrhunderten gewesen: es herrschen ausnahmezustände
und wir machen den fernseher zu.
heute ist es freitag, die dorfjugend fährt zu zweit und dritt auf
rat ! tat !
tat!
knatternden
und hin und wieder wie hornissen dröhnenden motorrädern vorbei,
um halb elf fährt ein gendarmerieauto mit blaulicht, ein wenig verloren,
auf der straße, in richtung dalyan:
nomalzustände.
die kinder neben der straße streiten sich unbekümmert,
einer wirft mit seiner sandale nach einem dickeren, bei
sonnenuntergang hatten sie ein strandfeuer gemacht und
knoblauchwurst in die offenen flammen gehalten und das
halbrohe fleisch, unbekümmert, gegessen und jetzt balgen
sie sich: sie wissen nicht was zustände sind, sie spielen räuber
und gendarm, sie legen ihr feuer am strand.
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entzauberte welt / erkundungen eines schwindelgefühls bei der tannenlichtung im olivenhain
wo früher eine schaukel stand und ein klettergerüst,
wächst jetzt gras und ein wenig unterhalb
heizen drei männer mit kleinen holzscheiten
einen teekessel aus blech.
in dem olivenbaumwald, hinter der ferienhaussiedlung
haben früher ungeheuer, dschinne und kobolde
gehaust, in den gerüchten älterer kinder, als ich
selbst noch ein kind war,
doch jetzt ist hier nur der wald aus olivenbäumen, ein
holdingsgrundstück, mit parzellen oder mit hektar bemessen und
die pfade die wir in schatzkarten gemalt, sind mit dienstbarkeiten belastet,
in dem wald, bei einer lichtung, waren hinterlassenschaften eines gauklertrupps
und der wald hat getanzt, wenn ich nach oben sah und mich im kreis drehte,
auf dem verlassenen sessel, mit dem loch, dem feuerbrandmark,
hatte eine wahrsagerin die knochen ausgelegt, die tierschädel, die hier und dort
auf tannenbezapften boden lagen, sie legte die knochen aus und die
bären tanzten vor dem publikum,
und laufe ich jetzt, in gedanken, über den trampelpfad, wo eine schildkrötenleiche
verwest, dann komme ich wieder zur lichtung und sehe leere ruinen, ein dorf,
verlassen, abfälle der bauern, von der mittagspause,
vom speisen nach der traktorfahrt; doch wenn ich innehalte, mit dem blick nach oben
zu den tannenbäumen hinauf und mich immer schneller auf der stelle drehe, dann
ist da wieder, in dem wirbel der äste, in den grünen schemen,
eine ahnung an früher, ein gruß aus der vergangenheit und einige tannennadeln fallen
mir mit dem wind auf die haare und die verfließenden zweige sind im schwindel
sich regende arme, auf denen die schatten
wieder als kobolde possen reißen. wenn dann der schwindel im kopf verebbt, sehe ich leere
ruinen, ein verlassenes dorf und mach mich vor dem nahenden traktor
brummen und hunger auf
zum feigenbaum, den trampelpfad weiter hinauf und der pfad ist immer bloß ein pfad, die grundstücke immer scharf abgegrenzt & ich hab hunger und werde feigen essen.
hinter mir knistern die tannenzweige, wie ein leiser gruß aus der vergangenheit.
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irgendwo zwischen kanalisation, zwischen frischen
holzscheiten, zum brennen gelegt, irgendwo zwischen
salz und schweiß, ist der geruch des sommerabends, den
abend kündet die muezzinstimme an, aus einem laut
sprecher, aus unbestimmter ferne, der abend ist in dem
sachten wind, vom meer aus und in den wellen, in dem
kohleduft in der luft, in der ruhe, die das meer befällt und
in dem himmel, dessen hellblau verdunkelt und die ersten
stechmücken birgt.
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Şafak Sariçiçek: unveröffentlicht, 2016.