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Şafak Sarıçiçek: Spurensuche

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Timo Brandt


Das Plastische im Arealen


„Lass uns gemeinsam
desertieren
marienkäfer sein
die
in ferne gefilde irren“


Das Unwichtigste zuerst, aber es fällt auch als allererstes auf: die Texte in diesem beim Elif Verlag erschienenen Band sind im Querformat gedruckt (ähnlich wie z.B. die bei Rowohlt erschienenen Gedichtbände von Michel Houellebecq).

Ansonsten sind es am Anfang eher die Illustrationen von Sven Kalb, die mit ihrer halb wie Kafka-Kritzelei, halb nach Kohlezeichnung schmeckenden Optik ins Auge stechen. Denn das erste Kapitel „Verlangen über den Steinbruch zu gleiten“ von Şafak Sarıçiçek Band „Spurensuche“ beginnt mit einigen stark reduzierten – um nicht zu sagen ‚heruntergebrochenen‘ – Gedichten, aus einfachen Beschreibungen gebaut. Ein schlichtes Artikulieren, das die lyrische Absicht aus der Sprache heraus nimmt und in den beschriebenen Gegenstand hineinschiebt, als sei dieser schon Wille zum Gedicht an sich. Ein Gedicht heißt zum Beispiel „Schwarzer Tee“:


„Schaumig, goldbraun
Gesüßt wie Honig
Wirbelnd schwarze Flocken
Feuer im Hals.“


Dieses Nachvollziehen einer gewöhnlichen Erfahrung, die in ihren Einzelteilen plötzlich etwas Hervorstechendes, der Aufmerksamkeit aufgestecktes, bekommt, empfand ich zunächst als ernüchternd. Ich fühlte mich als Leser ein bisschen um den größeren Horizont gebracht, der sonst mit Gedichten so oft (und gern) erweitert wird, und nun war ich gezwungen auf etwas sehr Naheliegendes zu blicken. Darüber hinaus erscheinen mir einige Texte dieses ersten Kapitels zu sehr dem Einfall des Momentes verhaftet, zu wenig kompositorisch überdacht worden zu sein. So heißt es in einem anderen Gedicht, in welchem dem lyrischen Ich nachts die Schweißtropfen in die Augen rinnen:


„halb blind starrst
du in die weite des
alls gesprenkelte
unfassbare weite
unfassbare schwärze
fragst dich wie viele
paare hinaufschauen
in diesem moment
kinderaugen nach oben blicken
in zerbombten städten unweit“


Es ist nicht so, dass ich solche Gedanken und solche Momente nicht kenne und sie sind, im Erfahren, auch alles andere als profan. Aber ein Gedicht sollte meiner Ansicht nach nicht nur eine beschreibende, rekapitulierende Bewegung sein, sondern braucht den Zug der (wie Joseph Brodsky sie nannte) geistigen Beschleunigung, muss neue Abkürzungen suchen, neue Verbindungen, die bekannte Gefühle auf andere Weise herausschälen, knüpfen, Ideen in Kontakt bringen. Das alles soll dem runtergeschraubten Ansatz, den Sarıçiçek hier ausprobiert, nicht die Wirkung absprechen. Zumal sich sein Schreiben, schon im Verlauf des ersten Kapitels, Stück für Stück entfaltet. (Bleibt halt die Frage, warum man die ersten paar Gedichte mit in den Band genommen hat).


„und es wäre einfach zu schön, paraglider zu sein
im leeren Raum über den steinbruch“


Im weiteren Verlauf des Bandes bricht sich oftmals eine schöne Alltäglichkeit Bahn. Immer wieder macht Sarıçiçek mit Hingabe aus eines Augenblicks Eindruck eine Sachlage, die einen schön instrumentierten lyrischen Verlauf nimmt, und erschafft eine Vertiefung in einem Alltagsfragment, aus dem plötzlich eine ganz neue Eindeutigkeit und Bedeutsamkeit hervorscheint.

„der abend still, die stille ein elastisches band, das mit jedem fahrzeug
weggedehnt wird und zurückschnellt“


„Spurensuche“ ist nicht unbedingt ein Gedichtband, in dem man viele brandneue Erfahrungen auffindet, aber dafür begegnet man vielen bekannten Erfahrungen wieder, betroffener denn je. Und in diesen Erfahrungen räumt Sarıçiçek noch mal zusätzlichen Platz frei, für größere Perspektiven, schönere Nahaufnahmen, genauere Emotionsflächen.

Dadurch, dass der Ausgangspunkt oft in einem Augenblick der unmittelbaren Erfahrung liegt, ist das lyrische Ich in vielen dieser Gedichte eine zentrale und oft auch klar herausgekehrte Instanz; der Dichter versteckt sich nicht in seinem Werk, hinter der lyrischen Stimme, sondern lässt seine Anwesenheit subtil verkünden, von jeder Beobachtung, die gemacht wird.

Die seltenste Erscheinung, die aber dennoch vorkommt, ist die Entrückung, die Abwendung von einem plastischen Moment, das über-den-Rand-der-Materie-Gleiten. Ab und an aber wird die Bodenhaftung aufgehoben und die reflexartige Spurensuche des Ich sortiert nicht mehr nur die Dinge und lässt sie klarer hervortreten, sondern schenkt uns auch ein bisschen Horizont.

„wo leben noch im sternenstaub
wo alles eins ist, in das licht.“


Ein, zweimal tauchen in den weiteren Kapiteln noch streckenweise ähnliche Gedichte wie zu Anfang von Kapitel 1 auf. Weil man die filigraneren Seiten von Sarıçiçeks Dichtung bereits kennengelernt hat, ist es umso schwerer diese Gedichte zu würdigen und ihren geringen Spielraum (auf dem sich ja trotzdem viel entfalten kann) zu betreten. Ihnen Kitsch oder Ungenauigkeit zu unterstellen, käme mir nicht in den Sinn. Eher ist eine gewisse Beliebigkeit, die manchmal in ihrer eigenen Gesetztheit verläuft, statt unterschwellig hoch zu brodeln.

Positiv überrascht haben mich im weiteren Verlauf noch zwei Gedichte, die sich mit dem versuchten Putsch in der Türkei in den Tagen des 15. und 16. Juli 2016 auseinandersetzen, einige weitere Gedichte zu tagesaktuellen Ereignissen und einige wunderbare, kurze Streifzüge durch Landschaften, u.a. der Kindheit. Die Zeichnungen und Grafiken von Sven Kalb ziehen sich konstant als eine wunderbare, beinahe gleichberechtigte Nebenschau durch den Band.

Irgendwo, ganz dünn unter allen Varianten und Spielarten, liegt in den Gedichten ein gewisser Überschwang. Es wird wenig gestaunt, aber ein Staunen führt dennoch Regie. Sarıçiçek Sprache wagt sich nicht bis an die Grenzen, sondern steckt lieber eigene Areale ab, in denen ihr kleiner Fokus sehr groß wirkt. Diese Methode bringt eine gewisse Nähe, eine schnelle Vertrautheit mit sich und kann dann und wann mit derselben Schönheit aufwarten, die ansonsten den kleinen und großen Erwartungen vorbehalten ist, deren möglicherweise nahende Auflösung unser Herz kurz aussetzen oder schneller schlagen lässt. Oder, wie Sarıçiçek schreibt:

„wie eine hoffende frage expandiert das universum“



Şafak Sarıçiçek: Spurensuche. Gedichte. Hrsg. von Kristian Kühn. Illustrationen von Sven Kalb. Nettetal (Elif Verlag) 2017. 136 Seiten. 13,95 Euro.

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