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Walter Benjamin: Romantische Kunstkritik

Diskurs/Kommentare > Diskurse > Lyrikkritik
Walter Benjamin
Romantische Kunstkritik

(in: Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik (Diss.), Teil 2, Die Kunstkritik, 1919)


Jede kritische Erkenntnis eines Gebildes ist als Reflexion in ihm nichts anderes, als ein höherer selbsttätig entsprungener Bewußtseinsgrad desselben. Diese Bewußtseinssteigerung in der Kritik ist prinzipiell unendlich, die Kritik ist also das Medium, indem sich die Begrenztheit des einzelnen Werkes methodisch auf die Unendlichkeit der Kunst bezieht und endlich in sie übergeführt wird, denn die Kunst ist, wie es sich von selbst versteht, als Reflexionsmedium unendlich. Novalis hat die mediale Reflexion, wie oben angeführt, allgemein als Romantisieren bezeichnet und dabei gewiß nicht nur an die Kunst gedacht. Doch ist, was er so beschreibt, genau das Verfahren der Kunstkritik. »Absolutierung, Universalisierung, Klassifikation des individuellen Moments ... ist das eigentliche Wesen des Romantisierens.« »Indem ich ... dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe, so romantisiere ich es.« Auch vom Kritiker aus, denn als solcher ist der »wahre Leser« der folgenden Bemerkung aufzufassen, bezeichnet er die kritische Aufgabe: »Der wahre Leser muß der erweiterte Autor sein. Er ist die höhere Instanz, die die Sache von der niederen Instanz schon vorgearbeitet erhält. Das Gefühl ... scheidet beim Lesen wieder das Rohe und Gebildete des Buchs, und wenn der Leser das Buch nach seiner Idee bearbeiten würde, so würde ein zweiter Leser noch mehr läutern, und so wird ... die Masse endlich ... Glied des wirksamen Geistes«. Das heißt, es soll das einzelne Kunstwerk im Medium der Kunst aufgelöst werden, dieser Prozeß kann aber durch eine Vielheit einander ablösender Kritiker nur dann sinngemäß dargestellt sein, wenn diese nicht empirische Intellekte, sondern personifizierte Reflexionsstufen sind. Es liegt auf der Hand, daß die Potenzierung der Reflexion im Werk auch als solche in seiner Kritik bezeichnet werden kann, welche ja selbst unendlich viele Stufen hat. In diesem Sinne heißt es bei Schlegel: »Jede philosophische Rezension sollte zugleich Philosophie der Rezensionen sein«. – Niemals kann dieses kritische Verhalten in Konflikt mit der ursprünglichen, rein gefühlsmäßigen Aufnahme des Kunstwerkes geraten, denn es ist, wie die Steigerung des Werkes selbst, so auch die seines Erfassens und Empfangens. In der Kritik des »Wilhelm Meister« sagt Schlegel: »Es ist schön und notwendig, sich dem Eindruck eines Gedichtes ganz hinzugeben ... und etwa nur im Einzelnen das Gefühl durch Reflexion zu bestätigen und zum Gedanken zu erheben und ... zu ergänzen ... Aber nicht minder notwendig ist es, von allem Einzelnen abstrahieren zu können, das Allgemeine schwebend zu fassen«. Dies Erfassen des Allgemeinen heißt schwebend, weil es Sache der unendlich sich erhöhenden Reflexion ist, die sich in keiner Betrachtung dauernd niederläßt, wie es im 116. Athenäumsfragment (s. o. p. 63) von Schlegel angedeutet wird. So erfaßt die Reflexion gerade die zentralen, d.h. allgemeinen Momente des Werkes und versenkt sie in das Medium der Kunst, wie es eben in der Kritik des »Wilhelm Meister« sichtbar sein soll. Bei genauer Betrachtung will Schlegel dort in der Rolle, welche in der Bildung des Helden die verschiedenen Kunstarten spielen, eine Systematik verborgen angedeutet finden, deren deutliche Entfaltung und Einordnung ins Kunstganze eine Aufgabe der Kritik des Werkes sei. Dabei soll diese nichts anderes tun, als die geheimen Anlagen des Werkes selbst aufdecken, seine verhohlenen Absichten vollstrecken. Im Sinne des Werkes selbst, d.h. in seiner Reflexion, soll es über dasselbe hinausgehen, es absolut machen. Es ist klar: für die Romantiker ist Kritik viel weniger die Beurteilung eines Werkes als die Methode seiner Vollendung. In diesem Sinne haben sie poetische Kritik gefordert, den Unterschied zwischen Kritik und Poesie aufgehoben und behauptet: »Poesie kann nur durch Poesie kritisiert werden. Ein Kunsturteil, welches nicht selbst ein Kunstwerk ist,... als Darstellung des notwendigen Eindrucks in seinem Werden,... hat gar kein Bürgerrecht im Reiche der Kunst«.
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