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Verena Kammerer: heimat - irgendwo

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Dirk Uwe Hansen

Beim Flanieren durch eine Ausstellung



Bücher, die sich nicht auf Anhieb und nicht eindeutig kategorisieren lassen, mag ich sehr. Kammerers „heimat” ist ein solches Buch, aber es gibt noch mehr Gründe, es zu mögen. Auf den ersten Blick könnte man meinen, einen Ausstellungskatalog vor sich zu haben; das Format, die gediegene Ausstattung, Glanzpapier, das pupurne Vorsatzblatt, all das erweckt diesen Eindruck. Es ist aber auch eine Anthologie mit Texten — meist Gedichten — von 39 Gegenwarts-autorInnen, die älteste ist 93, der jüngste 26 Jahre alt. Ein Gedichtband also mit Bildern? Ein Bilderbuch mit Texten?


Beginnen wir mit den Bildern. Es sind allesamt mit einfachen Mitteln (Kugelschreiber auf Papier) gestaltete Zeichnungen, abgebildet in Schwarz-Weiß und nach diesen Abbildungen zu schließen alle in ähnlichem Format, entstanden zwischen 1997 und 2016. Alle Zeichnungen zeigen eine oder mehrere Personen und ein Tier. Die Personen sind gestaltet nach dem Vorbild alter Porträt- und Familienaufnahmen aus der Frühzeit der Fotografie und wirken dadurch merkwürdig vertraut; unwillkürlich beginnt man, nach eigenen Verwandten zu suchen, oder nach Personen, die man eben aus solchen gestellten Aufnahmen kennt, und meint sie auch zu finden (ich wenigstens konnte nicht anders, als mindestens Franz Kafka und Emily Dickinson unter den Figuren zu erkennen…)

Wer nun glaubt, das Ganze müsse durch diese Gemeinsamkeiten aller Bilder eine eher eintönige Angelegenheit werden, irrt sich. Denn Kammerer gelingt es, ihren Zeichnungen eine Spannung zu geben, die den Fotografien (das wenigstens wage ich zu behaupten, auch ohne den Band, aus dem die fotografischen Vorlagen stammen, zu kennen) fehlt. Sie führt zwar immer wieder Details an Kleidung und Frisur der Figuren naturgetreu aus, doch immer sind auch Teile der Zeichnungen nicht vollständig durchgearbeitet, einzelne Figuren oder Teile der Körper nur mit wenigen Strichen angelegt, oder es entstehen weiße Flecken im Bild. Es kann dabei der Eindruck entstehen, die Bilder verschwänden vor unseren Augen vom Blatt (wie ja auch die dargestellten Personen verschwunden sind), oder aber sie erschienen aus dem Nichts auf dem Papier wie das Bild auf dem Fotopapier im Entwicklerbad. Auch die derart zwischen Stillstand und Bewegung, Entstehen und Vergehen gehaltenen Gestalten verändert die Künstlerin: Die Köpfe werden häufig leicht überproportioniert, die Gesichter vereinfacht, die Augen vergrößert. Puppenhaft, doch ohne niedlich zu sein, sehen sie uns nicht direkt an, sondern erwecken alle den Eindruck, sie fixierten irgendetwas hinter der linken Schulter des Betrachters (und mehr als einmal war ich beim Blättern in dem Buch in Versuchung, mich abrupt umzudrehen). Und dann sind da natürlich noch die Tiere, die nicht wie Fremdkörper oder durch Doppelbelichtung entstanden auf den Bildern kleben, sondern sich mit surrealer Selbstverständlichkeit als Teil der Szenerie behaupten: Ein Mauswiesel, das einer Kaspar-Hauser-artigen Gestalt auf dem Schoß sitzt, ein Heimchen im Arm eines Mädchens, eine Blausiebraupe, die einer jungen Frau auf die Schulter kriecht… All das steigert das Gefühl der ruhigen und doch auch verstörenden Vertrautheit, das diese Bilder im Betrachter auslösen.

Die Texte, die sich zwischen den Bildern finden, sind ganz und gar nicht gleichförmig. Von kurzen Gedichten bis zu mehrseitigen Prosatexten lässt sich hier allerlei unterschiedliches finden. Es gelingt mir jedoch nicht, sie als „Illustrationen” zu den Bildern zu lesen, wie es auf dem Cover des Buches nahegelegt wird, auch wenn ich nicht recht weiß, wie ich das Verhältnis sonst nennen soll. Gewiss, Bettina Galvagnis Text „der heuhüpfer, franz kafka, dora diamant und avi” geht sicher der Assoziation, die sich aus dem nebenstehenden Bild ergibt, nach, Monika Rincks Gedicht „hirschmaus” illustriert tatsächlich das nebenstehende Bild einer jungen Frau, die eine Hirschmaus auf dem Unterarm und ein Buch in der Hand hält, und als ich in Robert Schindels Gedicht „aus der innenseite” die Zeilen „Und mein Schlaf zieht sich zurück / Rastet in beiden Augenbrauen” gelesen hatte, habe ich nicht nur einige Zeit mit der Betrachtung der Augenbrauen der Frau mit der Blausiebraupe auf der Nebenseite verbracht, ich habe auch die anderen Bilder noch einmal durchgeblättert, um den Augenbrauen in den puppenhaften Gesichtern besondere Aufmerksamkeit zuzuwenden. Die Texte in diesem Band sind, ich kann es nicht besser beschreiben, so etwas wie die Gespräche, die wir hören, wenn wir durch eine Ausstellung von Bildern flanieren: Manche beziehen sich tatsächlich auf das Bild, das wir gerade vor Augen haben, manche haben vielleicht etwas mit den schon gesehenen oder noch zu sehenden Bildern zu tun, manche mit der Stimmung der Bilder insgesamt, manche drehen sich um etwas ganz anderes, dessen Bezug zu den Bildern uns nicht unmittelbar klar werden kann, und doch lassen sie uns bei dem Versuch, diesen Zusammenhang zu verstehen, immer wieder Details finden, die uns hätten entgehen können.
Und doch wird es uns im wirklichen Leben wahrscheinlich nur selten passieren, dass alle Gespräche, die wir beim Gang durch eine Ausstellung hören, so interessant und von literarisch so hoher Qualität sind, dass wir genauso oft zum Hören wie zum Betrachten stehen bleiben wollen, um uns an den Wechselwirkungen von Texten und Bildern zu erfreuen, wie in diesem Buch.
Hätte ich einen Wunsch frei, so wünschte ich mir tatsächlich eine Ausstellung der Bilder in einem Raum, in dem alle Autoren des Bandes ihre Texte lesen und wir Besucher uns zwischen ihnen hindurch bewegen dürften. Weil dies sicher nicht leicht zu bewerkstelligen ist, werde ich das Buch noch eine Weile auf meinem Tisch liegen lassen und immer wieder wenigstens in Gedanken durch diese Ausstellung flanieren.


Verena Kammerer: heimat – irgendwo. Zeichnungen mit Texten illustriert. Bozen (Edition Raetia) 2017. 176 Seiten. 19,90 Euro.


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