Direkt zum Seiteninhalt

Ulrike Almut Sandig: ich bin ein Feld voller Raps ...

Rezensionen/Lesetipp > Rezensionen, Besprechungen



Christian Metz

Einfach mal Feld sein.
Wie das gelingt und klingt zeigt Ulrike Almut Sandigs neuester Gedichtband.


Zwei versgewordene Bilder, nebeneinander gelegt. Das ältere stammt von Annette von Droste-Hülshoff. Es zeigt eine junge Frau auf dem obersten Balkon eines Turmes. Einem heftigen Sturm ausgesetzt, flattern ihre Haare im Wind. Die luftige Höhe verbirgt sie vor allen Blicken, während sie sehnsuchtsvoll das tosende Leben zu ihren Füßen betrachtet: „Nun muß ich sitzen so fein und klar / gleich einem artigen Kinde / Und darf nur heimlich lösen mein Haar / Und lassen es flattern im Winde“. Das andere, das aktuelle Bild stammt aus Ulrike Almut Sandigs neuem Gedichtband. Es nimmt das alte Motiv auf. Von Sandig aus betrachtet, liegen die Bilder also nicht nebeneinander, sondern überlagern sich kunstvoll. Das ältere schimmert durch das neuere hindurch, das seinerseits der jungen Frau neue Konturen verleiht: „Freunde, seht ihr mein kurz geschnittenes Haar? Ich lass es flattern im Wind!“, so ruft die junge Frau jetzt. Statt isoliert im Turm ihr Schicksal zu beklagen, ist sie jetzt von Freunden umgeben. Selbstbewusst lenkt sie deren Aufmerksamkeit auf sich und wehrt sich zugleich dagegen infantilisiert und damit bevormundet zu werden: „Ich bin kein artiges Kind / das darf nur heimlich lösen sein Haar / und lassen es spielen im Wind.“

In diesen Versen kulminieren drei Charakteristika von Ulrike Almut Sandigs neuen Gedichten: Erstens arbeitet die Autorin vor allem mit der beschriebenen Technik der Überlagerung. Als Grundlage dazu dienen ihre neben Droste-Hülshoffs „Am Turme“ beispielsweise auch Textpassagen von Helga M. Novak und vor allem auch die Märchen der Brüder Grimm. Gerade die Hausmärchen stehen in einer Tradition weiblichen Erzählens, das von den Brüdern Grimm in ihrer schriftliche Sammlung umgesetzt und damit überlagert wurde. Sandig arbeitet zweitens also an einer dezidiert weiblichen Poetik, die ihren Fluchtpunkt in der Figur der Autorin selbst hat. Hierbei kommt es ihr drittens auf die Provokation von Paradoxien an, damit die Schönheit ihrer Verse sich im Zwischenraum der Widersprüche entfalten kann: Kurze Haare flattern nicht, aber sie wehen bei Sandig doch gerade deshalb im Wind.

Sandigs Auto(r)fiktion legt es eindringlich darauf an, das sprechende Ich mit der Autorin zu identifizieren, ohne dass es jedoch je zur Identifikation kommt. Dadurch eröffnet sich die Differenz zwischen Sein und Schein, Einbildung und Abbildung, die Sandig virtuos auslotet. „Ich bin ich, und deshalb unendlich viele“, lautet der Leitspruch ihrer Subjekt-Pluralität. Auf der Höhe ihrer Zeit ist diese Inszenierung, weil sie die Rede von der Subjektkrise durch die Lust am Spiel ersetzt, und weil Sandig ihre Selbstentwürfe weit über die Gedichtbände hinaus bis hin zu öffentlichen Auftritten oder im Internet kursierenden Performance-Videos hin ausgeweitet hat. Da jene Gedichte in den neuen Band eingeflossen hat, die Sandig bereits im Jahre 2012 aus Anlass des damals in Neuseeland zu beobachtenden Venustransfers durch die Sonne entstanden sind (einmal fällt der Name ihrer neuseeländischen Dichterkollegin Hinemoana), faltet sich die Reihe ästhetischer Selbstentwürfe über Jahre hinweg aus. In ihrem neuen Buch erzeugt Sandigs überbordende Selbstvervielfältigungslust zu Beginn schon mehr als zwei Dutzend immer neue Figuren: Ich bin, wie und was mir gefällt. Der imaginäre Selbstschöpfungstaumel kulminiert in der Mitte des Bandes in dem Phantasma zweier sich innig umarmender DNA-Ketten – kann irgendeine Liebe (re)produktiver sein? –, bevor sie sich schließlich in die Gewässer eines Niemandslandes verzweigt.

Einerseits fächert sich das Literarische bis in außerliterarische Felder aus, andererseits betont Ulrike Almut Sandigs neuer Gedichtband seine konzeptuelle Geschlossenheit. Die Trias aus Überlagerungstechnik, Inszenierung weiblicher Rede und der Paradoxie des Selbst bestimmt vom Titel aus die Struktur des gesamten Buches: „Ich bin ein Feld / voller Raps / verstecke die Rehe / und leuchte / wie / dreizehn Ölgemälde übereinandergelegt.“ Die Vorstellung, einfach einmal Feld zu sein, ist alles andere als naiv. Das Bild ruft gezielt eine Facette der Marienikonographie auf: Als Schutzmantelmadonna umhüllt die Heilige Maria auf zahllosen Gemälden die ihr zum Schutz Befohlenen mit ihrem Gewand. Das Rund ihres Mantels beschirmt die Menschen vor der Gefahr, so wie das Feld die Rehe in seinem gelben Glanz einschließt, um sie vor fremden Blicken zu schützen. Der Titel übermalt diese Marienvorstellung, um mit dieser erneuten Bildüberlagerung zugleich die Leuchtkraft (um die magischen dreizehn Male) zu erhöhen. Indem der Titel nun seinerseits als Schutzmantel des Buches fungiert, überträgt sich seine Struktur auf die des Buches. Die fünf Elemente des Titels fungieren jeweils als eine Kapitelüberschrift. Für den Leser wirkt es daher, als habe der Titel die Textur des Bandes wie einen Mantel zusammen gerafft, um sie dann sorgsam Kapitel für Kapitel über den Band auszufalten. Das Geräusch beim Blättern der Seiten entspricht dem Rascheln des Schutzmantelstoffes.  

Dieses Rascheln der Textur ist bei Ulrike Almut Sandig mehr als nur eine Metapher. Sandig ist eine Poetik des Klangs, deren Verse in erster Linie aus einem besonderen Gespür für Melodien, Rhythmen, Tonlagen und akustische Verwandtschaften entstehen. Aus dem Klang formieren sich dann erst jene Szenen, die erhellende Schlaglichter auf unsere Gegenwart werfen: Das wehende Kurzhaar gehört dazu, das rehumsorgende Rapsfeld oder auch die Szene, in der Sandig ihre Figuren auf eine Kreuzung führt, um sie dort aber nicht etwa eine Entscheidung über den künftigen Lebensweg treffen zu lassen, sondern um sie als Sterngucker darzustellen: „über uns wölbt sich die Plexiglasnacht / wir werfen unsere Köpfe zurück / und stehen eindeutig zu nah / an der Kreuzung, auf der zur Stunde / das Feuerwerk abgebrannt wird.“ Klanglich perfekt nehmen die ersten beiden, hart und schnell gesprochenen Silben das kurze Auf- und sofortige Verglühen der Leuchtkörper sprachlich auf. Bevor das blitzartige Leuchten in die lang andauernde „glasnacht“ übergeführt wird. So präzise, wie Sandig mit ihrem Klangmaterial arbeitet, liegt es nahe, dass sie ihre Gedichte zu eigenständigen Klangstücken ausgearbeitet hat (Zu hören auf der Homepage der Autorin, oder auf der bei der Autorin zu beziehenden CD zum Band.)

Dieser Gedichtband hat alle Anlagen zu einem großen Wurf, aber ihn zeichnet dennoch auch ein Makel. Immer wieder wirkt es, als seien die Verse zwar aus dem Klang geboren, ihm aber auch zum Opfer gefallen. Diese Schwäche scheint sogar in den besten Momenten des Gedichtbandes auf. So gut die Metapher „über uns die Plexiglasnacht“ das Feuerwerk klanglich umsetzt, semantisch funktioniert dieses Bild einfach nicht: Das Feuerwerk ist künstlich, aber der Himmel und die Nacht sind es nicht. Und wieso sollten sie ausgerechnet aus Plexiglas sein? Auch als Anspielung an die Kunst der Moderne, bei der Künstler wie Moholy-Nagy erstmals mit Plexiglas experimentierten, funktioniert diese Sentenz nicht. Was macht es mit diesem Vers, wenn man weiß, dass Plexiglas eine rechtlich geschützte Marke ist? Ist die Nacht gesponsert? Oder blieb all dies unbedacht? Klanglich löst sich ein, was semantisch nicht trägt, weil es nicht analytisch scharf durchdacht ist. Die unzureichende Trennschärfe jedoch fällt besonders dort ins Gewicht, wo die Gedichte, das Politische in der Tradition einer engagierten Lyrik verhandeln. Guantanamo-Gedichte gehören da ebenso zum Programm wie Verse über einen ehemaligen IS-Kämpfer im Syrienkonflikt, der sich vor Gericht verantworten muss. Die hochkomplexen Zusammenhänge stehen bei einer Versfolge wie „bist du schon Krieger des Jahres? / halts Maul, Brüderchen. sie werden / dir im Gerichtssaal jeden Mitschnitt / unserer Gespräche vorspielen“ in Gefahr in das Triviale abzudriften. Legt man die aktuell neu erscheinenden Lyrikbände nebeneinander, gehört Ulrike Almut Sandigs Buch aufgrund seiner Klangvirtuosität und seiner ebenso ästhetischen wie politischen Inszenierung von weiblicher Autorschaft zu den starken dieses Herbstes. Zu den herausragenden zählt er allerdings nicht.



Ulrike Almut Sandig: ich bin ein Feld voller Raps / verstecke die Rehe und leuchte / wie / dreizehn Ölgemälde / übereinandergelegt. Neue Gedichte. Frankfurt am Main (Schöffling & Co.) 2016. 94 S., geb. 22,00 Euro.

Zurück zum Seiteninhalt