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Tobias Roth: Kirchspiele - Neapel, Cappella Sansevero

Theater / Kunst > Kunst


Von außen so völlig unscheinbar – und das ist nur ein Teil der Verwirrung der Medien, in die mich die Gestalten der Kapelle führen. Innen, ein kleines Schmuckkästchen, rasend bunter Stein, ekstatisch bunt die Decke freskiert, lückenlos, perspektivisch fluchtend ins Unbekannte nach oben. Hinauf in den Abgrund. Aber die Augen vergessen die Farben vor größerem Exzess, die Augen werden angesaugt vom Weiß des Marmors, der in der Mitte der Kirche liegt. Giuseppe Sanmartino hat Hand an ihn gelegt: Da liegt der tote weiße Christus, weiße Marterwerkzeuge herum verstreut, auf einem weißen Polster, über ihn ein feines, ein transparentes weißes Tuch gebreitet – alles aus einem Stein. Der Marmor schleudert die Texturen in den Raum. Das Tuch, das Fleisch unter dem Tuch, das Haar unter dem Tuch, die Wimpern unter dem Tuch, die Zehennägel unter dem Tuch. Das Material verschwindet, der Meißel vergeistigt es, das Material kehrt zurück, alles, nur kein Marmor. Francesco Queirolo und Antonio Corradini, allesamt Zauberlehrlinge, tragen weiter dazu bei, weitere Verhüllte, zerbrochene Schrifttafeln, die Erdkugel, das Netz der Welt. Die Enttäuschung ist eine gute Sache, die Bewegung, indem man den Marmor erkennt und vergisst, erzählt, erzählt viel, und die Imprese, die der Auftraggeber anbringen ließ lautet: qui non vident, videant. Die nicht sehen, mögen sehend werden. Aber indem die Imprese des Auftraggebers das Evangelium nach Johannes zitiert, erzählt sie die Geschichte nicht ganz. Die Gestalten der Kapelle, die Verwirrung der Medien, es ist noch nicht am Ende. Einige Stufen hinab, unter die Kapelle, sie hat Bildwerke im Fundament. Zwei Menschen, eine Frau und ein Mann, ein Adam und eine Eva, nebeneinander in Glaskästen. Nicht Marmor, nicht Kunstwerk: nurmehr Knochen und Adern, der ganze Blutkreislauf sichtbar. Wären es Heilige, wären es Reliquien, aber es sind Menschen, ohne Namen, ohne Nimbus. Blanke Taxidermie. Giuseppe Salerno hat Hand an sie gelegt, in den 1760ern. Ein Geflecht eingedunkelter Wurzeln, hin und wieder das Blau und das Rot, das wir wiedererkennen, wenn man uns den Blutkreislauf zeigt. Niemand weiß, wie Giuseppe Salerno das gemacht hat, niemand weiß, was er getan hat, wie viele Körper er mit Etüden verschlissen hat. Das Material verschwindet, eine Tinktur vergeistigt es, das Material kehrt zurück, alles, nur kein Fleisch. Die nicht sehen, mögen sehend werden, aber was? Das Auge des Sturms der Gestaltung, sobald es ein Gedanke trifft, blinde Spiegel. Der verschleierte Gott wird sichtbar als Mensch, der entschleierte Mensch wird sichtbar als Maschine.


(Neapel, Cappella Sansevero)


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