Direkt zum Seiteninhalt

Tobias Roth: Kirchspiele - Florenz, Santa Maria del Fiore

Theater / Kunst > Kunst



Das höchste Fest von Florenz gilt dem Stadtpatron. Man müsste von den Gärten aus Büchern in die Gärten aus Pflanzen gehen, kaum zu unterscheiden, überall hört man Niccolò Soldanieri und Matteo di Landozzo degli Albizzi zum Leben mahnen und zu Umarmungen, und wenn in Umarmungen niemand sinkt, verblüht die Jahreszeit. Ben venga maggio, e’l gonfalon selvaggio und nichts als die Wahrheit. Luca Landucci schreibt in sein Tagebuch: „Und am 5. April 1492, am Abend, gegen 3 Uhr nachts, schlug ein Blitz in die Laterne der Kuppel von Santa Maria del Fiore ein, und riss sie geradezu entzwei, sodass es eine von den Marmorvoluten davonhob und vielen anderen Marmor, der in Richtung der Porta a’ Servi herunterfiel, in einer wundersamen Art und Weise, wie sie noch niemand an einem Blitz gesehen hatte. Wenn es am Morgen während der Predigt (in dieser Zeit predigte man jeden Morgen vor fünfzehntausend Menschen) geschehen wäre, wären mit Sicherheit mehrere hundert Menschen gestorben. Aber das hat der Herr nicht geschehen lassen. Die erwähnten Marmorstücke brachen durch das Dach der Kirche und fielen zwischen die beiden Portale a’ Servi, und beschädigten das Dach und das Gewölbe an fünf Stellen, und bohrten sich dann in den Fußboden der Kirche. Und viele Steine und viel Material stürzte aus dem Gewölbe herab und fiel auf die Predigtbänke, auf denen viele Leute gesessen hätten. Und auch im Chor stürzte einiges ein, aber nicht viel. Und außen fielen viele Brocken Marmor herab, an der Porta a’ Servi; von diesen Stücken durchbrach eines eine Arkade an der Straße und bohrte sich in die Erde; ein anderes fiel über die Straße und in eines der Häuser hinein, die hinter der Porta a’ Servi liegen, und schlug durch das Dach und durch die Decken und durch das Kellergewölbe und bohrte sich unten im Keller in die Erde; niemandem geschah etwas und dabei war das ganze Haus voller Leute. Ein Luca Rinieri ist dabeigewesen. Er erzählt, dass sie kaum am Leben geblieben sind vor lauter Staunen und Schrecken über den großen Lärm; nicht viele Stücke schlugen bis in den Keller durch, aber viele durch die Dächer der umstehenden Häuser, und auch die Galerie, die außen um die Kuppel herumgeht, wurde beschädigt. Und die große Volute fiel in die Kirche und schlug ein riesiges Loch in den Fußboden, aber beschädigte trotz seiner Größe sonst nichts. Es wurde für eine sehr wunderliche und bedeutsame Sache gehalten, die Großes verkündet, umso mehr, als es gutes Wetter und nicht bewölkt war, und es so plötzlich geschah.“ Das höchste Fest von Florenz gilt dem Stadtpatron, Johannes dem Täufer, dessen Geburtstag am 24. Juni gefeiert wird. Alles und wirklich alles hat geschlossen. Man sieht zu hunderten die Touristen verwirrt auf den Plätzen stehen, sie wissen nicht, worauf sie warten sollen, alles hat geschlossen, jedes Museum, jedes Café, alles. Denn man predigt vor fünfzehntausend Menschen in Santa Maria del Fiore. Das Wunderwerk Brunelleschis, es wirft seinen Schatten, immer noch, wie Alberti es sagt, über die ganze Toskana. Die Kuppel, von innen, ein einziges Figurengewimmel wie auch das Kirchenschiff am Tag des Täufers. Kardinal Giuseppe Betori, geboren am 25. Februar 1947 in Foligno, Erzbischof von Florenz, wird gleich eine Messe lesen. Und es lässt sich hören, es ist keine Religion des Wortes, der Heide ist unter Katholiken nie allein. In Handlungen der Magie sind die nichtsignifikativen Klänge wirksamer als die signifikativen Klänge, sagt Giovanni Pico (Conclusiones magicae secundum opinionem propriam #21), wie wahr. Die Stimme des Kardinals verhallt und zerspiegelt sich unter den weiten und fernen Gewölbekappen, aus seinem Hals taucht nur ein flimmernder Strom einzelner Wörter an die Oberfläche. Unter allem und über allem der Firnis Gemurmel aus der unruhigen Gemeinde. Nur die Orgel dringt durch und bringt das Zwerchfell zum Beben. Es ist nicht mehr hörbar, in welcher Ecke der Kirche der Chor und die Streicher untergebracht sind, wie weit sie entfernt sind, wie vor unruhig gesetzten Mosaiken und in der Luft der Wüste, durch die flimmernd der Täufer geht. Die Liturgie mit ihrem Strickmuster aus Stimmen und Orgel, saeculorum fliegt heraus. Die Menge der Gemeinde. Die Menge ihr gegenüber. Neben dem Kardinal noch zwei weitere Bischöfe, zwanzig weitere Priester. Die verschiedensten Nonnen und Mönche huschen in Grüppchen hin und her. Dazwischen die Saalordner. Dazwischen die verschiedenen Vereine und Musiker in ihren bunten Kostümen. Bestimmte Gegenstände müssen binnen dieser Tagesdrehung geweiht werden, mit der pflichtbewussten Regelmäßigkeit, mit der man Medikamente nimmt. Das Wappen des roten Kreuzes auf weißem Grund, umstrickt von einem dienstbaren Sopran, das hat mit Solferino nichts zu tun. Der Raum ist so hoch, es kommt kein Duft von Weihrauch auf. Dazwischen das Klingeln der Telephone durch die Lesung aus den Propheten. Aus der Kuppel schaufeln die Teufel mistgabelweise Leichenteile herunter. Knappe Helligkeit, wie die Litanei, ein Rezitativ aus den Evangelien, das sich in seinem eigenen Echo verfängt und in fliegende Schichten Vielstimmigkeit verfilzt, kein Wortlaut, nur Geste; Geist will werden, was im Fleisch der Stimmbänder seinen Ausgang genommen hat, Hauch werden, Schatten werden, und was in Hammer, Amboß, Steigbügel wieder zusammenströmt wiederum nichts als wogende Menge. Der Kardinal predigt, von Sätzen bleiben einzelne Wörter hörbar, Erbschaft, Zentrum, Freigiebigkeit, Liebe, und der Täufer, die aufrechte Figur aus der Wüste, der an einer Caprice seinen Kopf verliert, il giusto, il bello, il vivere civile tönt es aus dem Geflecht des Kardinals, tropft es in weinroter Hoffnung aus dem Körper im Golddraht. Das Kruzifix über dem Altar mit seiner brutalen Erbärmlichkeit ist dem Gestaltungswillen der Dombesitzer entzogen, alles andere nicht. Wer wohl von diesem Boden das Blut Giuliano de’ Medicis gewischt hat, ob die Türen der Sakristei, die Angelo hinter Lorenzo schloss, noch die Kerben und Narben von den Klingen der Empörer tragen, was hier die Blumen färbte aus Musik und Krieg, in verschämten Fäden bis nach Rom: Nuper rosarum flores ex dono pontificis. Nun deckt man den Tisch zur Wandlung, währenddessen wird Geld gesammelt. Der Kardinal und seine zwei Navikulare verschwinden in einer Wolke aus Weihrauch und Brandopfer, gleich wird er aus den Eingeweiden eines Ochsen das Schicksal der Ernte lesen. Mysterium fidei. Schließlich geht es an das Austeilen der Hostien und die Rollstühle rollen in Position. Schließlich zieht die lange Prozession wieder aus Santa Maria del Fiore aus und es gibt Applaus für die gelungene Aufführung. Luca Landucci schreibt in sein Tagebuch: „Und am 25. Dezember 1498, in der Weihnachtsnacht, wurde folgendes Verbrechen am Volk Gottes, an Florenz und an Santa Maria del Fiore verübt: Als man gerade die erste Mitternachtsmesse sagte, kamen einige, ich weiß nicht, ob ich Männer oder Dämonen sagen soll, in die Kirche und scheuchten einen elenden Gaul mit großem Geschrei vor sich her durch die Kirche, lästerten und begingen Dinge, die selbst in einem Bordell unaussprechlich wären, und verwundeten das Pferd mit Waffen und mit Knüppeln, und rammten dem Pferd einen Knüppel in den Hintern, und begingen jeglichen Frevel, bis das Pferd in der Kirche zusammenbrach und alles im Tempel des Herren voller Blut und Dreck war; und auf völlig zerstörte und entsetzliche Art und Weise brach das Pferd für tot auf den Stufen von Santa Maria del Fiore zusammen und blieb dort den ganzen Tag liegen, sodass es jeder sehen konnte, tot und misshandelt wie es war. Des weiteren wurde Tinte in das Weihwasser von Santa Maria del Fiore geschüttet und, was noch schlimmer war, die Türe der Kirche wurde eingeschlagen und jemand musste auf die Kanzel gestiegen sein, um die Kanzel zu besudeln und zu schänden, unter den Augen Christi, den Ort, an dem das Wort Gottes gesprochen wird, und viele andere Untaten, ohne jede Furcht vor Gott. Und man sagte, jemand hätte die Krone Unserer Lieben Frau von San Marco gestohlen und sie einer Hure gegeben: allerdings stimmte das mit der Krone nicht, obwohl es viele sagten. Und des weiteren legten sie in dieser Weihnachtsnacht in den Kirchen Teufelsdreck Stinkasant statt Weihrauch in die Kohlebecken und trieben Ziegen durch Santa Maria Novella.“ Tut dies zu meinem Gedenken.



(Florenz, Santa Maria del Fiore)

Zurück zum Seiteninhalt