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Steffen Popp: Einhorn

Gedichte > Münchner Anthologie
Steffen Popp
Einhorn

Du bist diese Jagd. Kannst es nicht sehen
derart Verfolgtes verfolgt in selbem Maß
wohl eine Liebe, aber mit Hufen und so
flüchtig, fast selbst das Gehege, Dickicht
wächst durch dich, schrumpft, magischer
Puls unter Eiben, von denen niemand isst
ohne zu sterben, offenbar eine Sprache –
einmal im Leben sprichst Du sie, sprachlos
geschliffen, elfenbeinweiß vor der Stirn.
Spur eines Narwal-Thesaurus – Ainkhürn.

Einhorn

(In Steffen Popp: 118. Gedichte. Berlin (kookbooks) 2017.
143 Seiten. 19,90 Euro)

Ulrich Schäfer-Newiger
Einhornjagd

Das Gedicht ist titellos. Denn das Wort „Einhorn“ steht unterhalb des Textes, abgesetzt, dadurch zwar hervorgehoben, aber eben nicht über dem Anfang. Hinten im Inhalts-verzeichnis des Buches, dem das Gedicht entstammt, erscheint das Wort „Einhorn“ neben der Seitenangabe „35“. Das Wort ist also mindestens ein Identifikationsmerkmal. Ob es ein Untertitel ist oder eine andere Bedeutung hat, wissen wir noch nicht. Die zehn Zeilen des Gedichtes sollen nach bewährter Manier von vorne gelesen werden, von oben nach unten. Eine andere Leserichtung ergibt hier keinen Sinn. Und unten steht „Einhorn“ ganz zuletzt, alleine. Das sehen die Lesenden naturgemäß mit einem photographischen Blick, bevor sie noch die erste Zeile gelesen haben. Zumal alle Gedichte des Bandes dieses Merkmal eines unten allein stehenden Wortes oder Wortpaares aufweisen. Das mit „Einhorn“ endende Gedicht ist das vierundzwanzigste in dem Band, und die bis dahin gekommenen Leser*innen werden also erwartungsvoll das letzte Wort oder Wortpaar zuallererst lesen. Damit ist zwar die übliche Lesegewohnheit, zuerst den Titel wahrzunehmen und nicht etwa das letzte Wort, gestört, ja gewissermaßen umgedreht. Ob eine solche Umkehr der Wahrnehmung des Textes vom Autor gewollt ist, also einer poetologischen Absicht entspringt, bleibt unklar. Denn jedenfalls schwebt das Wort „Einhorn“ beim Lesen des darüber stehenden Textes im Hinterkopf immer mit. Dabei kann das letzte, abgesetzte Wort unter dem Gedicht auch einen anderen oder zusätzlichen  Sinn haben. Dem ist nachzugehen.

Die erste Zeile lautet: Du bist diese Jagd. Kannst es nicht sehen. Kennen wir das Wort „Einhorn“ nicht, sind wir zunächst ratlos, kennen wir es, können wir das „Du“ auf das Tier und das „es“ in dieser Zeile auf dessen Horn oder auch auf das Jagen beziehen. Es bleibt also auf der Verständnisebene alles in der Schwebe. Und wird auch im Fortgang des Textes zunächst weiter in der Schwebe gehalten: Denn, heißt es weiter, dieses so Verfolgte verfolgt selbst im selben Maße eine Liebe mit Hufen und so. Oder ein Dickicht wächst durch das angesprochene Wesen und schrumpft. Eine Eibe erscheint im Text, die bekanntlich giftige Rinden, Nadeln und Samen hat, wer davon isst, stirbt. In welchem Zusammenhang Eibe und Einhorn – außer den beiden Anfangsbuchstaben – stehen, bleibt zunächst auch unerklärt. Dann kommt „eine Sprache“ in dieses Spiel, die das angesprochene Wesen aber nur einmal spricht. Liest man nur die achte Zeile, darf angenommen werden, die Sprache werde sprachlos gesprochen. Liest man aber über den Zeilensprung hinaus, kann das sprachlos bezogen werden auf etwas geschliffenes, elfenbeinweißes vor der Stirn. Und hier kommen die Bilder dem in unserem Hinterkopf schwebenden Einhorn plötzlich ganz nahe: Spur eines Narwal-Thesaurus –Ainkhürn -     Einhorn.

Die Zeilen und Sätze, die Bilder und Wörter, so werden wir jetzt gewahr, umkreisen zunächst von weitem etwas, ohne dass wir gleich erfahren oder erfahren sollen, was da umkreist wird. Dann wird dieses sprachliche, sprachspielerische Umkreisen immer enger (‚Hufe‘ werden plötzlich genannt), ohne dass schon konkrete Umrisse erkennbar sind. Zuletzt wird das Umkreisen ganz dicht, weil nun konkret der Narwal auftaucht, dessen Zähne im Mittelalter für das Horn des Einhorns („Ainkhürn“) gehalten wurden, dann erscheint der Gegenstand, das Tier selbst, das Einhorn. Gehege, Dickicht, Eiben usw. können jetzt als Bilder und Zeichen gedeutet werden, die Bestandteil des Umkreisens, des Sich-Näherns sind. „Das Element von der Seite anspielen“, hat der Autor in einem Interview dieses Verfahren einmal genannt. Auf dieses zuletzt genannte „Element“ laufen alle Verse zu, immer enger werdend, immer konkreter, bis das Einhorn eingefangen ist, sprachlich, rhetorisch, poetisch.

Ted Hughes hat das Schreiben eines Gedichtes mit der Jagd nach Tieren verglichen. „Irgendwie stelle ich mir Gedichte als eine Art Tier vor“ hat er geschrieben und im Gedichteschreiben eine Fortsetzung seiner früheren Jagd nach Tieren gesehen. Weil ein Gedicht wie ein Tier ein Eigenleben führe, ganz losgelöst von irgendwelchen Personen, also auch von uns als Lesende und sogar vom Autor selbst. Und, schreibt Hughes weiter, „Du wirst durchlesen, was Du geschrieben hast, und einen Schrecken bekommen. Du hast einen Geist gefangen, ein Geschöpf.“ John Burnside hat in seinem langen Gedicht „Die gerechte Jagd“ eine solche Hatz mit allen Folgen für den Jäger eindrücklich beschrieben.

Wir werden nicht fehlgehen, wenn wir auch in Steffen Popps Gedicht eine von diesen von Hughes beschriebenen Jagden erkennen. Die Jagd wird ja gleich zu Beginn des Gedichtes ausdrücklich aufgerufen als Bezeichnung für das „du“, das Gedicht nämlich, wie wir jetzt annehmen können. Und liebt nicht der Jäger das von ihm Gejagte, also Begehrte? So wird das Einhorn zum Sinnbild des Gedichtes, des gefangenen Geistes, des Geschöpfes, das schreibend gejagt, verfolgt, eingekreist und eingefangen wird. Erst in dem Moment, in dem das „Element“, als Tier offenbart und benannt wird, es eine Bezeichnung erhält, am Ende, zuletzt, ist es gefangen und kann nicht mehr entkommen.

Steffen Popp hat hier nicht, wie anderswo in seinem Gedichtband „118“, real existierende Tiere, etwa eine Libelle, einen Elefanten, eine Giraffe oder auch Füchse (wie z.B. Ted Hughes, der von einem „Sinnfuchs“ sprach, den er aber nicht lebendig halten konnte, wie er bekannte) gesucht oder gejagt. Steffen Popp ist mit seinem Einhorn poetologisch konsequenter als bei all den anderen Tieren, weil er für diese Jagd ein Wesen gewählt hat, das in der Realität nicht eingefangen werden kann, weil es in der physikalisch sichtbaren Welt nicht vorkommt.

Wir können das Einhorn zeichnen, wir können es beschreiben, wir können tausend Geschichten über es erzählen, aber realiter einfangen können wir es nicht, denn es ist nicht Bestandteil des physikalisch wahrnehmbaren Universums, doch ist es das Ergebnis eines seelisch-geistigen Prozesses (auch wenn der vielleicht auf einem historisch phänomeno-logischen Irrtum beruht). Damit aber ist das Einhorn dennoch Bestandteil der Welt, weil die Welt alles ist, was der Fall ist (Wittgenstein). Und das Einhorn ist der Fall. Deswegen eignet es sich als Sinnbild für das Gedicht besonders gut, denn auch das Gedicht ist das Ergebnis eines geistigen, wie auch immer gearteten, nicht näher beschreibbaren, kreisenden Prozesses, einer Engführung, bis das Unbekannte, Geheimnisvolle, Unsichtbare, das zu Offenbarende da ist, sozusagen dingfest gemacht wird. Dieses eigentlich Unsichtbare, Ungreifbare (für das ein in der physischen Welt nichtexistierendes Einhorn stehen mag) ist nach Novalis der eigentliche Sinn der Poesie, der zugleich „viel mit dem Sinn für Mystizism gemein“ hat.

Das Einhorn ist eines der griffigsten Beispiele für das, was wir ein Mythologem nennen. Jedes Kind kennt das Einhorn. Sein Erscheinen in der darstellenden Kunst ist schier unzählig. Rilke hat das Einhorn mehrfach zum Gegenstand seiner Dichtungen gemacht („Die Dame mit dem Einhorn“ [auch von Cees Noteboom gibt es eine Geschichte mit diesem Titel], dann „Das Einhorn“ in ‚Neue Gedichte`, oder auch in “Die Sonette an Orpheus“, zweiter Teil, das Sonett Nr. IV – „ …erhob es leicht sein Haupt und brauchte kaum zu sein.“).

Steffen Popp wählt das Einhorn zum Gegenstand oder „Element“ seiner Jagd nicht, um einen Mythos zu dekonstruieren, sondern um mit ‚modernem‘ Sprachspiel noch einmal und neu von ihm zu erzählen und so das nicht existierende, mythische Tier am Leben zu erhalten. Das Einhorn erscheint am Ende seines Gedichtes als das durch ständig sprachliches Umkreisen sich Offenbarende, ein - magischer Puls unter Eiben -, ganz im Sinne von Novalis als Verwirklichung des Imaginativen, nicht des Wirklichen. Das ist klassisch romantische Poetologie revisited.
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