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Sonja vom Brocke: Düngerkind

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Vincent Sauer

Vom „Menschenackerbau“
Sonja vom Brockes „Düngerkind“ ist geschrieben in einer Sprache ohne Erde


Sonja vom Brockes neues Buch hat einen merkwürdigen Titel: Düngerkind. Stellt man sich darunter ein Lebewesen vor, mutet es mutantisch an. Ist es vielleicht das personifizierte schlechte Gewissen des Anthropozäns, von dem ständig die Rede ist? Heißt so jemand, der sein Leben lang beschissen wird, um daran zu wachsen? Oder handelt es sich einfach um eine Beleidigung für Landwirtskinder, die unter dem Radar der Langenscheidt-Linguisten läuft?  Vermutlich trifft es das alles ein bisschen, aber von der Düngerkind-Lektüre kann man keine wohlgeformten, versifizierten Gewissheiten über einen abgesteckten Gegenstand (Natur, Familie, Sprache) erwarten. Es kommt beim Lesen nie der Eindruck auf, dass man einem uneinholbaren Wissensvorsprung hinterherdackeln soll, um bei einer gemütlichen Gewissheit zu landen.

Wenn die äußere Erscheinung eines „Düngerkinds“ auch rätselhaft bleibt, die Gestaltung des Texts, der so heißt, springt ins Auge. Das Buch ist nicht als Gedichtband konzipiert. Es gibt kein Inhaltsverzeichnis, die Seiten sind nicht nummeriert: Man muss sich so hereinwagen. Düngerkind kann man kaum unter Lyrik kategorisieren — schlicht ‚Textsprachkunst‘ passt besser. Denn das meiste dieses Papiers ist mit streng gesetzten Kolonnen bedruckt. Immer wieder lüften sich die Reihen aber auch und Versgruppen, lose Zeilen, zum Teil links und rechts am Rand gesetzt, oder nur ein einziges Wort auf einer Seite lassen der Lektüre Raum.

Dann kann man sich die bedrückende, dreckige Welt von Düngerkind besser ausmalen, wo es brutal zuzugehen scheint. Anfangs wird der Text verortet in einem „Garten, der verkümmert ist;/ ein Feldchen aber gebannt, handfest:/ Menschenackerbau“.¹ Hier steckt schon viel drin, wächst Bedeutung an: Das verniedlichte Feldchen ist Resultat einer Verkümmerung, in der ja auch ein zwischenmenschliches Verhalten anklingt. Es ist gleichsam beherrschte Natur und damit „Menschenackerbau“: ein Wort, in dem die Nominalkomposition des Deutschen nun offenlässt, ob gemeint ist, dass hier Menschen Ackerbau betreiben, oder ob sie selbst dasjenige sind, was angebaut und irgendwie kultiviert wird. Die Sprechsituation erzeugt ebenfalls ein Unbehagen, denn ein Du wird adressiert, wodurch man lesend geneigt ist, sich mitgemeint zu fühlen: „Hier bist du nicht tumb, ist das/ jüngste Bild: steigst aus Dung, bist ein/ Erdbrustkind?“ Hier scheint jemand zu sprechen, der zu dieser beschriebenen Welt gehört, aber von einer höheren, unerreichbaren Instanz aus alles betrachtet.

In vom Brockes Text geht es fast ohne Punkt, aber mit zahlreichen Kommas, Doppelpunkten und Semikolons in eine Kindheit zurück, in eine Schulzeit in einer Welt, die zum Zeitpunkt, von dem aus der Text spricht, kaum noch dieselbe sein kann: Spricht hier jemand nach einer Katastrophe? Figuren treten auf, etwa das „Flötengirl“, „das dein Unschuldslamm schluckt“, wohinter sich eine sexuelle Erfahrung vermuten lässt. Das „Düngerkind“ selbst scheint ein Jagdobjekt zu sein: „Wachsen Tropfen zu Lupen: fängt/ im Weißkohl das Kind; ists das/ Düngerkind? ‘s zittert; (…) fuchelt,/ duckt sich“. Kurz darauf geht es um ein „Visum für die Vitrine“, in die man das Lebewesen wohl verstaut. Den zusammengesetzten Gestalten geschieht etwas, aber sie werden nicht greifbar. Die Figuren verharren auf eine beunruhigende Weise zwischen Natürlichkeit und Künstlichkeit. Vom Leiden ist die Sprache, aber sie scheint im Weg, schafft keine Empathie.

Bevor die Kolonnen erstmals dem Flattersatz das Papier überlassen, bekennt die Text-Stimme beiläufig: „nun, was soll ich/ schwindeln, kümmerlich, krumm und/ verpatzt: Hast du dir deine Gesundheit,/ ich sags dir, der Lack ist ab;/ Raszetten“. Dem Du wird die Hand gelesen, aber es scheint nicht gut um das Du zu stehen. Aber hat dieses Du überhaupt eine Hand aus Fleisch und Blut? Oder ist nicht nur sprichwörtlich „der Lack ab“? Jedenfalls ist danach nicht Schluss, sondern es reiht sich Einfall an Einfall, was einen Sog erzeugt aus Sprache, aber auch Narration. Denn so gern man den Bildern folgt: Düngerkind erzählt auch von einer angezählten Welt hinter den Wörtern. Dieser Umstand verhindert, dass man sich lesend in der Sprache ergeht, sondern gibt zu verstehen, dass in diesem Text noch etwas anderes stattfindet außer pausenlose Neologismen-Innovation und der Rhythmus nicht freischwebt.

Düngerkind ist witzig, etwa wenn seitenlang allerlei Wörtern die Bezeichnung „Mission“ vorangestellt wird und damit Sinn-Abundanz vorführt. Eine alltägliche Angelegenheit wie ein Frühstück verwandelt sich an anderer Stelle in eine morbide Fresskette: „auch Motten mögen Müsli/ von der Seide mit Rosine// frisst die Schwester, schlürft die Fliege/ kaut die Ratte, pickt der Hahn// ein feuchtfröhliches Schlamassel - // Neuer Tag“. Dass sich „der Hahn“ quasi unumgänglich auf „Neuer Tag“ reimen muss, also implizit die Katastrophe, dass es einfach weitergeht wie zuvor, mit dem vermeintlich abgedroschenen Mittel erzeugen lässt, ist brilliant.

Zeugung, Schöpfung, Eingriffe am lebenden Objekt — ständig vermengen sich in „Düngerkind“ auf verstörende Weise Register, sodass man als Leser wortlos bei etwas zugegen ist, das nach Widerspruch verlangt, aber sich hinter der alles zu ästhetischen Gebilden machenden Sprache nicht fassen lässt: „Eine Knochenblütlerin, errechnet aus dem/ Ei der Stadt; Wozu-Miseren und Gift,/ analysierte Drüsen; Liquid-Crystal-Kriege;/ kokelndes Nicht-Inferno der Stadt“. Am Ende wird der post-apokalyptische Zustand explizit. Etwas ist nicht mehr da, aber dass es so ist, wird schnippisch quittiert: „Kniest im Ex-Weißkohlfeld und in Öl./ Auch die Rotblütlerin hats vermasselt.“ Alles auf Anfang: „Drei Mikroben verkumpeln sich am Morgen/ und ein Spross, je nach Unzeit“.

Düngerkind ist ein Text, der formal Wagnisse eingeht, aber nicht bei Sprachkritik bleibt. Denn die Öko-Endzeit-Sci-Fi, die sich mit Provinz verbindet, sorgt dafür, dass mehr auf dem Spiel steht. Im Lauf des Buchs werden so alle Wörter immer mehr zu Fremdwörtern. Adorno schrieb mal, diese kündeten von einer „Sprache ohne Erde“. Hier künden sie aber auch von einer Erde ohne Erde, die sich jedem Zugriff durch die Bewohner entzieht. Ein sehr verstörendes, sehr gutes  Werk.



¹ Virgel markieren, wie gewohnt, den Übergang von einer Zeile zur nächsten, was durchaus Bedeutsamkeiten akzentuiert. Einige der Zitate sind jenen Seiten entnommen, wo eindeutiger Verse gedruckt sind.


Sonja vom Brocke: Düngerkind. Ostheim vor der Rhön (Verlag Peter Engstler) 2018. 48 S. 14,00 Euro.
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