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Sascha Anderson: So taucht Sprache ins Sprechen ein, um zu vergessen

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Marcus Roloff

„zu Lebzeiten mit ohne Ich.“ Neue Gedichte von Sascha Anderson


Als ich das erste Mal ein Gedicht von Sascha Anderson las, befand ich mich im Berlin der Neunziger Jahre (letztes Jahrhundert) und sah ihn, den Autor, als Konterfei auf Stern-, Zitty-, Prinztitelblättern inmitten einer Art hell erleuchtet da-, um nicht zu sagen strammstehenden Öffentlichkeit. Zu diesem Zeitpunkt war ich noch nicht um die Ecke in die Lychener Straße zum Druckhaus Galrev gelaufen, um mir den Band „Jewish Jetset“ (1991) via Direktverkauf zu besorgen. Aber genau in dem Band stand das Gedicht. Jetzt, fünfundzwanzig Jahre später, lese ich punktgenau im ersten Gedichtband Andersons nach elf Jahren (2019):

           (…) So taucht // der Taucher nach der Zeit, in der sich der Kreis schließt
           zu einem / Symbol des Großen im Kleinen. So taucht die Perle an der Kette /
           auf, die er ihr um den Hals legt, der Schmerz in den Menschen, / der aus dem
           Haus geht, um Kopfschmerztabletten zu kaufen. // So taucht Sprache ins
           Sprechen ein, um zu vergessen, und das Auge / des Menschen in einem erdfernen
           Spektrum auf. (…)

Das Gedicht heißt „1991“ und dockt womöglich da an, wo es für mich mit Anderson losging: an ein zunächst etwas unklar bleibendes, eher verdunkelndes als erhellendes lyrisches Sprechen, das sich an irgendetwas mir Unbekanntem abarbeitet und mir nur mitteilt, dass es sich auf Introspektionskurs mit Ausguck befindet. Diese (Horch&-Guck-, Witz! Wird hier ausgeblendet, weil es für mich nichts zur Sache tut!) Löcher, die als Zitat und/oder Anverwandlung und/oder Überschreibung fungieren, geben die Sicht aufs Materiale frei. Und das hat mich von jeher angezogen, dass Andersons Texte sich dem Mahlstrom der Historizität stellen, und zwar eigenwillig stellen. (Und nicht, wie es ihnen oft, also meistenteils erst nach der Biermannrede (1991), vorgeworfen wurde, zurückziehen würden auf die Pseudohöhen einer privatistischen Artistikliteratur, deren einziger Sinn&Zweck es sei, sich um sich selbst zu drehen und sich selbst zu beweihräuchern und in Sphären abzudriften, die den Autor zurecht für immer ins Mausoleum der bei lebendigem Leib Totgeschwiegenen verbannen.)

Die Materialität von Geschichte ist es, die mir in der neuen, aus sieben titellosen Kapiteln bestehenden Sammlung „So taucht Sprache ins Sprechen ein, um zu vergessen“ ganz folgerichtig in die Augen springt – und zwar als Geschichte im allerweitesten Sinn, nämlich biografisch durchwirkter Geschichte, also Literaturgeschichte, also Kunstgeschichte, also Philosophie-geschichte, also Diskursgeschichte. Alles drin in diesem Buch, in diesem Werk, das Anderson, legt man sich ältere Bände wie „Herbstzerreißen“ (1997) oder „Crime Sites. Nach Heraklit“ (2006) daneben, im besten Sinne konsequent unbeeindruckt fortschreibt. Es ist, als würde er die Welt aus der Perspektive des Ichs als ewig paradoxalem Mittelpunkt wie eine Spinne im Netz an sich reißen und konservieren wollen, um sie unschädlich zu machen. Denn die Schatten dessen, was als erlebt und erfahren, also vergangen gilt, sind lang und legen sich ununterbrochen schnappatmend um die weiße Weste der unbescholten dahinlebenden Gegenwartsseele.

Dieser, wenn man es so ausdrücken mag, autohistorische Ansatz holt zeitlich entlegenes Material nicht nur deshalb ins Gedicht, um es verfügbar und anschaulich zu machen (das wäre Historismus, historisierender Impressionismus), sondern um im Zusammenprall mit den biografischen Daten Denk- und Sprachstrukturen so zu zerlegen, dass sie zeigen, was vonnöten ist, um ein Gedicht zum Beispiel zum Generalthema Zeit zu schreiben. Etwa das U4-Gedicht „Kronos“, das explizit kein Klappenteaser sein will, sondern dort so einmalig, aber eben auch prominent steht, dass es gleichwohl als Mottogedicht gelesen werden kann: „Wohin // soll das Vergangne // gehn, (…) Der Meister sagt: Schau / durch die Zeit, meint, sie zu durch- / schaun bis zur Dämmrung, // dem Hund, dem grauen (…). Überblendungen / sind grausam und das Ich ih- / re Institution.“ (Herrliches Schlusswort, denk ich bei fast jedem der Andersonschen Schlüsse.) Das Erinnern als poetischer Ur-Reflex (oder -knall) wird in der Konfrontation mit der Hardware der Dinge, egal von wann, einfach in die Luft geschleudert und setzt sich nach und nach ab und zur Form zusammen. Form hat es bei Anderson in sich, ist streng und frei zugleich, gibt nie nach oder wird schlaff oder vergisst sich. Den Strickpulli Form aber muss man vergessen können, denn wenn er getragen werden soll, sprich das Gedicht geschrieben, darf er nicht kratzen, sprich zu spüren sein.

„Und die Geschichte drehe eine weitere Schleife / über die Erzgebirge“, heißt es im Gedicht „Wie der Stahl gehärtet wurde“, das mit seinem Nikolai-Ostrowski-Titel (der DDR-Schullektüre schlechthin!) gleich am Anfang des Buches klarmacht, dass sich im zeitlich Vergangenen Räume auftun, in denen das Eigene, gerade die Kindheit, szenenweise, einzelbildweise wie auf einer Leinwand angeschaut werden kann. Letztlich sind es Analysetexte, die zeigen, wie Denken geht, oder Spielarten davon. Im Grunde schreibt Anderson grandiose Denkbewegungslyrik, die seinesgleichen sucht und, wäre dieser Begriff nicht unendlich tönern und konstruiert, eine Zuschreibung sein könnte, der man Preise nachschmeißt ohne Ende, weil das, worauf sie zielt, so viel besser ist als das Meiste von dem, was den übersättigten Aufmerksamkeitsapparat in Wellen immer wieder neu abfüttert.

Was die dem Erinnern zugrundeliegende Empirie betrifft, ist Lesen/Lektüre ein Sonderfall, quasi der Mix aus Empirie 1 (Historisch-Biografisches) und Empirie 2 (Historisch-Kollektives), ein Drittes, das wie Kitt das ganze Zersplitterte zusammenhält, das ein Gedicht notwendig sein muss. Andersons Säulenheilige heißen in loser Auswahl Miroslav Holub, Augustinus, Novalis und Frank O’Hara. Der spielt schon in „Crime Sites“ eine Rolle, insbesondere sein Gedicht „Why I Am Not a Painter“, ein mittlerweile generationenübergreifend ikonischer Text zum Verhältnis von geschriebenem Wort und gemaltem Bild. Doch im Gedicht „18. November 1993“ geht es um die Todesart des Überfahrenwerdens, die neben O’Hara (Jeep) auch Anemone Latzina (Tram) und Rolf Dieter Brinkmann (Pkw) ereilte, gesetzt im Blocksatz, der die Zeilenbrüche gnadenlos vorgibt und die Wörter mittendrin durchschlägt. Die kleinen schwarzen Punkte am Gedichtrand, die auf die Anmerkungen hinten im Buch verweisen, bilden mit den Zeilenenden die Schneise, auf der – „irre, wie sc / hnell es zur Not geht“ – das Unheil herannaht.

Und es gibt Gedichte, die zu lebenden und toten Freunden sprechen, etwa Ralf Kerbach („Alte Meister (1986/2016)“) oder Hans Schulze („Über Wasser“), den auch ich noch in Erinnerung habe, wie er barfuß auf den staubigen Gehwegplatten der Schliemannstraße hin- und hergeht. Um Kathy Acker geht es im Gedichtmehrteiler „1992“ vorder- und hintergründig zugleich.

Oder / wie wenn ich (…) frage, ob sich für / diese, nur für diese, diese eine tote Frau „Die Worte / gehören nicht zum Soll, sondern zum Haben, weil sie das, / was war, bezeichnen, selbst wenn sie sagen: ‚Ich / habe nichts‘“ ins Englische übersetzen lasse, / vielleicht so, wie man schmutziges Wasser aus einer / leeren Badewanne lässt. Oder wie zu Lebzeiten / mit ohne Ich.

„1992“ lässt in der Verschränkung von anekdotisch Fortgesponnenem und Totengespräch auch eine Kindheit und Jugend zwischen Goethe und Punk vorüberziehen, was wie ein Lesebuch funktioniert, ein Panoramablick auf einen Punkt im Jahr 1992, in dem es offenkundig zu einem gemeinsamen Weimarbesuch gekommen sein muss (Gerhard Falkner war auch dabei), und bei aller Abstraktion und der hypertrophen Nutzung des Wörtchens ‚wie‘ so etwas wie zu Herzen geht.

Und beim Lesen schiebt sich mir immer wieder der Buchtitel quer übers Gelesene, den ich mir am Ende dieser Besprechung so ausmale: kaum im Bild, schon verflogen.


Sascha Anderson: So taucht Sprache ins Sprechen ein, um zu vergessen. Gedichte. Mit 15 Vignetten von Alissa Walser. Frankfurt am Main (Weissbooks GmbH) 2019. 75 Seiten. 18,00 Euro.
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