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Ruth Lillegraven: Sichel

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Timo Brandt

Ruth Lillegraven: Sichel. Aus dem Norwegischen von Klaus Anders. Berlin (Edition Rugerup) 2019. 144 Seiten. 19,90 Euro.

Der gewöhnliche Bogen, tief schneidend


„all dieser stein
der sich vermehrte
im ebbesand
in kirchenmauern
in kartoffeläckern
wo kam
er her“

Ruth Lillegravens „Sichel“ (aus dem Neunorwegischen übersetzt von Klaus Anders) ist kein Gedichtband voller unabhängiger Einzelgedichte, sondern ein einziger großer Zyklus in vier Teilen (fast schon eine Art Versepos), in dem die meisten Gedichte vor allem als narratives Element fungieren.

Im Zentrum dieses Narrativs steht die Lebensbahn des Bauernsohns Endre, der vermutlich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhundert geboren wird und dessen Stimme und Schilderung die Perspektive der Gedichte bestimmt. Gleich das erste Gedicht (nach dem Prolog) schildert seine erste Erinnerung, die darin besteht, dass der Vater ihn im Arm hinausträgt und ihm etwas über den Mond erzählt, der immer da war und immer da sein wird.

Endre ist der älteste Sohn und von Anfang an für die Nachfolge des Hofes vorgesehen – er ist ebenfalls Teil von etwas Unveränderlichem, das sich in der Erbfolge, aber auch im Wechsel der Jahreszeiten, im Zyklus von Saat und Ernte, im Verbleiben an diesem Ort manifestiert. Schon früh geht es in den Gedichten darum, dass Endre den kräftigen und fleißig-fatalistischen Vater stolz machen und unbedingt den Lebensinhalt annehmen will, den dieser ihm vermachen wird, während der Vater sich eher sorgt, weil Endre im Gegensatz zu seinen Brüdern kein sehr lebendiges Kind zu sein scheint und auch sehr still.

„ich kann nichts sagen, doch eines tages werde ich
zeigen, zeigen dass auch ich alles machen
alles tragen und alles sein kann […]

eines tages werde auch ich […]

wissen, dass ich es geschafft hab

dann kann ich sehen
was zu sehen ist

dann kann ich hier leben
ohne mich wegzusehnen“

Gerade zu Anfang geht es vor allem um das einfache Leben und die Gegend mit ihren Geschichten, Traditionen und Mythen. Ein paar davon erzählt Lillegraven, bspw. die eines Kinderbegräbnisses und einer anschließenden Bootsfahrt, die nie ans Ziel gelangt; zwei Insassen werden später tot aufgefunden, zwei weitere, u.a. der Großvater von Endre, bleiben zunächst verschollen.

Im Lauf des Buches gibt es einige weitere Geschichten und Katastrophen, die das Schicksal von Endres Familie bestimmen. Zum Motiv des Lebensinhalts, des Anteils am Fortgang und Kreislauf der Dinge, gesellt sich bald noch die Liebesgeschichte zwischen Endre und Abelone hinzu, die später erweitert wird um die Geschichte einer Krankheit, in der beide Motive miteinander verschmelzen und ein neues Narrativ hinzukommt, im Zentrum stehen dann die Bücher, ferne karibische Inseln und die englische Sprache.

„vater […]

macht ein knappes nicken
nur ein knappes nicken
mehr nicht

doch draußen im hof
steht sein großvater

und dahinter sein vater
und dessen großvater

alle nicken sie
dieses knappe nicken
das sagt: gut, junge
das ist es, wofür
du hier bist
[…]
das ist unser schicksal
das ist unser glück

und du bist nur
ein kleines blatt
am großen baum“

Zusätzlich zu all diesen Handlungssträngen gibt es kurze Intermezzi, in denen andere Figuren (Endres Mutter, Bruder, aber vor allem Abelone) zu Wort kommen. Diese Intermezzi sind im Gegensatz zum Rest des Textes in Prosa gehalten.

„Sichel“ ist ein bemerkenswerter Band, dessen Aufbau und Motivgestaltung sich zwar nicht besonders aufwendig anhören mag, der seine Motive aber bis ins letzte Bild wunderbar ausgestaltet, eben nur mit einer leicht zu unterschätzenden Schlichtheit, die aber das elementare Wesen der Geschichte gut in Szene setzt.

Und die Geschichte von Endre und seinem Lebensschicksal hinterlässt (auch ganz entgegen meiner Erwartung) einen tiefen Eindruck. Das liegt wohl auch daran, dass Lillegraven einen Balancepunkt zwischen lyrischer Qualität und narrativer Diktion findet, an dem die Geschichte dieser Existenz weder zu groß und aufgeblasen wird, noch zu einer Banalität verkommt. Jeder Aspekt von Endres Leben wird den Leser*innen nahegebracht, aber in konzentrierter, ebenso existenzieller wie flüchtiger Form.

Wie nebenbei verhandelt der Text außerdem ein paar sehr bedeutsame Fragen (auch unserer Zeit), z.B.: bin ich etwas, auch wenn ich nichts tue? Inwieweit hängt das Selbstbild von einer Tätigkeit und von den eigenen Möglichkeiten ab?  Die Auseinandersetzung mit diesen Fragen wird den Leser*innen so unaufdringlich nahegelegt, verwoben in den Erzählstoff, dass man bei „Sichel“, trotz des geringen Umfangs, von einer „großen Geschichte“ sprechen und das Buch in eine Reihe mit vielen bedeutenden Prosawerken stellen könnte.
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