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Rosmarie Waldrop: Hölderlin-Hybride

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Jan Kuhlbrodt

Zu Rosemarie Waldrops Hölderlin-Hybride



Den Blick nimmt man mit, er ist geschult an der Herkunft und von der Sprache der Kindheit formiert.

Was zwischen Ich und Auge spielt. Eye I. Am Strand, im Sand, der andern Sprache.


So heißt es im Vorwort zum vorliegenden Buch, und Blindsight ist der Titel jenes Buches, in dem die Texte im amerikanischen Original enthalten sind. Es präsentiert Arbeiten der Dichterin Rosmarie Waldrop, die das Prosagedicht auf eine enorme Höhe trieb. Sie entwickelte eine Form, in der sie Beobachtung, Reflexion und Zitat auf eine wunderbare Weise verbinden kann. Natürlich leistet ihr dabei die Eleganz der englischen Sprache einen enormen Dienst. An dieser Stelle trifft der Übersetzer an eine Grenze, die seinen Ehrgeiz entzündet. Eine Variante, die Eleganz ins Deutsche zu retten, stellt dieser Band unter anderem vor.

Sehen heißt glauben. Doch vom Finstern unbedroht sind Worte. Und nehmen Zuflucht da. Unverschattet. Und Denken nimmt auch Zuflucht und sucht seine eigene Lichtsaat zu säen.


Hier kommt dem Übersetzer natürlich das Hölderlinsche Ausgangsmaterial zu Hilfe. An anderer Stelle aber geht die Sprache Waldrops in entgegengesetzte Sphären, was ihr die Kraft verleiht, zu paraphrasieren, dass man zum Bespiel das Gedicht nur mehr Hälfte des Lebens als Hauch erkennt, der sich über die amerikanische Ostküste legt.

Doch wie mit knorrigen Händen das Viele halten und wie? Von Rhode Island die Sonne und Schatten? Und erst die Erde?


Thomas Schestag, der Übersetzer des vorliegenden Bandes, schreibt in einem Essay, in dem er Baudelaire als Übersetzer Poes vorstellt:

Die Recherche des Schreibenden sucht im Gepräge das Gebrechen, um durch einschneidendes Nachfahren der ersten Impressionen deren Teilbarkeit zu erfahren und Spuren der Teilbarkeit, der frühen Spur zu hinterlassen.


Dieser Gedanke, an Derrida erinnernd, könnte das Motto für dieses und einige andere Projekte Rosmarie Waldrops abgeben. In dem sie nach Spuren sucht, hinterlässt sie eine Spur. Oder grandiose Abdrücke wie das Buch Ein Schlüssel zur Sprache Amerikas, ein Buch, ein Bericht und Paraphrase von Spuren indigener Völker, auf welche die Einwanderin Rosmarie Waldrop trifft, und meine erste Begegnung mit dieser Autorin, eine Begegnung, die dazu führte, alles von ihr zu lesen, dessen ich habhaft werden konnte.

Hölderlin-Hybride, der als roughbook 033 erschienene Text geht in die andere Richtung. Wenn Waldrop im erwähnten Text also auf das blickt, was ihr auf der aus unserer Sicht anderen Seite des Atlantiks begegnet, wird hier das Mitgebrachte, also der Blick selbst, Gegenstand der Betrachtung. Und der Text beginnt mit dem Ende des Blicks, einem eingeschlossenen sich Vergewissern, hin zu den Momenten der ersten Begegnung mit Welt. Wenn also, wie Wittgenstein schreibt, die Sprachgrenzen die Weltgrenzen sind, dann ist Waldrops Projekt das einer Grenzverschiebung. Noch einmal Schestag in seinem Essay über Baudelaire und Poe:

Dieser surnaturalisme ist genaugenommen sousnaturalisme, denn die Suche gilt den frühesten, das heißt zuunterst, zutiefst gelegenen Kindheitseindrücken, Impressionen, um die ersten Impressionen, die nicht nur beeindruckten, sondern den Eindruck der Beeindruckung hinterließen, unter Druck zu setzen, den Bann der Impression zu brechen und über die prägende Natur des ersten Eindrucks Aufschluss zu erhalten.


In Kapitel IV von Hölderlin-Hybride, Unerklärliche Versehen, heißt es in der ersten Strophe:

Was ist Gedächtnis? Ein Palast? Der Bauch des Geistes? Von Absenz ein Traum? An das Baby im Bild habe ich keine Erinnerung, doch erinnere ich meine Puppe.


Sowohl die Autorin Waldrop als auch ihr Übersetzer Schestag wohnen in der amerikanischen Stadt mit dem schönen Namen Providence. Hier lassen sie die Sprachen kommunizieren und den Blick sich erweitern. Pflichtlektüre.



Rosmarie Waldrop: Hölderlin-Hybride. Amerikanisch / deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Thomas Schestag. Providence, Portland und Solothurn (roughbook 033) 2015. 60 Seiten. 9,00 Euro.


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