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Ron Winkler: Prachtvolle Mitternacht

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Jan Kuhlbrodt

Nach der Geschichte keine Apperzeption



Es mag merkwürdig klingen, wenn man mit seinem Werk ein wenig vertraut ist, aber ich beginne, den Autor Ron Winkler, der 2007 mit Fragmentierte Gewässer als Post-Naturlyriker (Diskursnaturlyriker?) das Feld der deutschsprachigen Dichtung betrat, mittlerweile als politischen Künstler zu begreifen, der durch Worte die Worte selbst einem machtvollen und zeitgeistigen Zugriff entzieht - er macht das in zweierlei Richtung: Einerseits historisch, in dem er sie aus einer politisierten Geschichte rettet, und andererseits einer Zukunft zugewandt, in der er sie Verwirrung stiften lässt. Es ist eine politische Dichtung nach der Postmoderne, geschult an Subversion und Parodie, wohl wissend, dass Verständnis, wo es unmittelbar eintritt, für Verwirrung sorgen muss:

unter Umständen findet sich hinten im Laden
noch ein kleiner Stapel Idylle


heißt es im Text MAXIMEN AUF EINEM BASAR JENSEITS DER ZEIT. Einer Reihe von sechs eher aphoristischen Texten.

In seinem vierten Gedichtband „Prachtvolle Mitternacht“ zieht Ron Winkler anfangs ein Fazit. Die Welt, so scheint es, hat sich ausbuchstabiert und begegnet sich selbst im Gedicht als Gedicht. Als eine Sammlung offener und verdeckter Zitate und Referenzen. Was mit Gertrude Stein begann, scheint hier seinen Abschluss zu finden:


aber und ist eine Rose
und also mehr als eine Rose
und also zugleich keine Rose mehr. nicht mehr. und auch: nie
mehr: nie mehr

nicht.

Ich schreibe: scheint einen Abschluss zu finden, denn es geht natürlich weiter. Und um sich erkennbar zu halten, bildet der Text Neologismen aus, Winklersche Wortbildungen, die zuweilen schon einmal angestrengt wirken, in diesem Band aber wesentlich dezenter als in den vorangegangenen, als verlören die Texte ihre Schutzbedürftigkeit und gewännen an Souveränität:


der Wald entspricht genau dem Sendegebiet.
die meisten von uns holen und halten sich Farben, um sich
mit Mao zu bemalen.

(SCHEDULAMASU SAGT)


Und wo die Texte Erholung brauchen, werden sie Liebeslyrik und gehen in historisierendem Gewand durch Venedig. Ich hatte bei der Lektüre das Gefühl eines Durchgangs, eines Wechselbades aus jugendlichem Ungestüm und erfahrungssatter Weisheit, eine eigenartige Lektüreerfahrung, für die ich dem Autor äußerst dankbar bin.


Das erste Gedicht „Prospekt“, das geschickt mit der Doppelbedeutung aus Werbeanzeige und Prachtstraße spielt, hier finden sich, wie an anderer Stelle auch, Reminiszenzen an den Russischunterricht und das Vokabular der Deutsch-Sowjetischen-Freundschaft, mag Momente eines Abgesangs bergen, aber viel mehr ist es Verneigung vor Kollegen und Versicherung einer literarischen und regionalen Herkunft zugleich. Und während erstere, die literarische Herkunft also, Bestand zu haben scheint, muss letztere sich einer politischen Hülle entledigen, die Lebenswelt  sich gegen die Systemwelt abschotten, da das System, auch wenn es vergangen scheint, nicht müde wird, einen Zugriff zu versuchen. Es bewegt sich durch alle Zeiten und wird in den Texten mal mehr und mal weniger durchgespielt, am meisten natürlich in den Kindheitstexten, in denen dem Protagonisten das politische System noch nicht Begriff ist.
Aber immer wieder finden sich auch Strophen politischer Direktheit, wie diese, die zweite Strophe aus dem Text Familie und Gesellschaft:


Ich kann in deinem Schäfer-
hund bei Gott
keinen Homer erkennen,
bloß weil er auf einer von Stehpulten
umzäunten Koppel lebt.


Das ist wie gesagt die eine Seite, die andere etwas abgedrehte sprachspielerische, die Winkler bislang ausmacht, bleibt natürlich auch vorhanden. Der Band ist kein Winkler nach Winkler, auch wenn ich hier auf das Politische besonderes Augenmerk legte. Er holt sich Winkler selber zurück auf eine fast rührende Weise, indem er in einigen Texten die disparate Weltwahrnehmung des Kindes zelebriert.


hier blühte Strom aufs beinah Schönste.
wir Kinder im Halbkreis standen
uns die Hüfte in den Bauch. im Flur zum Garten
die Hummelnestlatschen – sie brummten.


(ERINNERUNGEN AUF BASIS DES BISHER GELEISTETEN VERGESSENS)


Es ist das Disparate, das diesen Band anziehend macht, jenes sich Entziehen einer vereinheitlichten Erfahrung durch Sprache.



Ron Winkler: Prachtvolle Mitternacht. Gedichte. Frankfurt a.M. (Schöffling & Co) 2013. 100 Seiten. 18, 95 Euro.

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