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Ron Winkler: Karten aus Gebieten

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Timo Brandt

Das Feld ist die Sprache



„Wie prekär doch alles ist, primär der Schönheit wegen!“


Ich habe mich vor Jahren im Anschluss an eine literarische Veranstaltung einmal sehr lange mit jemandem über die Gedichte von Ron Winkler unterhalten; insbesondere über den damals neu erschienen Band „Prachtvolle Mitternacht“.

Im Anschluss an meine Ausführungen fragte mein Gesprächspartner, warum mir denn Winklers Lyrik so unsympathisch sei, das habe er immer noch nicht ganz verstanden. Ich war verdutzt, rekapitulierte dann kurz unser Gespräch und kam zu dem Schluss, dass es wohl durchaus so gewirkt haben könnte, als hätte ich etwas gegen Winklers Gedichte – was aber nicht der Fall war oder ist.


Ich glaube allerdings, es ist leicht gegen Winklers Lyrik Vorbehalte zu haben und die Auseinandersetzungen mit ihr kann meiner Meinung nach nur differenziert ausfallen (und diese Tatsache allein macht seine Gedichte schon zu lesenswert). Denn in allen Werken, die ich bisher von ihm gelesen habe, liegen das Geniale und das Beliebige dermaßen nah beieinander, werden so ineinander verkehrt – man könnte sie nach einer Weile hier und da für austauschbar halten; so entsteht eine gewaltige Reibungsfläche, bei der man aber nicht weiß, ob sie der Aufsplitterung oder der Aufschlüsselung dient und die leicht unübersichtlich ist.

Was wird da angezogen, abgezogen, gerieben, geleitet, von dem Feld aus Sprache, das der Autor über das Sinnliche legt, das Haptische, das Imaginierte und Tatsächliche?

Jede Rotation einfangend, kreist die Platte der winklerischen Übertragung, bedient sich bei allen Wortschätzen und lässt daraus einen einzigen Code zusammenschmelzen, reproduzieren, variieren: Eine einzige Rille, aus der all die neologistischen Kunststücke, realzeitlichen Fragmente, die in Verwirrung versetzen Phrasen, subversiv auftretenden Gewöhnlichkeiten und wunderschönen Entkernungen aufsteigen und erklingen.


„Die Allergie ist besser worden. Ich muss nur
immer zwei Stunden über Trümmern warten,
bis es wieder geht.
Das Meer ist ein endloser Rapport von Wasser.
Manche baden darin andere, manche
baden keinen.
Es riecht vergänglich, aber gut.
Ich lebe von der Druckerweiße
auf dem Buffet. Und bilde
immer wieder Strände.
So lässt sich alles sehr leicht siegen.
Zu Prüfzwecken, erfuhr ich, ließ man mich
einmal ins Paradies. In allem war es
so, wie es nur eben sein kann“  


So viel zum Allgemeinen, zu jener Landschaft, in der ich zu stehen glaube, wenn ich über die Gedichte von Ron Winkler schreibe. Eine Landschaft, die mir an jedem Punkt sehr weit erscheint, aber es fällt schwer, irgendein hervorstechendes Merkmal zu finden, an dem man sich orientieren kann, denn die Landschaft selbst scheint dieses Merkmal zu sein. Die Karte ist das Gebiet, das Gebiet ist die Karte.

Und dann findet man sich plötzlich in einem Gedicht wieder. Im realen Sinn oder Unsinn einer Redewendung. Man steht im Gedicht. Es stoppt die Aufschüttung der Wirklichkeit und erschafft einen Raum, in dem die Dynamik der Zeilen vorherrscht und sie bestimmt. Der Verstand geht einem ein bisschen ab, die Vorstellung ein wenig auf. Der fragende Teil beim Vorgang des Lesens geht ein in das Sprechen des Gedichts.

Es ist eine großartige Erfahrung, wenn Winklers Gedichte zusammenhalten. Genauso gut können sie allerdings auch auseinanderfallen. Denn die andere Seite der Medaille war und bleibt: es kann streckenweise vorkommen, dass man meint, Ron Winkler schreibe irgendwie immer das gleiche. Variationen auf den eigenen Werkgedanken könnte man die Art nennen, in der manche Gedichte aus „Karten aus Gebieten“ ihr Verfahren offen zur Schau tragen und dieses dabei weder hinterfragen noch voranbringen – sie liegen darin wie in einer Hängematte. Das klingt jetzt hart, und wieder habe ich meinen Gesprächspartner im Ohr. Aber es geht mir eben nicht darum, Winklers Lyrik zu kritisieren, sondern auf die Diskrepanz hinzuweisen, die sich zwischen manchen Zeilen voll innovativer Spannung, voll aktueller Brisanz und anderen auftut, in denen ein geradezu sanftmütiges Dahinschreiben und das Reproduzieren des eigenen Duktus gepflegt werden.

„Es gibt kein Halten mehr. Die Wolken
finden keinen Himmel. Das Cockpit ist verklebt
mit Schmetterlingen, innen, auch
ich bin Toter Admiral zu manchen Zeiten.
Im Charaktersimulator durchkalbte mich etwas
großes Glaziales, ich maß sofort,
ob wir die Berge sahen und wer die Fremden waren
in unserem Stream. Poesie vielleicht?“


Es gibt kaum jemanden, der so schnell eine poetische Dynamik aufbauen kann wie Winkler, er kann schreiben, das steht schon seit seinem Debütband fest. Und seine Lyrik ist weit davon entfernt, langweilig zu sein. Und vielleicht ist es aufgrund all ihrer Vorzüge auch vermessen, sich zu mokieren, vielleicht sollte man lieber akzeptieren, dass eine Dichtung nicht alle Vorzüge haben kann, gerade wenn sie bereits so viele besitzt. Aber wenn es etwas gäbe, dass ich mir von Ron Winkler wünschen dürfte, dann wäre es: mehr Mut zur Klarheit, zur direkten Aussage, hier und da. Marko Dinic hat in seiner Besprechung von „Karten aus Gebieten“ auf einige Stellen hingewiesen, in denen eine solche Aussage gewagt wird, aber sie sind rar gesät und werden verdeckt von den tausend Fenstern, die aufpoppen, weil jeder zweite Satz von Winkler wie ein Link ist, den man anklicken kann: aber dann wartet nicht nur Interessantes, sondern ebenso Verheißendes, das zwar seinen Reiz in sich trägt, aber darüber hinaus kaum Greifbares stimuliert.

Winkler wagt sich in neue Geländearten auf dem Feld der Sprache und mit erstaunlicher Ernte, mit neuen Karten aus nie gesehenen Gebieten, kehrt er zurück. Es sind wertvolle Dokumente, diese Gedichte, daran will ich keinen Zweifel aufkommen lassen. Aber wenn sie einmal nicht ihren besonderen Sog entwickeln, hängen sie in der Luft, dann wirkt so manche ihrer Gesten schlicht verspielt oder wie ein ewiger Ansatz, der sich immer wieder rasch für etwas Neues entscheidet, ohne etwas einlösen zu wollen.

„Ein bisschen ist es schwierig mit der Schönheit, der frappanten Wucht
Man fährt tausendmal an einem Sachverhalt vorbei, dann ist er plötzlich schön.
Etwas ist schön, weil ich nicht weiß, warum.
Etwas ist schön, weil ich nicht genau weiß.
Oder ist schön, weil ich es weiß.
Weil ich es nicht wissen will.“


Am Ende des Bandes sind wir also wieder bei der Schönheit angelangt. Ich habe einen langen Umweg genommen, über die großartigen Momente und allerlei Kritik. Dass ich jetzt wieder bei der Schönheit ankomme, hat einen Grund: es geht nicht anders, man kommt an ihr nicht vorbei, sie ist ein Wesenszug in Winklers Dichtung. Schönheit als ein Prinzip, das die Sprache erreichen kann, in sie eindringt, weder als Klischee, noch als Phrase, vorausgesetzt, dass sie nicht in zu großer Einfachheit versumpft. Stattdessen mit einer gelungenen Formulierung etwas befreit, das tief in der Sprache eingekerkert ist. Denn die Sprache ist genauso ein Revolutionär wie sie auch ein Kerkermeister ist und deswegen muss sie auch ihre eigene Opposition sein, ihr eigener Aufstand, ihr eigener Widerstand. Winker beweist in seinem neusten Band einmal mehr, dass er einer der stärksten Anhänger dieses Widerstandes ist, ein getreuer Revolutionär, der an die Ideale seiner Revolution glaubt.  

Der englische Dichter W. H. Auden schrieb in einem Essay zu Virginia Woolf:

„Einmal setzte ich an zu schreiben: Wahrheit gibt es nicht. Dann war ich mir plötzlich nicht mehr sicher, was ich damit meinte. Also schrieb ich stattdessen ein Gedicht. Manchmal habe ich danach noch an den Satz gedacht, ihn gefühlt. Aber ich bin immer noch nicht sicher, was ich damit meine. Ich schreibe noch immer Gedichte. Irgendwie hängt das beides zusammen.“


Die meisten Dichter*innen ziehen nicht aus, um Schönheit zu suchen. Aber sie werden sie oft antreffen, in den Dingen, die sie gesucht haben, was immer das auch jeweils sein mag. Sie begleitet die Bewegung, die Dichtung unternimmt. Winkler bildet hier keine Ausnahme – und gleichzeitig doch, insofern, dass die Bewegung seiner Lyrik eine ausladende ist und die darin enthaltene Schönheit eine besondere, eine chaotische, willige, gnadenlose und dennoch unbeschreibliche Schönheit.

Ich ende so. Es gäbe noch mehr zu sagen und noch einiges, auf das hinzuweisen ich mir versagt habe. Man möge mir das verzeihen, aber ich kann keine Anleitung schreiben. Eine Rezension kommt an manches heran und um vieles herum. Das Abenteuer beginnt erst hier, am Ende, wo jedem gesagt sei: Lesen Sie selbst.



Ron Winkler: Karten aus Gebieten. Gedichte. Frankfurt a. M. (Schöffling & Co.) 2017. 112 Seiten. 20,00 Euro.

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