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Ricardo Domeneck: Körper: Ein Handbuch

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Jan Kuhlbrodt

Theoretisch vertraut


Erfahrungen mit den Gedichten Ricardo Domenecks


Wohin
ist nicht wichtig. Feiertag heute
in Berlin, morgen anderswo
der Wind
kappt jedes Haar


Konstante in meiner privaten
Gleichung für Geschichte



Ich bin diesen Texten am Anfang des Jahres zum ersten Mal begegnet, denn ich hatte die Aufgabe übernommen, in der Literaturwerkstatt Berlin die Premiere des Buches zu moderieren. Der Verlag hatte mir zur Vorbereitung der Veranstaltung die Druckfahnen geschickt, die ich mir auf mein Kindle geladen hatte und auf Grund des Mediums mit einiger Anstrengung las. Ich hätte mir die Texte ausdrucken sollen.

Aber mir waren die Texte, trotzdem das PDF auf dem Reader nicht wirklich gut funktionierte, seltsam vertraut, obwohl Ricardo Domenecks und mein Leben, unsere Alltagserfahrungen unterschiedlicher nicht sein könnten. Domeneck ist in Brasilien geboren und dort auch aufgewachsen, außerdem ist er ein ganzes Stück jünger als ich. Er lebt seit zehn Jahren in Berlin.  


Mein Portugiesisch, das ich an der Uni und während eines längeren Portugalaufenthaltes gelernt habe, ist noch rudimentär vorhanden und taugt, so dachte ich zumindest vor der Veranstaltung, kaum als Brücke zum Brasilianischen. Vermittelnde Instanz also waren die großartigen Übersetzungen von Odile Kennel, die sie in enger Zusammenarbeit mit dem Autor erstellt hatte.

Die sorgfältige Nichtbeachtung von angeblichen Gegensätzen in der Poesie, wie Subjektivität, und Objektivität, Schriftlichkeit und Mündlichkeit, Hoch- und Populärkultur, die seit Beginn der Moderne in Brasilien diskutiert werden, ist dabei Programm.“ schreibt sie in ihrem Nachwort.


Nichtbeachtung? Im Grunde ja. Die Nichtbeachtung der Fremdheit und Unterschiedlichkeit, denn mir waren die Brasilianischen Diskurse und die zeitgenössische Brasilianische Dichtung bis dato unbekannt. Einzig Autoren wie Amado kannte ich noch von früher, weil er eher aus politischen Gründen in den Regionen meines Aufwachsens eine Rolle spielte und das Brasilienbild auf eine gewisse Weise bestimmte.

Während der Veranstaltung, die ich also moderierte, fiel das Headset aus, über das mir die Übersetzung der portugiesischen Beiträge eingeflüstert wurde. Merkwürdigerweise merkte ich es erst nach einer ganzen Weile. Zauberei? Ich glaube nicht. Ich habe Ricardo verstanden. Irgendwie schienen sich meine Sprachkenntnisse in kurzer Zeit wiederhergestellt zu haben.

Es muss an einer Vertrautheit liegen, die sich nicht aus geografischer Herkunft oder sexueller Orientierung speist, sondern aus theoretischen Positionen und Diskursen, die uns beiden bekannt waren, denn in Gesprächen, die sich der Buchpremiere anschlossen, stellten wir fest, dass sich unser Denken aus ähnlichen philosophischen Lektüren speist. Vielleicht ist auch das ein Merkmal der Globalisierung, dass sich die theoretischen Positionen theoretisch angleichen und sich eine neue globalisierte Kultur über Traditionsräume hinweg bildet und manifestiert.


Sollte der Planet Euphorie bereit sein
zum Walzer hinter der Sonne? Hoffentlich


Aber dieses Angleichen heißt nicht, dass sich die Unterschiede verlören. Die kolonialen und postkolonialen Geschichten bleiben im Hintergrund präsent, und schieben sich zuweilen auch vor die Lektüren. Und es wäre auch kein Problem mit den Texten Domenecks auf die Suche nach Exotik zu gehen. Aber das ginge an den Gedichten vorbei.


Ich weiß, es klingt wie ein altes Cliché, als wollte man dem edlen Wilden aus europäischen Köpfen des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts Leben einhauchen, wenn ich hier schreibe, Ricardo Domenecks Texte sind ungezähmt, stammt der Dichter doch aus einem Land, das in Tourismusprospekten gerne als Land von Samba und Karneval beschrieben wird. Ungezähmt aber meint hier das Gegenteil von dem, was wir den Südamerikanern mit kolonialem und postkolonialem Blick gern unterstellen. Ungezähmt heißt also nicht wild oder etwa vorzivilisatorisch.
Vielleicht ist ungezähmt auch ein falsches Wort für die diskursgesättigten Gebilde, die Domeneck vorlegt, denn sie sprechen für ein hochreflektiertes Bewusstsein, ein mit allen theoretischen Wassern der Moderne und Postmoderne gewaschenes, eines, dass im höchsten Moment den Einspruch gegen eigenes Wissen formuliert:


Wäre
es möglich, ich beauftragte
Lem
oder die Brüder Strugazki mit dem
Skript
unserer künftigen Tage und Nächte


Was in den Gedichten zuweilen vielleicht als unmittelbare Erotik empfunden wird, ist weit mehr als Grenzüberschreitung, mehr als ein Spiel mit der Schamgrenze. Der Körper, der dem Band ja den Titel gibt, wird nicht gefasst als das dunkle Ding, das es zu erkunden gilt, die Texte ziehen nicht, wie es Pornografie tut, einen Vorhang vor Altbekanntes, um ihn dann, mit großem Tam Tam beiseite zu nehmen, sondern spielen viel mehr mit dem Wissen und seiner konstruktiven Funktion. Der Körper, von dem hier die Rede ist, ist Produkt eines Diskurses und zugleich sein Schauplatz und nichts, das was dem voraus geht. Akteur ist die Sprache.


Doch das Bild findet
        keine Entsprechung
            in meinem Organismus
       und ich betrachte erneut
       meine Füße


Die tradierten Positionen gilt es zu parodieren, um den Körper aus der Umklammerung eben der Pornografie und der Zurichtung zu befreien. Insofern sind Domenecks Texte auch und vor allem politische Lyrik.


In „Immerzu Exil“ heißt es:


die Illegalität meines Körpers
treibt mir das Essen
aus dem Magen


Philosophisch finden sich unter anderem Gedanken aus Foucaults „Sexualität und Wahrheit“ formuliert, in dem der Körper zwar einerseits als Quelle der Lust beschrieben wird, aber andererseits eben auch als das Schlachtfeld biopolitischer Diskurse in verschiedensten Abstufungen. Natürlich ist diese meine Lektüre auch eine einseitige, die auf theoretische und politische Positionen zielt, aber das scheint mir im Augenblick wichtig.



Ricardo Domeneck: Körper: Ein Handbuch. Portug./dt. Übers. Odile Kennel. Berlin (Verlagshaus J. Frank) 2013. 240 S., 16,90 Euro.

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