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Reiner Kunze: die stunde mit dir selbst

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Timo Brandt

Wehmut zu allererst – „und grüßt mir alles schöne“


„Vertrocknet ist entlang dem leeren weidegang
der weiße schaum des pferdekümmels
und die abdrücke der hufe härteten längst aus

vergebens hofft am haus
die grüne regentonne“

Reiner Kunzes Gedichtband „die stunde mit dir selbst“ beginnt überwiegend harmlos: Kapitel I ist gefüllt mit Sommer- und Winterbildern, mit Idyllen von unterschiedlicher Schwere und Größe, die aus einer Alltagsruhe heranschaukeln.

Ein Verlangen nach möglichst klaren, minimalverfänglichen Bildern scheint das lyrische Ich zu leiten, und gleichsam zaghaft und bestimmt setzt es mit seinem Spiel ein, spielt aber nur ganz wenige Akkorde. Die aber scheinen sofort tiefe Zusammenhänge hervorzurufen, etwa wenn Kunze nach einen Jahrhundertschneefall schreibt:

„Obwohl noch auf der erde,
schaufeln wir uns durch den himmel“

Kunze instrumentiert seine Sprache wohlüberlegt und gerade deswegen trifft, wenn er dann deutlich wird – oder seine Worte sich zumindest ins Deutliche neigen –, diese Deutlichkeit noch mehr. Etwas von dieser Deutlichkeit, die später – vor allem in Teil IV und V – eine wichtige Rolle spielt, klingt schon an in dem Motto des zweiten Kapitels, einem Satz von Reinhold Schneider:

„Ich bin nicht lebensmüde; aber es reicht, ich habe genug gesehen für mein Billet.“

Kunze, so scheint es, hat diesen Band schon als (möglichen) Abschiedsband konzipiert. Erstmal geht es aber in Kapitel II ums Reisen, vor allem nach Osteuropa, vor allem in die Ukraine, nach Czernowitz – Geburtsstadt von Paul Celan und Selma Meerbaum-Eisinger, denen er jeweils ein Gedicht widmet.

Auch die Reisegedichte haben etwas Behutsames, aber weniger als die Gedichte aus dem ersten Teil – in ihrer Behutsamkeit stecken einige Stacheln, gerade wenn es um die Situation in der Ukraine (anno 2013/14) oder um die Shoah geht. Wieder setzen Kunzes Gedichte ein, spielen ihre Akkorde und verklingen, scheinbar ohne auf etwas Konkretes eingedrungen zu sein; sie äußern sich mit filigraner Reife, verbleiben in der selbstgewählten poetischen Dimension.
 
„Die menschheit mailt
Du suchst das wort, von dem du mehr nicht weißt,
als dass es fehlt“
    
Teil III setzt sich vor allem mit dem Schreiben, mit dem Dichtersein auseinander. Es ist das schwächste Kapitel, denn auch wenn Kunze eine Art Summe seiner dichterischen Einsichten präsentiert, wirkt das in Form von Gedichten und bei Kunzes speziellem Duktus wie etwas Runtergebrochenes, zu rasch, zu sehr auf einen Punkt zulaufend.

„Die Menschen setzen die menschheit
aufs spiel
Doch du kommst von den menschen nicht los
Das nichts strahlt wärme nicht zurück“

In Teil IV sind die kritischen, die hadernden, die haltlosen Gedichte versammelt. Hier merkt man auch wieder: bei den richtigen Themen kann Kunze mit seiner unspektakulären Art brillieren, hier ist die Knappheit ein Vorteil, denn er braucht Dinge nur anzuspielen und der Rest entfaltet sich von selbst, die Sätze wirken wie Zaubersprüche.

Drei Zeilen genügen, das ganze Dilemma des Zwischenmenschlichen aufzurufen, zu vertiefen. Die Entfremdung des Menschen von der Menschheit ist allgegenwärtig (und das war vielleicht nie anders) und doch kann kaum einer von sich sagen, dass er von den Menschen loskäme (wie auch, wenn man selbst einer ist). An wen oder was sollte man sich sonst wenden? Man kann sich in vielem anderen verlieren, aber nur Lebewesen strahlen Wärme zurück.

In diesem Teil IV arbeitet sich Kunze also an der Menschheit ab, an den Fallhöhen der Gegenwart, an der Entfremdung. Seine kurzen Stücke erscheinen dabei manchmal wie Hintertüren, mit deren Hilfe er dem Zeitgeist unerwartet schnell auf die Schliche kommt.

„Das schweigen ist die antwort,
die frage das verhängnis
das denken das gefängnis“

Im letzten Teil geht es dann ums Altern, ums Dämmern, ums Abschiednehmen. Kunze breitet schöne Hoffnungen neben nahenden Dunkelheiten aus, und sie fließen beim Lesen der Gedichte ineinander über. Mit jedem Gedicht, so hatte ich das Gefühl, geht es leiser zu – und gleichzeitig verständlicher, als würde die Lautstärke nichts mit der Hörbarkeit zu tun haben.

So wenig Versöhnung wie es Absage ist, schließt das Kapitel den Band und entlässt die Leser*innen in eine Ungewissheit, die, plötzlich, auf sie selbst zurückfällt. Eben wurde diese Stelle noch von dem lyrischen Ich eingenommen, das von ihr sprach – im nächsten Moment fährt sie in die Lesenden, fordert sie auf, zu einer Stunde mit sich selbst. Kunzes Gedichte haben ihre Eigenart, aber in dieser Eigenart blüht immer wieder große Poesie, die sich mit etwas verständigt, mit dem Bewahrenswerten, das wir in uns selbst finden müssen, um uns und die Welt zu retten – vor was oder wem auch immer.  

„Das gedicht – ein hirnstoßdämpfer,
der die erschütterungen abfängt
auf dem kopfsteinpflaster der zeit
[…]
Wer in vieler sprachen poesie zu hause ist,
findet am grund der verzweiflung ein wort,
das lächelt“            


Reiner Kunze: die stunde mit dir selbst. Gedichte. Berlin (S. Fischer Verlag) 2018. 72 S. 18,00 Euro.
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