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Reimfrei: elf nach elf

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Dirk Uwe Hansen

Gesprächsbereitschaft



Anthologien entstehen in den meisten Fällen so, dass zunächst ein Rahmen festgesetzt wird, sei es ein thematischer, ein chronologischer, geographischer oder poetologischer, der dann mit von den Herausgeber*innen ausgewählten Gedichten gefüllt wird.
Einen solchen Rahmen hat (und braucht) diese Anthologie nicht, Themen und Techniken der einzelnen Gedichte sind denkbar unterschiedlich, ja, mit dem einleitenden Gedicht von Christel Steigenberger wird jeder Gedanke an so etwas wie eine „Dichterschule” von vornherein ausgeschlossen:


ICH BESITZE EIN BUCH mit allen regeln / alles was jemals galt oder gilt // auch alle zukünftigen regeln / die erst noch gelten werden / sind darin vermerkt // das buch besitzt ein schloss mit genau einem schlüssel / den werfe ich morgens und mittags und abends noch weg


Und auch wenn fast alle Beiträger*innen in München wohnen, so ist diese Sammlung gewiss nicht als Anthologie Münchener Lyrik zu verstehen. Und doch gibt es einen ganz äußerlichen, sogar exakt bestimmbaren Rahmen für die Sammlung „elf nach elf”: Es ist das Protokoll einer Lesung der Münchner Autorengruppe Reimfrei, die am 15. Juni 2015, im elften Jahr des Bestehens dieser Gruppe also, im Lyrik Kabinett in München stattgefunden hat.

Man mag sich nun fragen, ob das, was als Rahmen für eine Abendlesung sicherlich ausreicht, auch als Rahmen für ein ganzes Buch ausreichend ist — mit dieser bangen Frage habe zumindest ich die Lektüre begonnen.

Es ist, um dies gleich vorauszuschicken, und dafür gibt es drei Gründe: die kluge Auswahl der Texte, die ebenso klugen verbindenden Texte von Pia-Elisabeth Leuschner (die über die auf dem Titelblatt angekündigte „Moderation” weit hinausgehen) und die Tatsache, dass die hier versammelten Gedichte, wie die Dichter*innen offenbar auch, stets bereit sind, in ein Gespräch miteinander einzutreten.

So sind die Texte dann auch nicht in Blöcken nach den einzelnen Beiträger*innen angeordnet, sondern in der Art eines Gespräches ineinandergeschoben, ja Karin Fellner und Andrea Heuser sprechen an einer Stelle sogar gleichzeitig auf einer zweispaltig mit zwei Gedichten gleichzeitig bedruckten Seite. Und so ergeben sich Gespräche ganz unterschiedlicher Stimmen, die einander ergänzen, kontrastieren oder auch ab und zu gegenseitig ins Wort fallen (ob etwa Jürgen Bullas Bilder mit Ruth Wiebuschs Blick unter die Oberfläche kontrastiert werden, oder Armin Steigenbergers Abklopfen von Wörtern auf Ann-Kathrin Asts Abklopfen von Tönen trifft), Äußeres aufnehmen und in den poetischen Zusammenhang einbauen (von Fellners Umgang mit Fachsprachen bis hin zu Mythologien von den Lakota-Sioux bei Andrea Heuser, bis zu Kaiserin Sissi bei Augusta Laar) oder auch die verschiedenen Ebenen des Erzählens auskosten (von Sabina Lorenz’ Geisterhäusern über Frank Schmitters präzise Miniaturen zu Markus Breideneichs Schilderungen des Surrealen). Pia-Elisabeth Leuschners Moderation ist es dabei zu verdanken, dass dieses Gespräch genügend Raum hat, sich auszubreiten, aber dennoch nicht ins Unkenntliche ausufert.
Bei dieser Lesung wäre ich gern im Publikum gewesen.



Reimfrei: „elf nach elf“. Lesung der Münchner Autorengruppe am 15. Juni 2015 im Lyrik Kabinett, München - mit Ann-Kathrin Ast, Markus Breidenich, Jürgen Bulla, Karin Fellner, Andrea Heuser, Augusta Laar, Sabina Lorenz, Frank Schmitter, Armin Steigenberger, Christel Steigenberger, Ruth Wiebusch. Moderation Pia-Elisabeth Leuschner. München (Allitera Verlag – Lyrik Edition 2000). 2016. 92 Seiten. 11,50 Euro.

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