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Pia Tafdrup: Tarkowskis Pferde

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Timo Brandt

Die endlichen Sätze der Erinnerung



„Das Gehirn kann ich nicht fühlen
                                               obwohl es doch das meine ist,
nicht spüren wie mein Herz, mein Geschlecht.
Das Gehirn ist leise,
wie kein andres Organ
im Körper,
aber stets wach.
Mit den Händen
greife ich,
           das fühlt man.
Mit dem Hirn
begreife ich,
           das fühlt man nicht“


So leise ist das Gehirn, dass sein Verfall, seine Zersetzung nicht immer direkt zu bemerken, nicht immer direkt zu verstehen ist. Wir sind aus Erinnerungen gegossen und man merkt durchaus, spürt, wie der Guss an manchen Stellen rostet, brüchig wird, aber es kann auch passieren, dass plötzlich alles dahinschmilzt, in einer Hitze, gegen die man nichts tun kann. Zwischen den Erinnerungen entstehen Lücken und Gegenwart und Vergangenheit verschwimmen im dahin- und davonfließenden Gedächtnis, eine furchtbare Variation auf das Sinnbild des Heraklit.
    In den Gedichten der dänischen Dichterin Pia Tafdrup geht es um die Demenzerkrankung und den Tod ihres Vaters. Mit immer neuen Ansätzen, einer einfachen und doch bestechenden Metaphorik, versucht sie das Verschwinden des Vaters zu ergründen, seine wachen und hellen Momente zu beschreiben, sein Zerfließen und das Aufblitzen darin zu dokumentieren. Unter die Oberfläche zu tauchen und hervorzuholen, was noch da ist.


„Obwohl er doch lebt,
such ich nach
           meinem Vater in meinem Vater …
[…] Zeit und Raum sind klare Schatten,
                                               Flammen frieren.“


Das Nachdenken über Anwesenheit und Abwesenheit, angestoßen durch die Lektüre. Und der Moment, in dem ich begreife, dass die Sprache eine Anwesenheit erschafft, wo Abwesenheit das dominierende Gefühl, die vorherrschende Gegebenheit wäre. Über den fernen und schließlich toten Vater zu schreiben, wirkt deshalb wie etwas Selbst-verständliches, etwas Sinnhaftes, weil die Sprache aus Willkür und Zersetzung noch etwa Ganzes formen kann. Auch ein Fragment spricht; was Schrift festhält, kann von allen Seiten betrachtet werden, sie ist ein Destillat und nicht die Stimme eines geliebten Menschen, in dem die Jahre und Tage mitschwingen und von dem man stets Regungen erwartete, die nachvollziehbar oder klar sind oder ihm zumindest ähnlich sehen. In seine Verwirrung kann man keine Ordnung bringen, außer man entnimmt sie ihm und stellt sie in die Sprache, knüpft die Fasern zu Mustern, zu Strängen.

Oft habe ich mich bei der Lektüre an die „Birthday Letters“ von Ted Hughes erinnert gefühlt. Sein Leben lang behandelte er in diesen Gedichten das Leben mit und ohne seine toten Frau Sylvia Plath – schrieb über sie, an sie, mit ihr, durch sie. Ich fand und finde diese Gedichte von Hughes uneingeschränkt bewundernswert, und sie gehören zu dem Großartigsten, was ich in Sachen Poesie gelesen habe. Dennoch habe ich auch immer die Kritik verstanden, die ihnen entgegengebracht wurde und wird. Da stellt sich jemand hin und fängt einen Menschen ein – nicht nur, was er/sie einem bedeutet hat, ist Thema, nein, es wird versucht zu sagen, mitzuteilen, festzustellen, wer er/sie war. Man gibt Details aus dem Leben preis und vermischt sie mit der eigenen Wahrnehmung, den eigenen Gedanken, den Aussagen des anderen, formt das Ganze zu poetischen Bewegungen. Ist das Lebendige darin, das Bild das man gewinnt, ein Abbild des Menschen oder der Mensch als Bild?


„Und Hut und Handschuh verschwunden
spurlos wie Regen auf Wasser.
[…]
Der Spiegel ist so still, so unentschlossen,
wenn mein Vater hineinschaut.“


In jedem Fall hat Pia Tafdrup eine beeindruckende Menge an Ausdrücken und Wendungen gefunden, um ihre Entfernung zum Vater und gleichsam seine Lebensrealität zu beschreiben. Und „Tarkowskis Pferde“ ist ein erschöpfendes und reiches Dokument einer Auseinandersetzung mit den Fluchten und leuchtenden, verblassenden Kräften unserer Erinnerung. Ein filigranes Hinterfragen des Verständnisses von der Welt im Auge des Vergessens.
    Erschöpfend, dieser Umstand muss dennoch betont werden, denn trotz der zahlreichen starken Momente, hat man dann und wann doch das Gefühl, das manche Formulierungen und Stichpunkte sich zu deutlich wiederholen – das wirkt manchmal wie ein Betonung, die aufhorchen lässt, manchmal wie eine redundante Feststellung, die die Nähe zur Figur des Vaters dämpft.


„Eine Sternenkarte kann das Gewimmel der Gedanken
nicht entziffern, die sichtbar
                                   zersplittern
und entblößt sind wie das Innere der Häuser
nach einem Bombenangriff im Krieg.“


Wiederholte Motive bei der Rückschau ins Leben des Vaters sind der 2. Weltkrieg, in welchem die Familie nach Schweden emigrieren musste, die Natur seiner Kindheit, die Liebe zur Mutter. Letztere wird bedrückend und gleichsam ergreifend in einem Gedicht dargestellt, in dem die Tochter mit ihren Eltern spazieren geht und sie auf einmal wie Jungverliebte wirken – durch das was der Vater erzählt, wie er sich mit seiner Frau zusammen benimmt. Und er erinnert sich sogar, was er als junger Mensch über die alten Menschen dachte, spricht es aus und in diesem einen Moment, wo er gleichsam jungverliebt, alt, voller Lebensfreude, voller Erinnern und Weisheit und doch voller Vergessen und Hilflosigkeit ist, kann die Sprache für einen Moment scharfstellen, begreiflich machen, wie sich die Strecke des Lebens auch als Kreis ausnehmen lässt, als Kugel. Ein einzelnes Gefühl, das sich in alle Richtungen ausdehnt wie die Wellen, nachdem ein Tropfen das Wasser traf.
    In den letzten Gedichten geht es dann um den Krankenhausaufenthalt des Vaters, sein Sterben und dann wieder: das Erinnern. Denn wo das Erinnern des einen endgültig endet, beginnt vollends das Erinnern des anderen. In den Gedichten verschmilzt die Autorin ihre eigene Erinnerung mit dem, was sie von den Erinnerungen ihres Vaters noch weiß. Sie ist das, was von den Erinnerungen des Vaters übrig geblieben ist.
    „Tarkowskis Pferde“ ist aufwühlend, anrührend, tief. Aber auch leicht, direkt – und die Scheu darin wird immer wieder gebrochen durch Heftiges, Klares, dem Leben in die Augen Schauendes.


„-Es tut weh-
ist der letzte Satz, den mein Vater
zu mir sagt
          auf seinem Sterbebett.
Nach einem ganzen Tag
ohne irgendein Gespräch
steht dieser Satz
klar
wie eine Scherbe glänzen kann.“



Pia Tafdrup: Tarkowskis Pferde. Gedichte. Dänisch / deutsch. Übersetzt von Peter Urban-Hall. München (Stiftung Lyrik Kabinett) 2017. 117 Seiten. 22,00 Euro.

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