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Orsolya Kalász: Das Eine

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Alexandru Bulucz

Fragen und keine


Zu Orsolya Kalász Gedichtband Das Eine


Verstehen heißt Antworten (1987) lautet der Titel einer hermeneutischen Studie des jüdischen Gelehrten, Psychiaters und Psychoanalytikers Aron Ronald Bodenheimer (1923 – 2011). Seine Leitfrage: Wie entspreche ich meinem Gegenüber (im Beruf dem Analysanden, im Alltag Freunden und Arbeitskollegen, im Beziehungsleben meinem Partner) am besten? Seine Antwort: Indem ich ihm öfter antworte und es seltener befrage. Damit schreibt Bodenheimer sein bekanntestes Werk fort, Warum? Von der Obszönität des Fragens (1984), das der Dekonstruktion der überlegenen Position des Fragers galt: Jeder kennt Fragen, die in ihrer beabsichtigten oder unbeabsichtigten Übergriffigkeit weniger dem Dialog als vielmehr einer inquisitorischen Bloß- und Infragestellung des Befragten den Boden bereiten. Aber warum sollte ich meinem Gegenüber antworten, wenn er nach nichts fragt? Bodenheimer weitet seinen Begriff der Psychoanalyse einerseits auf den Alltag aus: Lebenszeichen und Mitteilungen (des Analysanden) werden als Anfragen (an den Analytiker) verstanden. Das einfühlsame Antworten, welches das Gegenüber nicht informierend, erklärend, rechthaberisch in die Schranken weist, sondern in der Gleichberechtigung Platz nehmen lässt, reicht von wortloser über nachahmende zu körperlicher Verständigung und steht als Deutung in begleitender, weiterführender, störender Funktion. Bodenheimer selbst erzählt, wie ihm einmal ein Bonbon ins Gesicht gespuckt wurde; er hob es auf, lutschte weiter. Andererseits weitet er den Begriff der Psychoanalyse auf die Dichtung des späten Hölderlin aus, an der er die weiterführende Funktion des Antwortens, das Antworten in der gleichen (psychotischen?) Sprache, verdeutlicht. „Guten Morgen, Herr Hölderlin. Das Unverständliche und die Unverständigen“ betitelt er das Kapitel. Das also der Punkt, von dem aus Das Eine Orsolya Kalászs seinen Ausgang nimmt.


Drei Texte tragen Bodenheimers Verstehen heißt Antworten im Titel, aber die Wörter „Frage“ und „Antwort“ samt ihren Abwandlungen tauchen auch in den anderen immer wieder auf. Unentwegt fragt und antwortet Kalász, aber das tut sie, nicht ohne zugleich ihre Fragen und Antworten zu hinterfragen. Ernst und schön ist ihr Gedichtband, dicht und manchmal narrativ, liebestrunken und tiefsinnig, tier- und wappenkundig. Das show, don’t tell wird dabei durch ein answer, don’t ask ergänzt, so etwa, wenn es heißt: „Der beste Schildhalter aller Zeiten / muss her, keine Frage: / Wir brauchen einen Antwortgeber.“ (An die Merlette) Wenn ein Gedichtband einen Antwortgeber braucht, dann hat er erkannt, dass die Frage, auf die er eine Antwort sein will, eine gute ist. Aber eine gute Frage ist die, auf die es keine Antwort gibt, zumindest keine endgültige, keine harte: „Ich kann es, ich kann es wirklich! / Alles, was du hart machst, / lasse ich flüssig werden.“ (Was ich kann)

Kalászs Untersuchung zur Phänomenologie der Frage beginnt im ersten Gedicht (Verstehen heißt Antworten I): Es ist ihr „ernst“ mit der Frage, „schrecklich“ sei sie manchmal, wie die Antwort, „die es nicht schafft, die Frage / vor sich selbst zu schützen“. Das Motiv des Schreckens taucht wieder auf in der Gegenüberstellung von unerwiderter Liebe und „Schauer des Entzückens“ „ungefragt“ auslösender Evolution. Zwischen der Beschaffenheit der Frage und derjenigen der Antwort zu unterscheiden, fällt zusehends schwerer. Das Wissen darum, „wie unvorstellbar viel / die Antworten verlangen“, macht die Furcht vor den Fragen immer größer. Die ritualisierte Trauerarbeit kann nicht alles verarbeiten. Wie in Freuds „Trauer und Melancholie“ bleibt ein Rest Trauer zurück: „ein Leben lang werden wir sie [die Fragen] / im Kopf behalten, / und nie passiert es umgekehrt“, nie und nimmer werden wir uns die Antworten ein Leben lang merken.

Fragen führen ein eigenes Leben (Verstehen heißt Antworten II), „haben uns alles voraus, / haben so viele Antworten abgeschüttelt / um bei sich zu bleiben, nicht bei uns, / die wir sie beschwören / und doch keine Geduld für sie haben“. Damit verdeutlicht Kalász den religiösen Gehalt der Frage, deren Wesensverwandtschaft mit dem Klagelied, wie es von der spätromantischen Tradition, in der sich auch Scholem befand, verstanden wurde: als „Sprache der Grenze“, auf die es keine Antwort gibt. So schreibt Kalász von der „Frage, die keine Antwort mehr ertrug“. Umgekehrt gibt es, wie bei Bodenheimer, Antworten, denen keine ausdrücklich gestellten Fragen vorausgehen: „Antworten kann man auch ohne Frage“. Kalász behandelt Liebkosungen in der Kindheit und im Liebesleben als fraglose Antworten. Solche zwischenmenschlichen Verhältnistypen (zwischen Mutter und Kind und zwischen Liebhabern) bezeichnet Martin Buber als tiefe, als „wesentliche Beziehungen“, und auch Kalász verwendet dabei einen Terminus, ohne den Bubers Dialogik nicht zu verstehen wäre: die „Fürsorge“.

Ohne zu übertreiben, könnte man schließlich behaupten, dass die Frage das fundamentum inconcussum von Kalászs' Poesie ist. An einer Stelle steht sogar die „Frage im Zweifel“ (Im heraldischen Stil). Dass sie ihre Phänomenologie der Frage an die Heraldik koppelt, darf m.E. nicht verwundern. Was sonst, wenn nicht die Heraldik, ist im hohen Maß um Fragen der Genealogie und der Abstammung bemüht. Aber während die Heraldik einen starken historischen Bezug hat, drängen Kalász Fragen zum Ahistorischen, zum Universellen, zum unteilbaren Einen eben – das Henne-Ei-Problem –. Ihr geht es nicht um historisch bedingte „vererbbare Erscheinungen“ (Idee) – gerade die will sie dekonstruieren –, sondern um die zeitlosen Eigenschaften des Menschen, zu denen man sich mit Fragen hindurchbohren muss – wie ein kleines Kind mit seinem „obszönen Warum“ in die Gehirne der Väter und Mütter. Die Fähigkeit, in einer „wesentlichen Beziehung“ den Anderen zu lieben, ist nur eine davon.



Orsolya Kalász: Das Eine. Gedichte. Berlin (Brueterich Press) 2016. 88 Seiten. 20,00 Euro.

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