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Novalis: Fragmente

Poeterey



Fragmente vermischten Inhalts
(aus den Schlegel-Tieckischen Ausgaben) III, Fr. 204



Wie der Maler mit ganz andern Augen als der gemeine Mensch die sichtbaren Gegenstände sieht – so erfährt auch der Dichter die Begebenheiten der äußren und innern Welt auf eine sehr verschiedne Weise vom gewöhnlichen Menschen. Nirgends aber ist es auffallender, daß es nur der Geist ist, der die Gegenstände, die Veränderungen des Stoffs poetisiert, und daß das Schöne, der Gegenstand der Kunst, uns nicht gegeben wird oder in den Erscheinungen schon fertig liegt – als in der Musik. Alle Töne, die die Natur hervorbringt, sind rauh und geistlos – nur der musikalischen Seele dünkt oft das Rauschen des Waldes, das Pfeifen des Windes, der Gesang der Nachtigall, das Plätschern des Bachs melodisch und bedeutsam. Der Musiker nimmt das Wesen seiner Kunst aus sich – auch nicht der leiseste Verdacht von Nachahmung kann ihn treffen. Dem Maler scheint die sichtbare Natur überall vorzuarbeiten, durchaus ein unerreichbares Muster zu sein. Eigentlich ist aber die Kunst des Malers so unabhängig, so ganz a priori entstanden als die Kunst des Musikers. Der Maler bedient sich nur einer unendlich schwereren Zeichensprache als der Musiker; der Maler malt eigentlich mit dem Auge. Seine Kunst ist die Kunst, regelmäßig und schön zu sehn. Sehn ist hier ganz aktiv, durchaus bildende Tätigkeit. Sein Bild ist nur seine Chiffer, sein Ausdruck, sein Werkzeug der Reproduktion. Man vergleiche mit dieser künstlichen Chiffer die Note. Die mannigfaltige Bewegung der Finger, der Füße und des Mundes dürfte der Musiker noch eher dem Bilde des Malers entgegenstellen. Der Musiker hört eigentlich auch aktive. Er hört heraus. Freilich ist dieser umgekehrte Gebrauch der Sinne den meisten ein Geheimnis, aber jeder Künstler wird es sich mehr oder minder deutlich bewußt sein. Fast jeder Mensch ist in geringem Grad schon Künstler. Er sieht in der Tat heraus und nicht herein. Er fühlt heraus und nicht herein. Der Hauptunterschied ist der: der Künstler hat den Keim des selbstbildenden Lebens in seinen Organen belebt, die Reizbarkeit derselben für den Geist erhöht und ist mithin imstande, Ideen nach Belieben, ohne äußre Sollizitation, durch sie herauszuströmen, sie als Werkzeuge zu beliebigen Modifikationen der wirklichen Welt zu gebrauchen; dahingegen sie beim Nichtkünstler nur durch Hinzutritt einer äußern Sollizitation ansprechen und der Geist, wie die träge Materie, unter den Grundgesetzen der Mechanik (daß alle Veränderungen eine äußre Ursache voraussetzen und Wirkung und Gegenwirkung einander jederzeit gleich sein müssen) zu stehn oder sich diesem Zwang zu unterwerfen scheint. Tröstlich ist es wenigstens zu wissen, daß dieses mechanische Verhalten dem Geiste unnatürlich, und, wie alle geistige Unnatur, zeitlich sei.

Gänzlich richtet sich indes auch bei dem gemeinsten Menschen der Geist nach den Gesetzen der Mechanik nicht; und es wäre daher auch bei jedem möglich, diese höhere Anlage und Fähigkeit des Organs auszubilden. Um aber auf die Unterschiede der Malerei und Musik zurückzukommen, so ist gleich das auffallend, daß bei der Musik Chiffer, Werkzeug und Stoff getrennt, bei der Malerei aber eins sind und eben deshalb bei ihr jedes in abstracto so unvollkommen erscheint. So viel, dünkt mich, werde daraus gewiß, daß die Malerei bei weitem schwieriger als die Musik sei. Daß sie eine Stufe gleichsam dem Heiligtume des Geistes näher und daher, wenn ich so sagen darf, edler als die Musik sei, ließe sich wohl gerade aus dem gewöhnlichen enkomischen Argumente der Lobredner der Musik folgern, daß die Musik viel stärkere und allgemeinere Wirkung tue. Diese physische Größe dürfte nicht der Maßstab der intellektuellen Höhe der Künste sein und eher kontraindizieren. Musik kennen und haben schon die Tiere; von Malerei haben sie aber keine Idee. Die schönste Gegend, das reizendste Bild werden sie eigentlich nicht sehn. Ein gemalter Gegenstand aus dem Kreise ihrer Bekanntschaft betrügt sie nur. Aber als Bild haben sie keine Empfindung davon.

Ein guter Schauspieler ist in der Tat ein plastisches und poetisches Instrument. Eine Oper, ein Ballett sind in der Tat plastisch poetische Konzerte, gemeinschaftliche Kunstwerke mehrerer plastischer Instrumente. (Tätiger Sinn des Gefühls. Poesie.)

(Durchdringung von Plastik und Musik – nicht bloß Vermittelung.)




Fragmente (aus den Studienheften), 52



Poesie. Die Poesie hebt jedes Einzelne durch eine eigentümliche Verknüpfung mit dem übrigen Ganzen – und wenn die Philosophie durch ihre Gesetzgebung die Welt erst zu dem wirksamen Einfluß der Ideen bereitet, so ist gleichsam Poesie der Schlüssel der Philosophie, ihr Zweck und ihre Bedeutung; denn die Poesie bildet die schöne Gesellschaft, die Weltfamilie, die schöne Haushaltung des Universums.

Wie die Philosophie durch System und Staat die Kräfte des Individuums mit den Kräften der Menschheit und des Weltalls verstärkt, das Ganze zum Organ des Individuums und das Individuum zum Organ des Ganzen macht – so die Poesie, in Ansehung des Lebens. Das Individuum lebt im Ganzen und das Ganze im Individuum. Durch Poesie entsteht die höchste Sympathie und Koaktivität, die innigste Gemeinschaft des Endlichen und Unendlichen.

Der Dichter schließt, wie er den Zug beginnt. Wenn der Philosoph nur alles ordnet, alles stellt, so löst der Dichter alle Bande auf. Seine Worte sind nicht allgemeine Zeichen – Töne sind es – Zauberworte, die schöne Gruppen um sich her bewegen. Wie Kleider der Heiligen noch wunderbare Kräfte behalten, so ist manches Wort durch irgendein herrliches Andenken geheiligt und fast allein schon ein Gedicht geworden. Dem Dichter ist die Sprache nie zu arm, aber immer zu allgemein. Er bedarf oft wiederkehrender, durch den Gebrauch ausgespielter Worte. Seine Welt ist einfach, wie sein Instrument – aber ebenso unerschöpflich an Melodien.

Alles, was uns umgibt, die täglichen Vorfälle, die gewöhnlichen Verhältnisse, die Gewohnheiten unserer Lebensart, haben einen ununterbrochnen, eben darum unbemerkbaren, aber höchst wichtigen Einfluß auf uns. So heilsam und zweckdienlich dieser Kreislauf uns ist, insofern wir Genossen einer bestimmten Zeit, Glieder einer spezifischen Korporation sind, so hindert uns doch derselbe an einer höhern Entwicklung unsrer Natur. Divinatorische, magische, echt-poetische Menschen können unter Verhältnissen, wie die unsrigen sind, nicht entstehn.

(Das Gedicht der Wilden ist eine Erzählung ohne Anfang, Mittel und Ende – das Vergnügen, das sie dabei empfinden, ist bloß pathologisch – einfache Beschäftigung, bloß dynamische Belebung des Vorstellungsvermögens.

Das epische Gedicht ist das veredelte primitive Gedicht. Im wesentlichen ganz dasselbe.

Der Roman steht schon weit höher. Jenes dauert fort, dieser wächst fort; in jenem ist arithmetische, im Roman geometrische Progression.)

(Wer keine Gedichte machen kann, wird sie auch nur negativ beurteilen. Zur echten Kritik gehört die Fähigkeit, das zu kritisierende Produkt selbst hervorzubringen. Der Geschmack allein beurteilt nur negativ.)

(Poesie ist die Basis der Gesellschaft, wie Tugend die Basis des Staats. Religion ist eine Mischung von Poesie und Tugend – man errate also – welche Basis?]

(Wie die Masse mit dem schönen Umriß verbunden ist, so das Leidenschaftliche mit der Beschreibung im Kunstwerk.)

(Der Künstler ist durchaus transzendental.)

Poesie ist die große Kunst der Konstruktion der transzendentalen Gesundheit. Der Poet ist also der transzendentale Arzt.

Die Poesie schaltet und waltet mit Schmerz und Kitzel, mit Lust und Unlust, Irrtum und Wahrheit, Gesundheit und Krankheit. Sie mischt alles zu ihrem großen Zweck der Zwecke – der Erhebung des Menschen über sich selbst.

(Die transzendentale Poesie ist aus Philosophie und Poesie gemischt. Im Grunde befaßt sie alle transzendentale Funktionen und enthält in der Tat das Transzendentale überhaupt. Der transzendentale Dichter ist der transzendentale Mensch überhaupt.)

Von der Bearbeitung der transzendentalen Poesie läßt sich eine Tropik erwarten – die die Gesetze der symbolischen Konstruktion der transzendentalen Welt begreift.

(Das Genie überhaupt ist poetisch. Wo das Genie gewirkt hat – hat es poetisch gewirkt. Der echt moralische Mensch ist Dichter.)

(Der echte Anfang ist Naturpoesie. Das Ende ist der zweite Anfang – und ist Kunstpoesie.)

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