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Michael Longley: Gefrorener Regen

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Timo Brandt

Zwischen Kriegen und Frieden dichten



„If you were to read my poems, all of them, i mean,  
                                                           Solltest du meine Gedichte lesen, alle, meine ich,
My life’s work, at the one sitting, in the one place,
                                                           Mein Lebenswerk, in einem Zug, an einem Ort,
Let it be here by this half-hearted waterfall
                                                           Dann tu es hier an diesem halbherzigen Wasserfall,
That allows each pebbly basin its separate say
                                                          – Jedem kiesigen Becken erteilt er das Wort“


Während der Lektüre der Gedichte des nordirischen Schriftstellers Michael Longley, habe ich zwischendurch das Buch öfters mal zugeschlagen, die Augen geschlossen und versucht, mir die beschriebenen Szenarien ganz deutlich vorzustellen. Kaum eine Dichtung, die ich in letzter Zeit gelesen habe, war so darauf ausgerichtet, nicht nur Atmosphären zu transportieren, sondern sich haptisch zu verorten, nicht nur lyrische Bewegung zu sein, sondern eine Gestalt zu haben, die im Gedicht zutage tritt und als Bild einen Eindruck hinterlässt.

Abgesehen von diesem allgemeinen Zug lassen sich drei größere Themenbereiche ausmachen (die aber auch nicht alle Elemente abdecken). Das erste wiederkehrende Motiv ist die Natur, insbesondere die Naturbelassenheit, Umgebungen also, die noch ein bisschen etwas von einer Wildnis haben. Auf diesem Gebiet sind Longleys Gedichte allerdings nicht ganz so genuin und dicht wie die seines nordirischen Kollegen Seamus Heaney. Man findet in ihnen nicht ganz so viel Vertrautheit und Nähe – dafür aber dann und wann eine größere Begeisterung, ein erfülltere Ausprägung. Natürlich ist auch das Gegenbild, die vom Menschen erschlossene, aber nie ganz gebändigte Natur, Teil dieses Themenbereichs.


Hinten auf dem Holzstoß
Unter der Casa
Scheite, die nie brennen werden,
Die sich zersetzen Jahr
Für Jahr, Vergesslichkeit,
Kellerassel, Skorpion.





Desintegrating year
By year, forgetfulness,
Woodlouse, scorpion.

Ein anderes Thema ist der Krieg. Oder besser gesagt: die Kriege. Denn nicht nur der Nordirlandkonflikt wird in Longleys Gedichten aufgegriffen und behandelt, sondern auch der erste Weltkrieg und der spanische Bürgerkrieg. Auffallend bei diesen Werken ist, dass sie trotz der ähnlichen Topoi keinen gemeinsamen Ton haben – vielmehr hat die jeweilige Bearbeitung viel mit der Entfernung zum jeweiligen Geschehen zu tun. So fällt das Gedicht über die Kriegspoeten des 1. Weltkriegs (die fast alle auf dem Schlachtfeld fielen und in Großbritannien durchaus so etwas wie ein eigener Mythos sind) geradezu malerisch aus, gleichzeitig heftig und grotesk; um dann mit dem Satz


„Und immer war es die letzte Woche des Krieges.“


zu enden. Diese Gruppe der sprichwörtlichen War Poets ist schon zu etwas Abstraktem geworden – und doch sind ihr Schicksal und ihre Dichtung gerade nicht abstrakt, was der ungewöhnliche Verlauf von Longleys Gedicht gut einfängt.

Ein anderes Gedicht, das an einen im spanischen Bürgerkrieg gefallenen Briten (der anscheinend selbst auch dichtete) erinnert, ist sehr viel persönlicher und verbietet sich nicht den Zug des Elegischen.

„Begraben zwischen den Wurzeln jenes Olivenbaums, bist du
Holz und Frucht und der Himmel zwischen dem Geäst,
Durch das man lesen kann, da es für immer die Gedichte
Speichert, die du nie schreiben wirst im Schatten des Baumes,
Wenn er die gefallenen Oliven umreißt und die Olivensteine.“


Der spanische Bürgerkrieg gehört einer anderen Epoche an (und fand außerdem in einem anderen Land statt), dementsprechend lässt sich die persönliche Verbindung zu dem Gefallenen von den sonstigen historischen, ideologischen und gesellschaftlichen Aspekten isolieren.

Anders ist es natürlich, wenn es um den nordirischen Konflikt geht, der zwar nie wirklich ein offener Krieg war, aber durchaus eine Zeit lang (vor allem auf dem Höhepunkt des IRA-Terrorismus und der britischen Gegenmaßnahmen) für die Leute in Irland so gewirkt haben muss; die Situation Nordirlands war lange, wie es Heaney einmal schrieb, „ein ungelöstes Problem, dessen Auswüchse man bekämpfte, das man aber ansonsten sich selbst überließ“.

Entsprechend direkter und schnörkelloser fällt der Anfang eines Gedichtes mit dem Titel „Der zivile Beamte“ aus:

„Er briet sich eben ein Ulster-Frühstück
Als jemand in die Küche kam und ihn erschoss:
Die Kugel drang in seinen Mund, durchschlug den Schädel,
Die gelesenen Bücher, die Musik, die er zu spielen wusste.“


Die Direktheit der Szene, das Unwillkürliche und Ungefilterte (und Unwirkliche) daran, das alles lässt gar keinen Zweifel an dem fehlenden Abstand, den Longley zu solchen Szenen hatte und den er auch vermitteln wollte. Der Einbruch dieser nicht nachvollziehbaren und doch stattfindenden Gewalt wird noch in einem anderen Gedicht thematisiert, in dem Longley über seinen Vater schreibt.

Er brach zusammen neben seinen Schlappen,
Ohne einen Laut, durch den Kopf geschossen
Von einem schlotternden Burschen, der eindrang,
Ehe sie den Fernseher leiser drehen konnten
Oder das Abendbrotgeschirr wegräumen.
Zu den Kindern, der bestürzten Frau   
Sagte er wohl: ‚Tschuldigung, Missus.‘







To the children, to a bewildered wife,
I think ‚Sorry Missus‘ was what he said.“

Der Irrsinn und die Gewalt treten ungeschmückt auf, werden so aber nicht durch irgendeine Metaphorik transzendiert, sondern stehen in aller Deutlichkeit mitten im Gedicht, schneidend. Auch wenn dies mithilfe einfachster Schilderungen geschieht, bin ich doch gebannt, bestürzt. Und auch beeindruckt, denn es gibt kein Ventil, es gibt nur die Darstellung.

Eine dritte Kategorie sind die persönlicheren Werke Longleys, in denen er beispielsweise den Tod seines Zwillingsbruders verarbeitet (ein anrührendes Gedicht, das er zu beider Geburtstag schreibt und in dem er seinen Bruder wieder als Kind, das im Teich planscht, imaginiert) oder Geschehnisse und Episoden seines Lebensweges aufruft. Einige dieser Gedichte sind auch Liebesgedichte:

Ein Eisberg in der Dunkelheit,  
In der wir uns küssen. Mein   
stoppeliger Bart rötet ihr Kinn.

Sie ist eine Rock-’n’-Rollerin.  
Teilen möchte ich mit ihr   
Symphonische Fragmente,  

Schneewehen hin zu ihrem Thema.


An iceberg in the dark
Where we kiss, my bristly
Chin reddening her chin.

She’s a rock-’n’-roller.
I want to share with her
Symphonic fragments

Snowdrifting towards their theme.

Dieser Ausschnitt ist der Anfang eines Gedichts mit dem Titel „Sibelius, 1956“. Ich zitiere es unter anderem auch, um kurz auf die Übersetzung zu sprechen zu kommen. Im Großen und Ganzen finde ich sie sehr gelungen, was aber hier und da auffällt, sind die kleinen, etwas widersinnigen Freiheiten, die sich die beiden Übersetzer (Hans-Christian Oeser und Jürgen Schneider) genommen haben.
    Warum z.B. wird in der Übersetzung von „Chin reddening her chin“ nicht die zweimalige Bezeichnung „Kinn“ aufgenommen? Warum wird sie durch den Bart ersetzt, obgleich keine Notwendigkeit besteht? Das ist meiner Meinung nach eine nichtadäquate Wiedergabe des Originals, und darum sollte es ja gehen, ums Wiedergeben – Übersetzer*innen sollen Texte ja nicht verbessern, oder? Auch den Punkt hinter „küssen“ kann ich nicht verstehen, denn das ändert ja etwas an der Dynamik des Gedichts, was von Longley sicher nicht so geplant war.

Es sind Kleinigkeiten und doch gibt es einige davon. Alberto Manguel schrieb in „Eine Geschichte des Lesens“, dass er Rilkes Übersetzungen von Louise Labé eben deswegen schätze, weil Rilke sich Freiheiten nahm und mit seinen Übersetzungen neue Sinnzusammenhänge erschuf, die Labés Dichtung auch zu Rilkes Zeit noch aktuell erscheinen ließ. Im Fall von Longley empfinde ich die Übersetzungsfreiheiten aber eher als Ungenauigkeiten, die sich mir nicht erklären.


Mit dem ersten Schritt verscheuche ich die Märzenten,
Die die Hälse übers Torfmoor recken, dorthin, wo
Dreizehenmöwen über Wellen schrappen: dann, der Kreis
Erweitert sich, Kiebitze, Brachvögel, Schnepfen,
Bis mir nur noch ein Schwan bleibt, den ich auf die
Andere Seite seiner wachsenden Verachtung stoße.






I am left with only one swan to nudge
To the far side of its gradual disdain.

Schaut man sich das Cover an und versucht sich vorzustellen, was für eine Art von Gedichten unter dem Titel „Gefrorener Regen“ erscheinen, könnte man am Ende dieser Besprechung fast meinen, dass beide, Titel und Cover, eine falsche oder zumindest eingeschränkte Vorstellung von dem Band vermitteln. Gerade die Wahl des Vogels als Motiv wirkt, als wolle man Longley sehr klar neben Seamus Heaney stellen (dessen Band Gesammelte Gedichte bei S. Fischer eine Amsel auf dem Cover trägt).

Doch ist es wichtig, Longley als eigenständigen Dichter zu begreifen, der eine größere Leichtigkeit in seiner Poesie zulässt als Heaney. Im Nachwort wird Longley einmal mit dem Ausspruch zitiert: „Wenn ein Dichter sich nicht selbst überrascht, wird er auch niemand anderen überraschen.“ Diesem Motto ist er treu geblieben, zumindest spiegelt es sich in den Beiträgen dieser Sammlung wider. Geradezu unordentlich geht es hier manchmal zu und obgleich sich Themen herauskristallisieren, bleibt das nächste Gedicht immer so etwas wie Neuland, kann Überraschungen bereithalten.



Michael Longley: Gefrorener Regen. Gedichte. Engl./Dt. Übersetzt von Hans-Christian Oeser und Jürgen Schneider. München (Edition Lyrik Kabinett bei Hanser) 2017. 112 Seiten. 18,60 Euro.  

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