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Meinolf Reul: Rhapsodische Gedanken zu Ann Cottens Versepos "Verbannt!"

Memo/Essay > Aus dem Notizbuch


Meinolf Reul


„es würzt / jedes Gedicht von mir die Schwere freien Falls.“
Rhapsodische Gedanken zu Ann Cottens Versepos Verbannt!



Das Lesen setzt immer schon vorher ein. So ließe sich mit einer Abschweifung beginnen. Das Buch in Händen zu halten und aufzuschlagen, damit fängt es ja nicht an. Es fängt an mit der Ankündigung auf der Webseite des Verlags. Das türkisfarbene Cover mit der Palme ist dort schon zu sehen. Der Verlagstext liefert erste Daten (Inhalt, Genre, Seitenumfang, Ausstattung). Dann ist das Buch da. Es folgen erste Besprechungen, Interviews, hier und da ein Tweet oder Posting mit einem Zitatschnipsel:

„Dass auch die flachen Böden süße Möhren bergen, // ist allen Möhrenfreunden wohlbekannt.“ Ann Cotten.


Eine Buchpremiere wird annonciert.

Kurzum, Lesen geschieht nicht Knall auf Fall, es bahnt sich an – und „zu Ende gelesen“ haben, das geht auch nicht wie eine Klappe fällt, sondern gleicht einem langsamen Ausblenden. Das zu Ende gelesene Buch liegt noch da, seine aufgerührten Energien müssen erst wieder zur Ruhe kommen (denn Sprache ist Energie, das gilt nicht zuletzt für Cottenisch), ab und zu wird es noch mal aufgeschlagen, werden noch mal einige Zeilen gelesen werden. Und diese Nachlese kann in ein Schreiben münden, gut möglich, in einen Tagebucheintrag, einen Mailkommentar, eine Kritik vielleicht.

„Ah, Verbannt!
„Kennst du?“
„Ja.“
„Ja – und?“

Premiere


Als Ann Cotten am 8.4.2016 in einem galerieähnlichen Raum in der Potsdamer Straße 98 in Berlin-Tiergarten Verbannt! öffentlich vorstellte, war das Haus voll. Die frühere Suhrkamp-Verlegerin saß mit einem bekannten Kritiker und weiteren, nicht identifizierten Personen auf einer in den Raum gebauten Treppe, Cottens Kolleginnen aus der Rotten Kinck Schow waren zugegen und manche anderen aus dem (trotz anderslautender Vorurteile) einander wohlwollenden Kreis der Dichterinnen und Dichter. Sie alle saßen auf Sitzwürfeln oder standen im Eingang oder längs der Wände, die von zahlreichen s/w-Kopien mit zum Teil umfänglichen (wissenschaftlichen, lexikalischen) Texten bedeckt waren; es gab auch einige illustrative Aushänge – beispielsweise einer österreichischen Bierpartei – doch überwog der Eindruck, von einer Tapete aus Arbeitstexten umgeben zu sein, wie sie einem im Studium zum gründlichen Lesen aufgetragen werden: Ann Cotten lud dazu ein, sie mit bereitliegenden Textmarkern weiterzubearbeiten, sie sei damit nicht fertig geworden.

Neue Leute kamen von draußen.
Die Romanistin und Übersetzerin Theresia Prammer sprach einführende Worte. Sie stellte eine Verbindung zum 500 Jahre alten Orlando furioso (Der rasende Roland) von Ludovico Ariosto her – war es über die Strophenform der Stanze oder über ein beiden Epen gemeinsames Gemüse?
Sie machte ihre Sache gut, eine Kusshand ward gesehen.
Ann Cotten, in stilvoll buntem Kostüm japanischer Anmutung, die Frisur mit Nadeln und Gümmichen gebannt, trug dann einige Gedichtstrophen vor, gab hier und da Erläuterungen. Beim Rezitieren so gleichgültig wie – vermutlich – beim Schreiben entflammt, brach sie bald ab. Sie schien mehr daran interessiert, dem Publikum die Ausstellung zu präsentieren, das mitgebrachte Meyers Konversations-Lexikon von 1910 in 22 Bänden, das sie aus einem Papiercontainer gerettet hatte und das als eines der drei Dinge für die vermeintlich einsame Insel eine prominente Rolle in Verbannt! spielt (Messer und Schleifstein sind die anderen), die Kopien und Ausdrucke an den Wänden, die „Fechner-Descartes-Enge“, die „Hegelland“ getaufte Garderobe, den DJ (deef). Mit einem Mikrophon in der Hand durchschritt sie den ganzen Raum und wies mal hier-, mal dorthin, erwähnte – bei Gelegenheit einer Elemententafel – ihren Vater, der Chemiker sei, und gab auf konzentriert-zerstreute Weise die extravagante, aber einnehmende Conférencière, die mit reservierter Freundlichkeit Kopfnüsse verteilt wie Botticellis Flora Blumen.


Tosende Palmen, ein Rascheln im Sellerie

 
Verbannt! zählt 19 Kapitel zuzüglich einer Einleitung und eines wortlosen Epilogs. Ein Inhaltsverzeichnis rafft das Abenteuer auf zweieinhalb Seiten zusammen, die abschließenden „Intelligentia“ geben knappe Anmerkungen zum Text.

Die Handlung lässt sich in drei oder dreißig Sätzen erzählen: Fernsehmoderatorin wird wegen Missachtung gesellschaftlicher Regeln auf die Insel „Hegelland“ verbannt und verwandelt sich dort vorübergehend in den Götterboten Hermes (Hermes Wolpertinger, genau zu sein). Das Internet namens Pan Orama „emergiert“ mit 26 Frauen im Kabelsalat. Alle bringen Unordnung in die einheimische Inselbevölkerung, die sich aus Göttern, dem Abenteurer und Erfinder Wonnekind und seiner Zeitung machenden Quäker-Mannschaft zusammensetzt, wie auch diese die Neuankömmlinge verwirren. Am Ende „bricht alles zusammen, verfällt in rasendem Tempo“. Die letzte Zeichnung zeigt einen verlassenen, vermüllten Strand.

Diese Großerzählung wird von zahllosen quirligen Binnenerzählungen übersprudelt und hier und da ausgewaschen, so dass für eine stete Unruhe und Vielsinnigkeit und eigentlich Orientierungslosigkeit gesorgt ist. Dies ununterbrochene Verwirbeln („Ich scratche Wirklichkeit“, beschreibt die expatriierte Fernsehmoderatorin das Verfahren in anderem Zusammenhang treffend) macht das Buch zu einer fordernden Lektüre, weil der „Leserin“ fortlaufend von Strophe zu Strophe neue inhaltliche und sprachliche Plosionen, Zündungen und Reibungen ins Verstehen fuchteln, die das kognitive Vermögen überreizen. Sie bringen das Gehirn zum Flackern.

Ann Cotten hat ihrem Gedicht gut zwanzig Zeichnungen beigegeben (bereits die Fremdsprachensonette waren mit eigenen Vignetten versehen). Sie sind integraler Bestandteil des Werks, kein Gimmick. Überaus gekonnt, bewegen sie sich stilistisch zwischen zackiger Comic-Schmissigkeit und der wunderbar akribischen Schnörkelei eines Heinrich Vogeler. Einige Seiten reproduzieren Ausschnitte der landeseigenen Zeitungen Na-Presse (= Naive Presse), Zy-Presse (= Zynische Presse) und Wisch-Blatt, die alle von einer toten Frau am Strand berichten, über die im Text sonst kein Wort fällt. Mysteriös.


Marinetti, Brecht, Perec – Cottens Verwandtschaften


Im 20. Jahrhundert war Brecht der letzte, der sich der Form des Epos' bediente, dann war damit erst einmal Schluss. Mit der Elegie verhält es sich ebenso. Aber im Jahr 2009, noch nicht dreißig Jahre alt, veröffentlichte Ann Cotten Das Pferd. Elegie, und jetzt eben das Versepos Verbannt! Das kann ein Zufall sein. Das kann kein Zufall sein. Folgt als nächstes ein Lehrstück? Eine Oper?
Der nonchalante Ton, der tingelnde, politisch angespitzte „Revue-Stil“, die Sensibilität für Machtverhältnisse, der Rückgriff auf englische Barockdichtung – dies alles könnte sich Ann Cotten von Brecht abgeschaut haben.
Aber es gibt weitere Verwandtschaften, z. B. Georges Perec, der große Vertreter des Oulipo, jener literarischen Schule, die sich Steine in den Weg legt, um auf grünere Wiesen zu kommen. Man kann Verbannt! als oulipotisches Werk lesen. (Dann würde es Oulipo immer schon gegeben haben.) „Hometrainerrad“, „Frischkäsemuffin“, „Hochfalsettverein“, „Sägeprägung“ oder „Wundernerz“ – diese ganz erstaunlichen Reimwörter, die in Verbannt! zum Zuge kommen, verdanken sich ja nicht (nur) schriftstellerischem Übermut, sondern formalen Zwängen, wie sie sich aus der Form des Epos ergeben. Die Dichterin schreibt Stanzen – nicht weniger als 403, was enorm ist – und nimmt es recht genau mit dem Reimschema, das sie notfalls auch mit Hilfe brachialer Zeilenumbrüche einzuhalten bestrebt ist, oder eben mit poesiefremden Wörtern beispielsweise aus der Comicsprache („zisch“, „Boff!“, „baff!“, „Vavüüm!“). Auch österreichische, althochdeutsche oder Hiphop-Ausdrücke gehören zum Vokabular, nicht unbedingt als Reimwörter („kneißen“, „kiesen“, „dissen“), desgleichen spontane Wortprägungen und vieles andere mehr. Das ist spielerisch, witzig, schnell und erweitert die Möglichkeiten dessen, was in einem Gedicht wie sagbar ist – und wenn nicht das, so erinnert es zumindest an die sprichwörtliche, viel zu wenig genutzte dichterische Freiheit. Cotten beansprucht sie gleicherweise in poetischem und politischem Sinn.

Ob die krumme Strophenzahl mit dem Fehlercode 403 (mit der Bedeutung „verboten“) zusammenhängt? Ein Epos zu schreiben heißt ja (eigentlich) dem Passatismus zu dienen, und ist das erlaubt? Die Formwahl ist bei Ann Cotten aber nicht als affirmativ, retro oder eben passatistisch zu verstehen. So erklärt sich auch ihre Verbeugung vor den Futuristen: „Herr Marinetti“ persönlich hat (wie auch Brecht und Perec) einen kurzen namentlichen Auftritt.

Der englische Ableger des Futurismus nannte sich Vortizismus, abgeleitet von lateinisch vortex („Wirbel, Sturm“). Der Wirbel gehört wesentlich zur Ikonographie und Kultur von Hegelland. Die Insulaner (bevor die Moderatorin und später die Frauen aus dem Internet kommen, sind es nur Männer) haben der Schraube einen Tempel errichtet und bekennen sich zur „Schraubenreligion“. „[D]och muss das Volk ein blinder Fleck verbinden“, beschreibt Wonnekind deren Funktion und erklärt die Erhebung der Schraube zur Gottheit, weit entfernt von jeglichem Mysterium, schlicht mit der Häufigkeit ihrer Nutzung. Sie ist aber auch ein Symbol der ruhigen Koexistenz und des Gewährenlassens.

Sieh, wie sie friedlich auf den Fujiyama steigen,

wie der Kürbisse Ranke um die Stange greift!

Nebeneinander in die falsche Richtung, dieser Reigen
seliger Geister lässt uns Konflikte vermeiden,

indem man sich andauernd, aber leicht nur, streift.


Diesem ausgleichenden Prinzip ist als „Gottheit Nummer zwei“ das Zerbrechen beigesellt; es „stört die Ordnung des Kosmos“.

Es ergibt durchaus Sinn, dass Ann Cotten, keine Freundin fester Rollenzuschreibungen, sich gerade die rein männlich bestimmte – überdies in ihren Schöpfungen betont virile und martialische – Kunstrichtung des Futurismus/Vortizismus aussucht, um hier exemplarisch eine feministische oder queere Neuprogrammierung vorzunehmen. So kann z B. der priapische Hermes Wolpertinger (als temporäre körperliche und psychische Alternativgestalt der Fernsehmoderatorin) als Transgender-Umdeutung der berühmtesten und markantesten vortizistischen Skulptur – des „Rock Drill“ (Gesteinsbohrer) – begriffen werden, den Jacob Epstein zwischen 1913-1915 schuf.
Darüber hinaus deuten die Buchhinweise auf den letzten Seiten von Verbannt!Traurige Tropen (Claude Lévi-Strauss), Flüchtlingsgespräche (Bertolt Brecht), Das unbesetzte Gebiet (Volker Braun), Die bewohnte Insel (Arkadi und Boris Strugatzki) u. a. – einen Referenzrahmen an, der für das Verständnis des Cotten'schen Epos' hilfreich sein kann.


Eine politisch-philosophische Robinsonade


Verbannt! ist ein ungemein vielgestaltiges, nicht zu fassendes Buch. Die Erfindungsgabe Cottens ist bewundernswert, ihre Sprache in Wortschatz und improvisatorischer Intelligenz überreich, ohne dass dies unbedingt ausgespielt werden müsste. Zwischen philosophischer Reflexion und Zote ist alles drin.
Das Personal weist ein weites Spektrum auf: Es gibt neben der Moderatorin/Hermes Wolpertinger, Wonnekind und dem Internet in Person von Pan Orama: weibliche Internetflüchtige (nicht -flüchtlinge, wie der Verlag schreibt) – ihre aparten Namen nicht zu nennen, wäre Verschwendung (Cemile, Dörte, Katka, Esra, die vier Ilsen, Latosha, Dunja, Zooey u.a.) –, einen sprechenden Pelikan, eine sprechende Eselin, die „mit ihrer Leselust Wechselstrom zubereitet“, alphabetisierte „Grießkochziegen“, einen „Verein der Kryptomerienfreunde“ (mit ihrem Obmann Karma Kandisin), Matrosen, Drucker, Techniker, Redakteure und eine Syrinx.
Das Themenspektrum reicht von der „Verarbeitung des Weltplastikmülls aus Vogelperspektive“ und Bierbrauen über Wolken („meistens mit sich selbst beschäftigt, dennoch fleißig / erscheinend nach außen, so fluffig wie eigentlich eisig“), Fragen nach den Kategorien Zeit, Substanz, Seele, Schönheit bis hin zu Medien, dem immer aktuellen Feminismus und dem Primat des Praktischen vor der Dogmatik. Engstirnigkeit nämlich ist der Fernsehmoderatorin (an einer Stelle, im dritten Kapitel, wird sie Ann genannt) ein Graus. Was ihr vorschwebt: „ohne Ideologie“ zu agieren, „nicht zugehörig, reine Tat.“ Stets gilt es abzubiegen, bevor „Praxis zum Prinzip wird“.

Es stimmt, was Orama sagte, zu eng ist noch der Kanon

des Denkbaren, was Frauen
angeht. Man kann sie hauen,
begatten oder nur anschauen.

Doch wie lenk ich die Blicke auf vielfältigere Bahnen?  


Dieser Themenkatarakt lässt zuweilen Raum für phantasievoll ausgemalte Miniaturen wie die von den Kobras, die den Grieß, den die Ziegen produzieren, „in ihre kühlen Tücher des Lächelns falten / und in die Kühlräume tragen, wo sie ihn in Regale schlichten“, oder den Bronzevögeln, die von den Inselbewohnern in Fallen gelockt werden, wo sie  Federn lassen, die für die Fertigung von sogenannten Vogelkupferblättern verwendet werden. Dann lässt man sie wieder frei. Im Gedicht heißt es an dieser Stelle (es spricht Wonnekind):

Jedoch gibt es manchen, der zu Komplettverwertung rät.

Mir scheint ratsamer, wir belassen es dabei.


Hier wird beiläufig die Utopie einer anderen, postkapitalistischen, nicht auf totaler Ausbeutung menschlicher und irdischer Ressourcen fußenden, Ökonomie gestreift.
Es geht auf der geselligen Insel nämlich auch darum, „Mulden des Wirtschaftslebens“ zu finden, auf dass sich nicht das Schicksal der Touristen wiederhole: „Globalisierte Marktwirtschaft hat sie komplett verdorben, / sie fühlen sich von allem entweder bedroht oder umworben“. Eine gerechtere Wirtschaftsorganisation könnte vielleicht auch drohender Radikalisierung wehren. Wer sagt, er wolle das Abendland retten, will doch in erster Linie ein sicheres Plätzchen für sich selbst.

Als traditionsbewusste Erneuerin, erfindungsreiche Usurpatorin und Neuinterpretin klassischer Genres (Sonett, Elegie, Versepos) und Genera (Gender), die ihr (vielleicht) Zaudern und ihren Überschreitungswillen auf äußerst anziehende Weise mischt, gehört Ann Cotten zu den inspirierenden, ausstrahlenden Figuren der deutschsprachigen Literatur. Sie versucht was Neues und riskiert etwas. Mehr kann man von Zeitgenossenschaft nicht wollen. Jetzt wäre nur zu wünschen, dass ihr Erfolg die Verlage dazu bewegte, wieder vermehrt auch deviante Schreibweisen zu beachten und wertzuschätzen. Mehr Luft!

Ann Cotten: Verbannt! Versepos. Mit Illustrationen von Ann Cotten. Berlin (Suhrkamp Verlag / Sonderdruck edition suhrkamp) 2016. 176 Seiten. 16,00 Euro.

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