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Marcel Beyer: Das blindgeweinte Jahrhundert

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Timo Brandt

Die Verschwommenheit der Wirklichkeit und das dunkle Wasser der Sprache



„Die Kamera ist bestechlich. Die Sprache ist es nicht. In eine Photographie spielen, anders als in einen Text, zu viele Subjektive, das Ergebnis beeinflussend Faktoren hinein. Vielleicht zeigt sich, wo Wort und Bild in der Schmetterlingskunde zusammentreffen, einmal beispielhaft, wie wenig nah Wiedererkennen und Erkennen verwandt sind.“

In seinem neusten Buch „Das blindgeweinte Jahrhundert“, erweist sich Marcel Beyers Sprache als überaus bestechend (und eben nicht bestechlich) in der Darstellung und teilweise auch in der Verkörperung der Pose. Das mediale 20. Jahrhundert: eine Pose und Beyers Sprache ein meisterhafter Resonanzkörper, der einigen Momenten und Erschütterungen eben jenes Jahrhunderts filigran ihre eigene Dimension wieder zurückgibt, sie jenseits ihrer medialen Größe mit eigenen sprachlichen Mitteln entblättert. Aber warum muss Sprache überhaupt mühsam entzerren, was doch eigentlich so gut dokumentiert vor uns liegt?


Das Problem ist, dass immer jetzt ist und niemals gestern. Wovon berichtet werden kann, das hat stattgefunden, hat sich ereignet, aber passiert nicht gerade jetzt. Dieser Umstand zieht verschiedene Probleme nach sich; u.a. die Frage, welche Dokumente als stichhaltige Beweise oder Verkörperungen einer Wirklichkeit gelten können oder sie sinnhaft trans-portieren.

Die Fotographie und der Film (und eigentlich jedes digitale Medium, vom Blog bis zu Diensten wie Twitter und Facebook) gaukeln oft vor, dieses Problem gelöst zu haben. In Wahrheit macht gerade ihre Erfindung die Lage noch verzwickter, und die Darstellung einer vermeintlichen Wirk-lichkeit wird noch manipulierbarer und der Glaube an einfache Darstellungen der Wirklichkeit noch verlockender (und man könnte an dieser Stelle noch weiter ausholen und zum Beispiel über die Problematik popkultureller Dimen-sionen in der dokumentarischen Scheinwelt Hollywoods nachsinnen.)

Feststeht: die Frage nach den Mitteln der Dokumentation – und das damit einhergehende Problem der Deutungshoheit und Verallgemeinerung historischer Entwicklungen und Gegebenheiten – bleibt bestehen. Beyer entscheidet sich in seinem Buch (dessen Inhalt sich mit dem Inhalt seiner Poetik-Vorlesungen deckt) nicht für eine kritische Direktauseinandersetzung, sondern für ein nie genau einzuordnendes Unterwandern und Ausloten und spekuliert mit der Sprache am Rande der messbaren Aussage.

Es herrscht die Zeitlupe vor und das Unabgeschlossene, das die Schrift im Gegensatz zum Film und zum Foto nicht leugnen kann. Und im Fokus: die Tränen, anhand einer Reihe von Beispielen, literarischer und medialer Art – angefangen bei dem berühmten Busenattentat auf Adorno, wenige Monate vor dessen Ableben (zu dem sich erst in späteren Jahren ein Zeuge findet, der bei Adorno Tränen gesehen zu haben meint, die seine Wangen herunterkullerten), über Helmut Kohls Besuch am Grab Rilkes (auf dem jener rätselhafte, selbstgewählte Spruch zu finden ist, in dem es wohl um die Träne geht), einige Monate vor der Wiedervereinigung, und andere Geschichten, bis hin zu jenem letzten Kapitel über eine Schmetterlingsart, die sich von Tränen ernährt.

Scheitert die Literatur an der Wirkungsmacht der anderen Medien, ist sie dazu verdammt, eine diffuse Art der Darstellung zu sein, vielschichtig, divers, aber nie bedeutsam? Diese Fragen schwingen mit in Beyers havarierendem und doch, immer wieder, scharf zuschlagendem Essay, der sich dem Diffusen hingibt und es gleichzeitig aufbricht, sobald seine Sprache weit genug unter die harte, glatte Schale der Dinge gedrungen ist.

Uwe Barschel, Theodor W. Adorno, Dominique Strauss-Kahn. Was haben sie gemeinsam? Sie sind Teil einer Geschichte der Tränen und Teil einer Geschichte der medialen Fragwürdigkeit. Man sollte aber das Buch nicht auf eine Studie reduzieren, die sich dieser Geschichte annehmen will – Beyer hat ein umfassendes Gespür für viele Themen, Personalien, & Verweise, die sich im Umfeld seiner gewählten Beispiele auftun, und allerhöchstens könnte man die beiden obengenannten Geschichten als Geländer bezeichnen; als hellroten Faden, der manchmal im Lichte der Überlegungen deutlich zu sehen ist und dann wiederum ungesehen im dunklen Wasser der Sprache mitläuft.

In der Begründung der Jury zur Verleihung des Georg-Büchner-Preises an Marcel Beyer heißt es:

„Seine Texte sind kühn und zart, erkenntnisreich und unbestechlich. So ist während dreier Jahrzehnte ein unverwechselbares Werk entstanden, das die Welt zugleich wundersam bekannt und irisierend neu erscheinen lässt.“


In diese Einschätzung zum bisherigen Gesamtwerk ließe sich dieses neuste Werk nahtlos einreihen. Es wirkt in jeder Faser unbestechlich, ja, es stellt diese Unbestechlichkeit hier und da sogar über die Eindeutigkeit seiner Aussage – und selbst dort, wo Beyers Sprache dann doch wertet, bleibt sie zart und wenig übergriffig, erdreistet sich nicht.

Die bekannte Welt, die irisierend wird und irritiert, sobald Beyers Sprache darüber gegossen wurde. „Das blindgeweihte Jahrhundert“ erlaubt seinem/r Leser/in keine glatte Lektüre, es trennt sorgsam Nähte auf, hier und dort, und dieser Vorgang hat, beschrieben, etwas Anstoßendes, Überzogenes, Gravierendes, es folgt eine unangenehme Unsicherheit, die das Geräusch von zerreißendem Wirklichkeitsstoff mit sich bringt und der vermutlich eine neue Gewissheit innewohnen könnte.

Ich merke beim Formulieren: ich kann dem nicht beikommen, was Beyer gelungen ist: ein Buch zu schreiben, das kein klares Profil hat und doch nicht schwammig ist; das mit poetischer Sprache eine klare Darstellung der Unklarheiten versucht. Ich kann nur empfehlen, es zu lesen. Es wird eine Erfahrung sein, soviel kann ich versprechen.


Marcel Beyer: Das blindgeweihte Jahrhundert. Berlin (Suhrkamp Verlag) 2017. 271 S. 22,95 Euro.

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