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Lütfiye Güzel: faible?

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Ulrich Schäfer-Newiger


Ein Schiff wird kommen


The Best of Lütfiye Güzel



Die Duisburger Lyrikerin und Autorin Lütfiye Güzel ist keine Unbekannte mehr (vgl. unter der Rubrik Zeitzünder "ich fürchte" oder "zimmer 525"). Acht Veröffentlichungen hat sie bisher vorzuweisen. Nun ist eine Auswahl von Texten aus früheren Bänden in ihrem go-güzel-publishing Verlag erschienen, herausgebracht unter dem Titel „faible?“ Diese Zusammenstellung ermöglicht es, frühere Texte, etwa aus dem ersten Band („herz-terroristin“, 2012) mit jenen des letzten aus dem Jahre 2016 (Titel: „Oh, No!“) direkt zu vergleichen.
    In bisherigen Rezensionen wird nahezu übereinstimmend geäußert, Güzel sei wegen ihrer nüchternen, abgeklärten, mitunter zornigen, jedenfalls melancholischen, hintergründigen und auch weisen Texte eine Epigonin des alten Charles Bukowski. Ich meine, ihre poetologischen Wurzeln und ihre lyrische Sprache sind breiter und reichen weiter zurück.


Tatsächlich unterscheiden sich ihre Texte zunächst wohltuend schon auf den ersten Blick vom aktuellen Mainstream der deutschen Gegenwartslyrik. Ihre Sprache ist direkt, nimmt keine Umwege, weder gedanklich noch linguistisch, ist nicht metapherngetränkt, sondern einfach in dem Sinne, dass keine Artistik, etwa Satzverschränkungen oder gewollte Sinnbrüche, Zeilenbrüche, überladene Begrifflichkeiten, Neologismen oder ein bewusstes Kalauern (die Aufzählung ist nicht abschließend), den Text verrätseln oder auch nur interessant zu machen versuchen. Sprachspiele werden nicht gespielt. Das hat Lütfiye Güzel nicht nötig.
    Eine erste Lektüre des Gedichtes „ich fürchte“, zu dem oben verlinkt ist, zeigt bereits ein wesentliches charak-teristisches Merkmal ihrer Lyrik:

Mit Symbolik und jahrhundertealter Bedeutung  aufgeladene Begriffe, hier die Wörter „glück“ und „unglück“ werden ihrer Symbolik und Schwere bewusst entkleidet und beraubt, weil zwischen Ihnen nicht die naheliegende, sprachlich und poetisch erwartbare und gleichwertige ‚Verzweiflung‘ platziert wird, sondern - eine Bäckerei. Nicht mehr und nicht weniger. Ein alltäglicher Ort, eine Lokalität zum Brötchenholen. Das ist überraschend und ernüchternd und soll es sein.
    Ein anderes Beispiel für diese Art der gezielten Erleichterung poetischer Gegenstände und Sprache von überschwerem Bedeutungsgehalt, oder auch nur der Einbildung davon, ist das Gedicht „write wrote written“:


„habe mir gerade ein buch gekauft
„creativ writing“
hätte nie gedacht
dass ich mir sowas einmal kaufen würde
schon der erste satz macht keinen spaß:
„…do the best we can with what is available..“
die frau in dem Laden & ihr roter hund
sie sagt
sie würde bald verrückt
weil ihr regale fehlten
für die ganzen bücherkisten
ich höre nur halb hin
weil mir dauern jemand erzählt
dass er bald verrückt werde
aber am ende machen sie dann doch
alle ihren job
& alle die großen umbrüche
verlieren sich
& werden zu toastbrot“


Es geht zunächst um das Schreiben, um einen Buchladen, mutmaßlich um Literatur. Das alles entpuppt sich als unwichtig und marginal, das Profane schlägt vielmehr durch: Die fehlenden Regale, die Bücherkisten, die einfachen Dinge des Lebens und deren Bewältigung beherrschen die Szene, es ist zum Verrücktwerden. Aber die Menschen werden nicht verrückt, machen ihren Job, und am Ende verlieren sich sogar große Umbrüche und werden zu Toastbrot. Das Toastbrot hat keine weitere sprachliche oder poetische, über den eigentlichen Begriff hinausgehende Bedeutung. Es steht für etwas Alltägliches, man kann es essen.
    Mit dieser bewussten Auflösung metaphorisch geladener Wörter setzt die Autorin die Tradition des türkischen Dichters Orhan Veli fort oder auch diejenige des Amerikaners William Carlos Williams oder der Helga M. Nowaks, um nur drei zu nennen. Es wird bei all diesen Autoren bewusst auf eine wie auch immer geartete Lyriksprache verzichtet.
    Eine zweite und eng mit diesem ersten Charakteristikum zusammenhängende Eigenart ihrer Dichtung (und mutmaßlich nicht nur ihrer Dichtung) ist die Erkenntnis, dass hinter den Dingen unserer Wahrnehmung, auch unserer Selbstwahrnehmung, nicht weiteres zu sehen ist, als eben zu sehen ist. Das mit „hatte so großes vor“ betitelte Gedicht fährt fort „bis mir auffiel / dass es so großes gar nicht gibt“, oder ganz lapidar, an der Grenze des Nichtssagend-Banalen:

ich kann den dingen nichts hinzufügen
und ich kann sie auch nicht weniger machen
am morgen geht die sonne auf
am abend geht sie unter


oder, an anderer Stelle:

vielleicht gibt es keine masken
hinter die man blicken muss
keine tiefen
einfach nichts dahinter
vielleicht ist der mensch das was man in den
ersten sekunden in ihm sieht
die umwege könnte man sich sparen
auch bei sich selbst


Dem liegt die Überzeugung der Autorin zugrunde, dass, je „tiefer“ sie über eine Sache zu reden fähig sei, sie umso weniger empfinde. So steht es im „gedicht 6“. Aus dem Nichts, heißt es dort, käme ihr dieser zerbrechliche Trost. Empfindungsfähigkeit und Redevermögen – auch Schreibvermögen? – stehen also in einem reziproken Verhältnis.   Gelesen hat die Autorin von diesem Trost mutmaßlich bei einem anderen, den sie auch wörtlich erwähnt: Fernando Pessoa. Das Gedicht „echo“, verrät diesen Zusammenhang:

ich öffne
beide fäuste
& lasse los
& pessoas worte
schreien
sich-selbst-gegenüber gleichgültig sein
& ich begreife
dass all das gucken auf sich
& festhalten
nur noch mehr
nur noch mehr
gucken auf sich
& festhalten
bedeutet
& das ist das
gegenteil
von glück


(Die Hervorhebung stammt von mir.) Bei dem von Pessoa erdachten „Alberto Caeiro“ finden wir in dessen „Poesia“ u.a. folgende Bemerkungen: „Ich war glücklich, weil ich nichts forderte / Und nichts zu finden suchte / Und fand, daß es nichts zu erklären gab / Und das Wort Erklärung keinerlei Sinn hatte.“ Oder, noch grundsätzlicher: „Jenseits der unmittelbaren Wirklichkeit gibt es nichts.“
    Das poetologische Aufbegehren gegen das Grübeln und Denken, gegen das Ideenentwerfen und gegen die – man muss sagen, jahrtausendelang praktizierte - metaphysische Konstruktion des Allgemeinen und dessen, was wir unmittelbar wahrnehmen, gegen das spekulative Deduzieren des von uns Wahrgenommenen, durchzieht die Texte von Lütfiye Güzel wie ein roter Faden. Es bestimmt ihre Sprache, ist Grund für deren gezielte Reduktion auf einfache Wörter und Satzbauten. Und führt zu ihren nüchternen Schlussfolgerungen, ihren lakonisch-verknappten Aussagen, ihrem mitunter hervorbrechenden Zynismus. Nur sie gewähren ihr eine unverstellte, von Metaphorik, Verkünstelung, mythologischen Aufladungen und intellektueller Attitüde befreite Sicht.
    Allerdings lauert in solch verknappten Aussagen und Pointen die Gefahr des Banalen. Dieser Gefahr entgeht die Autorin nicht ganz.  Wenn sie äußert – wie im Gedicht „wieder am anfang“ – sie könne sich jetzt noch nicht mit dem Leben nach dem Tod beschäftigen, sondern sie müsse erst noch klären, ob es ein Leben vor dem Tod gebe, dann mag das pointiert klingen, ist aber nicht originell und bringt weder für den Leser noch für sie selbst einen Zugewinn; es klingt vielmehr wie eine überflüssige Koketterie. Oder: Was sind „nicht gemachte Fotos in der Jackentasche?“ („polaroid“) oder folgender kurzer Text: „& die grünen schuhe / sie stehen oben / auf dem Schrank / und schauen runter / so wie ich rauf“. Und der Satz „Und an jeder ecke wartet kein mensch / auf mich“ liest sich wie ein ungewollter Kalauer.

Andererseits, die Lakonie der poetischen Sprache der Autorin hat etwas Ernüchterndes und soll ernüchtern. Sie soll spürbar machen, dass hinter den Begriffen sich nichts verbirgt, bestenfalls das, was wir hineininterpretieren oder hinter ihnen sehen wollen. Da ist dann auch die Ernüchterung der Autorin, irgendwie eine Enttäuschung, spürbar – ein Verlust. In nicht wenigen ihrer Gedichte auch ein Gefühl  des Fremdseins, des Nicht-dazu-Gehörens:  

ein schiff wird kommen:

raus aus diesem Land
will nicht undankbar sein
im Vergleich ist es sicher
frei irgendwie
noch
Kühlschränke & die möglichkeit
sie zu füllen
keine straßenkämpfe
noch nicht
umso erstaunlicher die angst
sie klebt fest
an der fensterscheibe im bus


„Ein Schiff wird kommen“ ist bekanntlich der Titel der deutschen Version des Schlagers „Τα Παιδιά του Πειραιά“ (Kinder von Piräus) von Manos Hadjidakis  (die sehr älteren Leser werden sich noch an die seinerzeit bekannte Fassung von Lale Andersen erinnern) aus dem Film Ποτέ την Κυριακή („Sonntags nie“) von Jules Dassin (1960). Anders aber als Melina Mercouri in diesem Film wartet Lütfiye Güzel nicht auf einen Mann, der mit einem Schiff hoffentlich bald kommt und sich ihrer annimmt, sondern umgekehrt: Sie will sich einschiffen und wegfahren, raus aus dem Land. Das Schiff als Fluchtmöglichkeit. Es gehört bekanntlich zum Inventar des Melancholikers, sofern man es metaphorisch versteht (und die Autorin lässt hier, an einer dieser wenigen Stellen ihrer Texte, einen Begriff als Metapher ausdrücklich zu). „Die Einschiffungsmetaphorik“, schreibt Hans Blumenberg in ‚Schiffbruch mit Zuschauer‘, „enthält die Suggestion, Leben bedeute, schon auf dem hohen Meer zu sein, wo es außer Heil oder Untergang keine Lösung, keine Vorenthaltung gibt.“ Grund für den Einschiffungswunsch ist eine – die Autorin selbst in Staunen versetzende – Angst, und sie erklärt zugleich, dass es – angeblich - keine äußeren Gründe für diese Angst gibt. In diesem Zusammenhang kann die ‚fensterscheibe im bus‘ ebenfalls als Metapher verstanden werden. Sie ist die unsichtbare Trennscheibe zwischen Innen und Außen, zwischen ich und du, die nicht zueinander finden. Und genau an dieser unauflöslichen Stelle sitzt die Angst. Mit „diesem Land“ ist deswegen auch nicht notwendig Deutschland gemeint, obgleich die Kühlschränke, die gefüllt werden können (usw.) dieses Verständnis nahelegen.
    Hier gelingt der Autorin ein wirklich nicht einfacher Spagat zwischen der politisch und gleichzeitig existentiell induzierten Selbstbewertung als immer Fremde. Denn an anderer Stelle, im „gedicht 3“ erklärt sie: „behalte deinen pass / hier sind wir immer fremd - / aber mein fremdsein hat nichts mit dokumenten zu tun / für jemanden wie mich gibt es kein land.“  Man ist geneigt hinzuzufügen: nur das Meer. Schließlich bekennt die Autorin in einem etwas larmoyanten Rückblick auf ihr erstes Gedicht auch: „ich liebte das meer“. Diese Liebe zum Meer gehört bekanntlich zur melancholischen Grundhaltung. Selbst aber diese hat die Autorin offenbar schon verloren, denn sie spricht von dieser Liebe in Vergangenheitsform.
    Zu diesem Gefühl gesellt sich das Bedürfnis, immer weg und nicht ankommen zu wollen: „die  fahrt hinauszögern aus panik vor / dem ankommen / immer reisen …“ heißt es in einem Gedicht aus dem Band “hadi hugs“ (2016), um schließlich ganz zu verschwinden. Das Gedicht „verblassen“ bezeugt diese Haltung:

sich finden wollen
lieber
sich verlieren
können


Aber manchmal bricht ein politischer Grund für das „schon zurück sehnen nach dem nichts“ hervor: „nur um weg gewesen zu sein / ein wenig frieden zwischen zwei ländern/ scheiß krieg!

Es soll nicht verschwiegen sein, dass die bei der Autorin zu findende stetige Betonung der Traurigkeit – „& ich bin zu sehr mit dem traurig-sein / beschäftigt / um traurig zu sein“, aus dem Gedicht ich hasse den märz, oder: „Man könnte den Traurigen einen abgetrennten Bereich zuweisen. So wie man es mit den Rauchern macht. Dann schadet man nur sich selbst … Die Langweile züchten, bis einem so richtig übel davon wird“:  dass diese ständige Hervorhebung von Traurigkeit die Gefahr eines Umschlags ihrer schön-melancholischen und pointiert-lakonischen Texte in Larmoyanz impliziert. Die Autorin ist sich dessen selbst bewusst, reflektiert diese Haltung auch, aber ohne Erfolg: „Und während ich da saß, langweilte ich mich bis zur Erschöpfung, alles hoffnungslos, sagte mir selbst: „Es war alles umsonst!und steigerte mich so richtig rein in dieses Gefühl, dass man, einmal gefühlt für den Rest seines Lebens nicht mehr loswerden konnte. In einigen Tagen würde ich nach Graz fliegen. Eine Einladung zur Lesung. Das Gute an Flugzeugabstürzen war, dass man beim Absturz nichts weiter zu tun hatte, als zu sterben.“ Ein solches Statement ziemlich am Ende des Bandes ist geeignet oder hat vielleicht sogar die Absicht, den poetologischen Gehalt der Gedichte wieder aufzuheben.

Dabei gibt sie in ihren Büchern selbst Hinweise auf Rettung. In einem Text aus dem Band „pinky helsinki“ aus dem Jahre 2014 können wir lesen: „… und nachdem man das beschadet überstanden / hat will man nur noch in den Zoo und / Gorillas zeichnen.“ Dieses ‚Gorillas- Zeichnen‘ ist auch eine Metaphorik, ist eine Handlung, ein Sich-Ausdrücken, Sich- Entäußern. Sofort fällt mir der Ausspruch von Max Beckmann ein: „Ich habe gezeichnet, das sichert gegen Tod und Gefahr.“ Und dieses dem Zeichnen ähnliche Buchstabenschreiben führt wieder zurück auf das Wesentliche der Autorin: Das Schreiben. Sie beschreibt diese für sie existentielle und rettende Bedeutung in „hey anti-roman“ aus dem Jahre 2015 so:

im apartement stelle ich meine
schreibmaschine auf den tisch
und tippe darauf herum
zwischendrin zerknülle ich unbrauchbare
papierseiten undziele damit ins waschbecken
schneebälle um die spüle herum
ich habe den tag nur angesehen
und die ganze nacht geschrieben
alles ist luft bis auf die wenigen minuten in denen
die worte sich aneinanderreihen lassen
nur das desaster kann diesen
buchstaben – und charakterhaufen formen
ich spüre die magie zwischen dem – f – und dem
- h – und dem – b und dem – u- nicht sehr lang aber
stark und begreife exakt in diesen wenigen sekunden
meinen eigenen kern und dann sitze ich plötzlich
neben mir und bin nicht mehr allein



© Ulrich Schäfer-Newiger 2017


Lütfiye Güzel: faible? Duisburg (go-güzel-publishing) 2017. 200 Seiten. 12,00 Euro.

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