Lew Tolstoi: Die Kreutzersonate, 15 - 28
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Lew Tolstoi
Die Kreutzersonate
übersetzt von August Scholz
XV
Ich habe
während meines ganzen Ehelebens unausgesetzt die Qualen der Eifersucht
empfunden. Es gab jedoch Perioden, in denen diese Qualen sich ganz besonders
steigerten. Eine dieser Perioden war die Zeit nach der ersten Entbindung, als
die Ärzte meiner Frau das Nähren verboten hatten. Meine gesteigerte Eifersucht
beruhte in jener Zeit zunächst wohl darauf, daß ich an meiner Frau jene Unruhe
beobachtete, die einer Mutter eigen zu sein pflegt, wenn bei ihr eine Störung
des regelmäßigen Lebensganges eingetreten ist; ferner beruhte sie darauf, daß
es mir auffiel, wie leicht es ihr wurde, die sittliche Pflicht der Mutter von
sich abzuschütteln, woraus ich, zwar unbewußt, aber immerhin mit einigem Recht
den Schluß zog, daß es ihr ebenso leicht sein würde, die eheliche Pflicht zu
brechen, zumal sie vollkommen gesund war und trotz des Verbotes der Ärzte die
folgenden Kinder mit ausgezeichnetem Erfolge nährte.«
»Sie
scheinen die Ärzte nicht zu lieben«, sagte ich, durch den ganz besonders
erbitterten Ausdruck seiner Stimme betroffen, mit dem er jedesmal von den
Ärzten sprach.
»Hier
handelt es sich nicht um Liebe oder Nichtliebe. Sie haben mein Leben zugrunde
gerichtet, wie sie das Leben von Tausenden, ja von Hunderttausenden zugrunde
gerichtet haben, und ich kann doch den Zusammenhang von Ursache und Wirkung
nicht übersehen. Ich begreife wohl, daß sie ebenso wie die Advokaten und andere
Leute Geld verdienen wollen, und ich würde ihnen gern die Hälfte meines
Einkommens abtreten, auch jeder andere würde, wenn er ihr
Treiben richtig durchschaute, ihnen gern die Hälfte seines Vermögens
überlassen, wenn sie sich nur nicht in sein Familienleben einmischten und ihm
so fern wie möglich vom Halse blieben. Ich habe nicht gerade statistisches
Material gesammelt, kenne jedoch Dutzende der ungezählten Fälle, in denen sie
entweder unter dem Vorwande, die Mutter sei zu schwach, um zu gebären, das Kind
im Mutterleibe töteten, während die Mutter bei späteren Entbindungen mit
größter Leichtigkeit gebar, oder die Mütter selbst bei Vornahme irgendeiner
Operation ums Leben brachten. Niemand zählt eben diese Morde, wie man vorzeiten
die Morde der Inquisition nicht zählte, weil man des Glaubens war, sie würden
zum Heile der Menschheit begangen. Unzählbar sind die Verbrechen, die sie
verübt haben. Alle diese Verbrechen sind jedoch nichts im Vergleich mit der
sittlichen Fäulnis des Materialismus, die sie, insbesondere durch die Frauen,
in die Welt tragen. Ich will schon gar nicht davon reden, daß, wenn die
Menschen ausschließlich ihren Ratschlägen folgten, wegen der überall lauernden
Ansteckungsgefahr, die sie predigen, nicht ein Zueinanderstreben, sondern ein
Auseinanderstreben der Gesamtheit stattfinden müßte. Jeder muß nach ihrer
Meinung isoliert dasitzen und am Munde den nach Karbolsäure duftenden
Desinfektionsapparat halten, – der übrigens, wie man nachträglich festgestellt
hat, auch nicht viel Nutzen stiftet. Doch dies allein hätte noch nichts zu
besagen; das wahre Gift steckt in der Demoralisierung der Menschen,
insbesondere der Frauen.
Heutzutage
darf man niemandem mehr sagen: ›Hör mal, du führst ein
schlechtes Leben, bessere dich‹ – weder sich selbst, noch einem andern darf man
das sagen. Führt man ein schlechtes Leben, so beruht dies angeblich auf einer
anomalen Funktion der Nerven oder einer ähnlichen Ursache. Man geht dann zu
›ihnen‹, sie verschreiben ein Mittel für 35 Kopeken, das man sich in der
Apotheke besorgt und einnimmt. Wird's schlimmer danach, so versucht man es mit
einem andern Mittel und einem andern Arzt. Eine ausgezeichnete Sache!
Aber auch
das hat nichts weiter auf sich. Ich wollte nur erwähnen, daß sie ihre späteren
Kinder vortrefflich genährt hat und daß ihre Schwangerschaft sowie der Umstand,
daß sie selbst die Kinder nährte, mich für die betreffende Zeit wenigstens vor
den Qualen der Eifersucht bewahrt hat. Andernfalls wäre alles schon früher so
gekommen, wie es kam. Nur die Kinder haben mich und sie so lange vor dem
Schlimmsten bewahrt. Innerhalb acht Jahren brachte sie fünf Kinder zur Welt,
und alle bis auf das erste hat sie selbst genährt.«
»Wo sind
Ihre Kinder jetzt?« fragte ich.
»Die
Kinder?« versetzte er seinerseits erschrocken.
»Verzeihen
Sie die Frage, vielleicht ist Ihnen die Erinnerung peinlich?«
»Nein,
durchaus nicht. Meine Schwägerin und ihr Bruder haben meine Kinder zu sich
genommen. Sie wollten sie mir nicht lassen. Ich übergab ihnen mein Vermögen,
sie aber wollten mir die Kinder nicht lassen. Ich gelte doch in gewissem Sinne
als geistesgestört. Ich komme soeben von ihnen. Ich habe sie gesehen, doch will
man sie mir nicht geben – ich könnte sie ja möglicherweise so
erziehen, daß sie nicht so werden wie ihre Eltern. Und sie sollen doch durchaus
ebenso werden. Nun, was ist da weiter zu machen! Ich kann's wohl begreifen, daß
man sie mir nicht überläßt und zur Erziehung anvertraut. Ich weiß auch selbst
nicht, ob ich imstande wäre, sie zu erziehen. Ich zweifle sehr daran, ich bin
ja doch eine Ruine, ein Krüppel. Eines habe ich wohl vor den andern voraus:
meine Erkenntnis. Es ist mein Glaube, daß ich etwas weiß, was alle andern nicht
so bald wissen werden.
Ja, meine
Kinder leben und wachsen ebenso wild auf, wie alle ihre Kameraden. Ich habe sie
gesehen, dreimal bereits. Ich kann nichts für sie tun, gar nichts. Ich fahre
jetzt heim nach dem Süden, wo ich ein Häuschen und ein Gärtchen besitze.
Ja, nicht so
bald werden die Menschen das erkennen, was ich weiß. Wieviel Eisen und sonstige
Metalle in der Sonne und den Sternen enthalten sind, ist wohl leicht
festzustellen; das Quantum von Schmutz jedoch, das unser Leben durchsetzt, das
festzustellen – ist schwer, furchtbar schwer!
Nun, Sie
haben wenigstens zugehört, schon dafür bin ich Ihnen
dankbar. . . .
XVI
Sie
erwähnten soeben die Kinder. Auch die geben zu Lug und Heuchelei Anlaß. Kinder
sind ein Segen Gottes, Kinder sind die Freude der Eltern! Alles das ist reine
Lüge. Alles das war wohl früher einmal der Fall, hat aber längst aufgehört.
Kinder sind eine Plage und weiter nichts. Die Mehrzahl der
Mütter haben diese Empfindung und sprechen sie zuweilen unwillkürlich auch aus.
Fragen Sie die Mehrzahl der Mütter unserer wohlhabenden Kreise – sie werden
Ihnen sagen, daß sie vor lauter Angst, ihre Kinder könnten krank werden und
sterben, keine Kinder haben wollen oder, wenn sie schon welche geboren haben,
sie nicht nähren wollen, damit die Anhänglichkeit an sie ihr Herz nicht allzu
fest kettet und sie darunter leiden. Die Freude, die ihnen das Kind durch
seinen Liebreiz bereitet, durch die Anmut der Ärmchen und Beinchen und des
ganzen kleinen Körpers, die Lust, die das Kind gewährt, ist geringer als das
Leid, das sie zu bestehen haben, nicht nur, wenn das Kind wirklich krank wird
oder stirbt, sondern schon, wenn die Angst sie peinigt, daß es krank werden
könnte. Wenn sie Freud und Leid gegeneinander abwägen, ergibt sich, daß das
Leid überwiegt, und darum ziehen sie es vor, keine Kinder zu haben. Sie sagen
das ganz offen und ehrlich heraus und bilden sich ein, diese Gefühle hätten
ihren Ursprung in ihrer Liebe zu den Kindern, seien also löbliche und edle
Gefühle, auf die sie stolz sein dürften. Sie bemerken nicht, daß in einer
solchen Auffassung geradezu eine Verleugnung der Liebe zu den Kindern und ein
Beweis ihrer Selbstsucht liegt. Der Liebreiz des Kindes scheint ihnen nicht
Freude genug zu bereiten, um das Leid aufzuwiegen, welches die Sorge um das
Kind verursacht, und daher wollen sie dieses Kind, das sie so maßlos lieben
würden, gar nicht erst haben. Sie opfern nicht sich selber für das geliebte
Wesen, sondern das künftige geliebte Wesen opfern sie dem Ich. Es ist klar, daß
dies nicht Liebe, sondern Egoismus ist. Doch vermag niemand
gegen diese Mütter der wohlhabenden Familien um ihrer egoistischen Regungen
willen die Hand zu erheben, wenn man bedenkt, wie sie alles, dank jenen Ärzten,
die in unseren Gesellschaftskreisen ihr Wesen treiben, mit den Krankheiten
ihrer Kinder durchzumachen haben. Wenn ich so an das Leben und den Zustand
meiner Frau in der ersten Zeit zurückdenke, als wir erst drei, vier Kinder
hatten und sie ganz in der Sorge für sie aufging, dann ergreift mich ein wahrer
Schrecken. Ein Leben war das nicht mehr zu nennen. Es war wie eine ewige
Gefahr, wie die Flucht vor dieser Gefahr, die doch gleich wieder drohend vor
uns hintrat und verzweifelte Anstrengungen und Rettungsversuche von uns
erforderte – kurz eine Lage, wie auf einem Schiffe, das sicherem Untergange
geweiht ist. Zuweilen kam es mir vor, als tue sie das alles absichtlich, als
stelle sie sich so ängstlich um der Kinder willen, um mich auf diese Weise zu
bezwingen. Es war dies eine Mutmaßung, die alles auf sehr einfache Weise, und
zwar zu ihren Gunsten zu entscheiden schien. Andererseits jedoch quälte sie
sich wirklich unablässig mit den Kindern, mit ihrer Gesundheit und ihren
Krankheiten. Es war eine Folter für sie und auch für mich. Sie mußte eben diese
Folterqualen erdulden, das war nun einmal unvermeidlich. Die Zuneigung zu den
Kindern, der animalische Trieb, sie zu nähren, zu hätscheln, zu schützen, war
bei ihr wie bei den meisten Frauen vorhanden. Eines jedoch besaß sie nicht, was
die Tiere besitzen: sie war nicht, wie diese, frei von Phantasievorstellungen
und Verstandesskrupeln. Die Henne fürchtet sich nicht vor all
den Schrecknissen, die ihren Küchlein begegnen könnten, sie kennt all die
Krankheiten nicht, denen sie verfallen könnten; sie kennt nicht alle die
Mittel, mit denen die Menschen glauben, sich vor Krankheit und Tod zu bewahren.
Die Küchlein sind für die Henne keine Plage. Sie tut für sie das, was zu tun
ihr Freude macht und in ihrem Wesen liegt, die Kinder sind also für sie ein
Quell der Freude. Sobald ein Hühnchen krank wird, weiß sie sehr wohl, wie sie
für das Kranke zu sorgen hat: sie wärmt und füttert es, und wenn sie das tut,
weiß sie, daß sie alles Nötige getan hat. Geht das Küchlein ein, so fragt sie
sich nicht lange, warum es eingegangen und wohin es gegangen sei, sondern stößt
ein kurzes Gackern aus und lebt in der alten Weise fort. Für unsere
unglücklichen Frauen jedoch – auch bei meiner war es so – liegen die Dinge
anders. Ich will nicht mehr von den Krankheiten reden und der Sorge, wie man
sie heilen solle, noch von den verschiedenen Erziehungs- und
Auffütterungsmethoden: von allen Seiten hatte sie darüber alles Erdenkliche
gehört und alle möglichen einander widersprechenden Ratschläge gelesen. Nähren
soll man die Kinder so und so; oder nein – nicht so und so, sondern so; über
Kleidung, Trinken, Baden, Schlafenlegen, Spazierengehen, Lüften gab man uns,
namentlich ihr, jede Woche neue Ratschläge; als wäre die Kunst des
Kindergebärens erst seit gestern erfunden. Da hieß es, das Kind habe zur Unzeit
seine Nahrung bekommen, es sei zur Unzeit gebadet worden und davon erkrankt, so
daß die Schuld auf uns falle, weil wir nicht getan hätten, was wir hätten tun
sollen.
So ging es,
wenn die Kleinen gesund waren. Doch auch das war eine Quälerei. Wurde jedoch
eines ernstlich krank, dann war alles aus. Dann wurde das Haus zur wahren
Hölle. Es hieß doch, die Krankheit könne geheilt werden, und es gebe solch eine
Wissenschaft und solche Menschen, Ärzte geheißen, die da Bescheid wüßten. Nicht
alle wüßten es, aber doch die besten unter ihnen. Nun war das Kind erkrankt und
nun galt es, einen dieser besten Ärzte zu finden, einen von denen, die das Kind
zu retten vermögen, dann wäre es gerettet; fand man jedoch diesen besten Arzt
nicht oder wohnte man nicht in demselben Orte wie er, dann gab man das Kind
verloren. Und das war nicht etwa nur der Glaube meiner Frau allein, sondern das
ist der Glaube aller Frauen ihres Kreises, und von allen Seiten hörte sie nur
immer das gleiche: ›Jekaterina Ssemjonowna hat zwei Kinder verloren, weil Iwan
Sacharytsch nicht rechtzeitig gerufen wurde, und Maria Iwanowna verdankt ihm
die Rettung ihres ältesten Mädchens; die Petrows haben auf den Rat des Arztes
eine Reise gemacht und ihre Kinder gerettet, den anderen aber, die nicht
umgesiedelt waren, sind die Kinder gestorben. Frau so und so hatte ein
schwächliches Kind, fuhr auf den Rat des Arztes nach dem Süden und rettete es
so.‹ Wie sollen alle diese Dinge einen nicht quälen und das ganze Leben lang
beunruhigen? Wo doch das Leben der Kinder, denen die Mutter mit tierischer
Anhänglichkeit zugetan ist, angeblich davon abhängt, ob sie rechtzeitig
erfährt, was Iwan Sacharytsch über den Fall denkt und kein Mensch eigentlich
weiß, was Iwan Sacharytsch sagen wird, am wenigsten er selber, weil er sehr wohl weiß, daß er gar nichts weiß und nicht zu helfen
vermag, sondern nur Winkelzüge macht, damit die Leute nicht aufhören, an sein
Wissen zu glauben. Wäre sie ganz und gar Tier, dann würde sie sich nicht so
sehr quälen. Wäre sie dagegen ganz und gar Mensch, dann würde sie den Glauben
an Gott besitzen und würde denken und reden, wie die Gläubigen reden: ›Gott hat
es gegeben, Gott hat es genommen, Gott kann man nicht entgehen.‹
Das ganze
Leben mit den Kindern war für meine Frau – somit auch für mich – nicht eine
Freude, sondern eine Plage. Sie quälte sich unaufhörlich mit ihnen. Kaum hatten
wir uns zuweilen nach einer Eifersuchtsszene oder einem einfachen Zank beruhigt
und nun daran gedacht, ein wenig Atem zu schöpfen, ein Buch zu lesen oder einen
vernünftigen Gedanken zu fassen; kaum hatten wir irgendeine Arbeit vorgenommen,
so kam auch schon die Nachricht, daß Wassja erbrechen mußte oder daß Mascha
einen blutigen Stuhlgang gehabt, oder daß Andrjuscha einen Ausschlag bekäme.
Nun war es natürlich wieder vorbei mit dem vernünftigen Leben. Wohin sollte man
rennen, wo einen Arzt auftreiben, wie die gesunden Kinder abschließen? Und nun
begann die Wirtschaft mit den Klystieren, dem Temperaturmessen, den Mixturen
und den Ärzten. Kaum war der eine Fall erledigt, war schon ein neuer da. Ein
regelmäßiges, geordnetes Familienleben gab es nicht. Es gab nur, wie ich Ihnen
bereits sagte, eine beständige Flucht vor eingebildeten und wirklichen
Gefahren. So ist es jetzt in den meisten Familien. In meiner Familie war es
besonders schlimm, denn meine Frau war eine sehr zärtliche
Mutter und sehr leichtgläubig.
Der Besitz
von Kindern erleichterte uns also das Leben keinesfalls, sondern vergiftete es
ganz und gar. Die Kinder gaben immer wieder Anlaß zu Zank und Hader. Seit wir
Kinder hatten und diese heranwuchsen, wurden sie mehr und mehr die Veranlassung
und der Gegenstand von Streit und Zwist. Ja nicht nur ein Gegenstand des
Streites, sondern geradezu eine Waffe im Kampfe – wir lieferten uns gleichsam
Schlachten mittels der Kinder. Jeder von uns hatte seinen Liebling, dessen er
sich als Waffe im Kampfe bediente. Meine Waffe war später in der Regel Wassja,
der Älteste, während sie sich Lisas bediente. Als die Kinder herangewachsen und
ihre Charaktere gereift waren, suchten wir sie als Bundesgenossen auf unsere
Seite zu bringen. Die armen Wesen litten schwer darunter, aber in unserem
unaufhörlichen Kriege dachten wir eben nicht an sie. Das Mädchen fand sich
jetzt zumeist auf meiner Seite, während der älteste Knabe, der der Mutter
ähnlich war, ihr Liebling wurde und oft von Haß gegen mich erglühte.
XVII
Nun, so
lebten wir denn dahin. Unsere Beziehungen wurden immer feindseliger.
Schließlich kam es so weit, daß nicht mehr eine Meinungsverschiedenheit die
Feindseligkeit hervorrief, sondern aus der Feindseligkeit die
Meinungsverschiedenheit entsprang; was sie auch sagen
mochte, ich war schon von vornherein anderer Meinung, und das gleiche war auch
bei ihr der Fall.
Im vierten
Jahre unserer Ehe waren wir beide fest davon überzeugt, daß wir einander nie
verstehen, nie zu einer Übereinstimmung miteinander gelangen würden. Wir
machten nicht mehr den Versuch, uns wieder einmal richtig auszusprechen. Bei
den einfachsten Dingen, namentlich betreffs der Kinder, blieb jeder von uns
unerschütterlich bei seiner Meinung. Soweit ich mich jetzt erinnere, waren die
Meinungen, die ich vertrat, mir durchaus nicht so teuer, daß ich sie
schließlich nicht hätte opfern können; aber sie war entgegengesetzter
Meinung, und wenn ich nachgab, so hieß das ihr nachgeben. Und das konnte
ich nicht, so wenig wie sie es konnte. Sie war jedenfalls mir gegenüber nach
ihrer Ansicht immer im Recht, und ich war in meinen Augen natürlich ein
Heiliger. Waren wir unter uns, so waren wir fast zum Schweigen verurteilt oder
auf solche Gespräche angewiesen, wie sie vermutlich die Tiere untereinander
führen mögen: ›Wie spät ist es? – Es ist Zeit, daß man schlafen geht. – Was
gibt's heute zum Mittagessen? – Wohin wollen wir fahren? – Was steht in der
Zeitung? – Man muß zum Arzt schicken, Mascha hat Halsschmerzen.‹ Nur um ein
Härchen brauchte dieser bis aufs äußerste beschränkte Stoffkreis überschritten
werden, und schon platzten die Gegensätze aufeinander. Es gab Zank und bissige
Worte beim Kaffee, wegen des Tischtuches, des Wagens, in dem wir fuhren, des
Ausspielens am Kartentisch, kurz, um jede Kleinigkeit, die weder für sie noch
für mich von Bedeutung sein konnte. Ich wenigstens war häufig
von einer wahren Wut gegen sie erfüllt. Zuweilen, wenn ich zusah, wie sie den
Tee eingoß oder mit dem Bein schlenkerte oder den Löffel zum Munde führte und
den Trank hinunterschlürfte, haßte ich sie um dieser Dinge willen, als handle
es sich um irgendeine verächtliche Tat. Es fiel mir damals nicht auf, daß die
Perioden der Bosheit in mir völlig regelmäßig und gleichmäßig auftauchten, und
zwar entsprechend jenen Perioden, die wir Liebe nannten. Auf eine Periode der
Liebe folgte jedesmal eine Periode des Hasses; war der Ausbruch der Liebe stark,
so war die Periode des Hasses von langer Dauer; auf eine schwächere Bekundung
der Liebe folgte eine kurze Äußerung des Hasses. Damals begriffen wir nicht,
daß diese Liebe und dieser Haß Offenbarungen desselben animalischen Triebes,
nur von verschiedenen Polen aus gesehen, waren. So zu leben, wäre schrecklich
gewesen, wenn wir uns unserer Lage bewußt geworden wären; dies war jedoch nicht
der Fall, wir begriffen unsere Lage nicht. Darin liegt zugleich die Rettung und
die Strafe des Menschen, daß er, wenn er ein verkehrtes Leben führt, sich zu
betäuben vermag, daß er die ganze Kläglichkeit seiner Lage nicht sieht. So
hielten auch wir es jetzt. Sie suchte über allerhand nebensächlicher hastiger
Beschäftigung in der Wirtschaft, im Haushalt, in ihrem Boudoir und der
Kinderstube unsere gegenseitigen Beziehungen zu vergessen, während ich wieder
meine eigene Domäne hatte – Zechgelage, Dienstverrichtungen, Jagd, Kartenspiel.
Wir hatten beide beständig zu tun. Wir fühlten es: je beschäftigter wir beide
waren, desto böser durften wir aufeinander sein. ›Du hast gut launisch sein,‹
dachte ich, ›die ganze Nacht hast du mich mit deinen
Keifszenen gequält und nun soll ich in die Sitzung fahren!‹ – ›Du hast es gut,‹
dachte nicht nur, sondern erklärte sie laut, ›mich hat das Kind die ganze Nacht
nicht schlafen lassen!‹ Die neuen Theorien des Hypnotismus, der
Geisteskrankheiten sind eine Torheit, und zwar nicht bloß eine harmlose,
sondern eine schädliche, widerwärtige Torheit. Meine Frau würde von Charcot
zweifellos für hysterisch und ich für nicht normal erklärt worden sein, und er
würde uns zweifellos in Behandlung genommen haben, obwohl an uns nicht das
geringste herumzukurieren war.
So lebten
wir in einem beständigen Nebel und übersahen die Lage nicht, in der wir uns
befanden. Und wäre nicht geschehen, was eben geschehen ist, so hätte ich bis in
mein Greisenalter so weitergelebt und geglaubt, ein leidlich glückliches Leben
durchlebt zu haben, kein besonders schönes zwar, aber auch kein besonders
schlechtes, so wie es eben alle Menschen führen; ich wäre nie dahinter
gekommen, in welchem Abgrund des Unglücks und der erbärmlichsten Lüge ich
schwebte.
Dabei waren
wir doch nichts anderes als zwei Sträflinge, die einander haßten, die an einer
einzigen Kette ächzten, sich das Leben gegenseitig zu vergiften trachteten und
bestrebt waren, nichts von allem zu sehen. Ich wußte damals noch nicht, daß
neunundneunzig Prozent aller Ehepaare in derselben Hölle leben wie wir, und daß
dies nicht anders sein kann. Damals wußte ich das noch nicht, weder von mir
selbst, noch von den anderen.
Merkwürdig,
was für Zufälle im Leben mitspielen, ob es nun regelmäßig oder unregelmäßig
dahinfließt! Die Eltern können das Leben miteinander nicht
mehr ertragen, sie sind sich ›über‹ geworden, und zu gleicher Zeit stellt es
sich heraus, daß die Erziehung der Kinder eine Übersiedelung nach der Stadt
notwendig macht. ›Nach der Stadt!‹ hieß also jetzt die Parole.«
Er schwieg
eine Weile und stieß wohl zweimal seinen seltsamen Laut aus, der jetzt schon
völlig einem unterdrückten Schluchzen glich. Der Zug näherte sich der Station.
»Wie spät
ist es?« fragte er.
Ich sah
nach, es war zwei Uhr.
»Sind Sie
nicht müde?« fragte ich ihn.
»Nein; aber Sie
sind es?«
»Nein, nur
ein wenig stickig kommt es mir hier vor. Ich will einen Augenblick hinausgehen
und einen Schluck Wasser trinken.«
Er ging mit
schwankendem Schritt durch den Wagen. Ich saß da, sann über alles nach, was er
mir erzählt hatte, und verfiel in so tiefes Sinnen, daß ich seinen Eintritt
durch die andere Tür gar nicht bemerkte.
XVIII
Ja, ich
lasse mich gar zu leicht erregen«, begann er von neuem. »Ich habe vielerlei
durchdacht. Viele Dinge sehe ich mit eigenen Augen an, und da möchte man denn
seine Gedanken aussprechen. Nun, wir lebten also jetzt in der Stadt. In der
Stadt kann der Mensch hundert Jahre leben, ohne eine Ahnung davon zu haben, daß
er längst gestorben und verdorben ist. Man hat gar keine Zeit, einmal richtig mit sich selbst zu Rate zu gehen, ewig ist man
beschäftigt.
Geschäfte,
gesellschaftliche Verpflichtungen, die Gesundheit, die Künste, das Befinden der
Kinder, ihre Erziehung – wieviel Sorgen schafft das alles! Da heißt es bald
den, bald jenen empfangen, da und dort Besuche machen, bald diesen oder diese
anhören. In der Stadt gibt es zu jeder Stunde eine, zwei oder auch drei
berühmte Persönlichkeiten, die man gesehen haben muß. Bald muß man an sich,
bald an dem einen oder anderen Hausgenossen herumkurieren, dann sind die
Lehrer, die Erzieher, die Gouvernanten zu überwachen, und so vertrödelt man
Stunde um Stunde des Lebens. Nun, so trieben wir es schließlich und empfanden
die Qual unseres Zusammenlebens nicht so schmerzlich. Die erste Zeit brachte
außerdem die wundervolle Beschäftigung, sich in dem neuen Wohnort und dem neuen
Quartier einzurichten, von der Stadt aufs Land und vom Lande in die Stadt zu
ziehen usw.
Den ersten
Winter in der Stadt hatten wir hinter uns. Im zweiten Winter trat dann ein
unauffälliger, kaum merklicher Umstand ein, von dem alle übrigen Vorgänge ihren
Anfang nahmen.
Sie war
krank, und die Ärzte verboten ihr wieder einmal das Gebären und belehrten sie
über gewisse Mittel, um es zu verhindern.
Ich war
darüber empört und kämpfte aufs schärfste dagegen an, sie bestand jedoch mit
leichtfertigem Trotz auf ihrem Willen, und ich gab nach; der letzte
Rechtfertigungsgrund für das widerliche Zusammenleben, das wir führten
– die Erzeugung der Kinder – war weggefallen, und unsere eheliche Gemeinschaft
nahm noch häßlichere Formen an.
Der Bauer
braucht Kinder für die Arbeit; fällt es ihm auch schwer, sie großzuziehen, so
braucht er sie doch eben, und daher haben seine ehelichen Beziehungen eine
Rechtfertigung. Wir wohlhabenden Leute dagegen bedürfen der Kinder nicht, sie
sind eine überflüssige Sorge, verursachen Kosten, Schwierigkeiten bei der Erbschaftsteilung,
kurzum: sie sind eine Last. Unser unlauteres Zusammenleben hat demnach
überhaupt keine Rechtfertigung mehr. Wir verhindern entweder die Empfängnis auf
künstliche Weise, oder wir betrachten die Kinder, wenn sie dennoch geboren
werden, als ein Unglück, als eine Folge der Unvorsichtigkeit. Das letztere ist
noch unsittlicher als das erstere, und es gibt keine Rechtfertigung dafür. Wir
sind jedoch moralisch so gesunken, daß wir eine Rechtfertigung gar nicht mehr
für notwendig halten. Die Mehrzahl unserer heutigen gebildeten Welt huldigt
dieser Ausschweifung ohne die geringsten Gewissensbisse. Wozu auch
Gewissensbisse? Gibt es doch in dem Leben, wie wir es führen, kein Gewissen,
außer etwa jenen beiden Faktoren, die wir als öffentliche Meinung und als Scheu
vor dem Strafgesetz bezeichnen. Hier kommt jedoch weder diese noch jene in
Frage: vor der öffentlichen Meinung braucht man sein Gewissen nicht beschwert
zu fühlen, weil doch alle sich so verhalten, ›Maria Pawlowna so gut wie Iwan
Sacharytsch – denn welchen Zweck hat es, Bettler in die Welt zu setzen oder
sich der Annehmlichkeiten des geselligen Verkehrs zu berauben?‹
Scheu vor dem Strafgesetz oder Gewissensbisse nach dieser Richtung kamen
gleichfalls nicht in Frage. Liederliche Dirnen und Soldatenweiber werfen ihre
Kinder wohl in Teiche und Brunnen, die müssen dafür natürlich auch ins
Gefängnis wandern, bei uns jedoch geht alles fein sauber und rechtzeitig vor
sich.
So verlebten
wir noch zwei weitere Jahre. Das Mittel, das die Schufte von Ärzten bei meiner
Frau in Anwendung gebracht, begann augenscheinlich zu wirken, sie nahm
körperlich zu und wurde schön – so schön wie die letzten Tage des Spätsommers.
Sie fühlte das und begann sich mit sich selbst zu beschäftigen. Sie wurde zu
einer Art prickelnder Schönheit, die die Männer reizt. Sie stand in der
Kraftfülle einer dreißigjährigen, gut genährten, sinnlich erregten Frau, die
sich des Gebärens enthält. Ihr Anblick hatte etwas Beunruhigendes; wenn sie in
Männergesellschaft kam, waren aller Augen auf sie gerichtet. Sie war wie ein
überfüttertes Pferd, das zu lange gestanden hat; nun hatte man es angeschirrt
und ihm die Zügel freigegeben. Neunundneunzig Hundertstel unserer Frauen sind
solche ungezügelte Pferde. Ich fühlte, daß auch sie zu ihnen gehörte, und mir
wurde bange ums Herz.«
XIX
Er erhob sich
plötzlich und setzte sich dicht ans Fenster. »Entschuldigen Sie mich«, sagte
er, richtete die Augen auf das Fenster und saß so wohl drei Minuten lang. Dann
seufzte er tief auf und setzte sich wieder mir gegenüber. Seine
Miene hatte sich völlig verändert, die Augen hatten etwas Weiches, und ein
seltsames Lächeln spielte um seine Lippen. – »Ich bin ein wenig müde geworden,«
fuhr er fort, »doch will ich weitererzählen. Es ist noch viel Zeit bis zum
Morgengrauen. Ja,« sagte er, sich eine Zigarette anzündend, »sie wurde also von
der Zeit an, da sie aufhörte zu gebären, stark und üppig, und diese Krankheit,
das ewige Leiden um die Kinder, war vorüber. Es war, als ob sie aus einem
Rausche erwacht wäre und die ganze Gotteswelt mit ihren Freuden, die sie
vergessen, vor sich sähe, eine Gotteswelt freilich, in der sie nicht zu leben
verstand, und die sie nicht begriff. ›Nur genießen, genießen! Die Zeit flieht
dahin, und du hältst sie nicht zurück!‹ So muß sie gedacht oder vielmehr
gefühlt haben, und sie konnte auch nicht anders denken und fühlen: war sie doch
in der Vorstellung erzogen, daß es in der Welt nur eines gebe, das Beachtung
verdiente: die Liebe. Sie hatte geheiratet, hatte etwas von dieser Liebe
kennengelernt, aber lange nicht das, was sie sich versprochen, was sie erwartet
hatte, sondern gar viele Enttäuschungen und Leiden und vor allem diese
unerwartete Qual mit den vielen Kindern. Diese Qual hatte sie mürbe gemacht.
Doch dank den diensteifrigen Doktoren war sie dahintergekommen, daß es auch
ohne Kinder gehe. Ihre Freude war groß, sie fand die Richtigkeit der Sache
bestätigt und lebte nun wieder auf für den einen Lebenszweck, den sie kannte:
für die Liebe. Aber die Liebe zu einem Manne, der sein Gefühl durch Eifersucht
und jähe Zornesausbrüche entwürdigt hatte, besaß für sie keinen Reiz mehr. Ihr
schwebte eine andere, reine, neue Liebe vor, wenigstens
glaubte ich das annehmen zu müssen. Und nun begann sie um sich zu schauen, als
ob sie etwas erwartete. Ich sah das und konnte nicht umhin, unruhig zu werden.
Ich hörte Äußerungen von ihr, die auf eine tiefe Wandlung schließen ließen. Sie
sagte es ganz offen, halb im Scherz heraus, daß die mütterlich liebende Sorge
eine Täuschung sei, daß es sich nicht lohne, sein Leben den Kindern zu opfern,
daß man nur einmal jung sei und sein Leben genießen müsse. Sie beschäftigte
sich jetzt mit den Kindern weniger als früher und nicht mehr mit solcher
Verzweiflung, dafür wandte sie, wenn auch zunächst unauffällig, ihre
Aufmerksamkeit mehr dem eigenen Ich und ihrem Äußeren, ihren Vergnügungen und
sogar ihrer Ausbildung zu. Sie nahm mit einiger Begeisterung wieder das
Klavierspiel auf, das sie schon ganz vernachlässigt hatte. Und das war dann der
Anfang der Katastrophe.«
Er wandte
sich wieder mit seinen müde blickenden Augen dem Fenster zu, fuhr dann jedoch,
seine Müdigkeit überwindend, sogleich wieder fort:
»Ja, da
erschien dieser Mensch auf der Bildfläche.« – Er stockte und gab wohl zweimal
seinen eigentümlichen Nasenlaut von sich.
Ich sah, daß
es ihm peinlich war, den Namen jenes Mannes zu nennen, sich seiner zu erinnern,
von ihm zu reden. Doch er machte eine heftige Anstrengung, überwand gleichsam
das Hindernis, das ihm im Wege stand, und fuhr entschlossen fort:
»Er war in
meinen Augen und nach meiner Meinung, kurz gesagt, ein Lump. Nicht in
Anbetracht der Rolle, die er in meinem Leben gespielt hat,
sondern weil er es wirklich war. Übrigens der Umstand, daß er ein schlechter
Mensch war, dient mir nur zum Beweise dafür, wie wenig zurechnungsfähig sie
war. Wenn nicht er, so wäre es eben ein anderer gewesen, das war nun
schon nicht mehr zu ändern.« – Er schwieg wieder. – »Ja, es war ein Musiker;
ein Geiger; nicht ein Musiker von Beruf, sondern halb Berufsmusiker, halb
Salonmensch. Sein Vater, ein Gutsbesitzer, war der Nachbar meines Vaters
gewesen. Er hatte sein Vermögen verloren, von seinen drei Söhnen hatten zwei
ihr Glück gemacht, während der jüngste, eben der Musiker, bei seiner Patin in
Paris untergebracht worden war. Da er musikalisches Talent besaß, ließ man ihn
das Konservatorium besuchen, das er als Konzertgeiger verließ. Er war ein
Mensch . . .«, anscheinend wollte er irgend etwas Schlechtes
über ihn sagen, doch unterdrückte er das tadelnde Wort und sagte nur rasch und
scharf: »Nun, schließlich weiß ich ja nicht, was für ein Leben er früher
geführt hatte, ich weiß nur, daß er in jenem Jahre in Rußland auftauchte und in
mein Haus kam: mandelförmige, feuchte Augen, lächelnde rote Lippen, ein flott
gedrehtes Schnurrbärtchen, letzte moderne Frisur, ein fades, hübsches Gesicht,
was die Frauen so einen netten Jungen nennen, von schwächlicher, wenn auch
nicht unvorteilhafter Statur, mit stark entwickeltem Hinterteil, wie es die
Frauen oder die Hottentotten besitzen, die ja auch sehr musikalisch sein
sollen. Er wurde, wo es anging, rasch familiär, fühlte jedoch sogleich, wo das
nicht angebracht war, und zog sich dann unter Wahrung seiner äußeren Würde
zurück, wobei er sich jenen eigentümlichen Pariser Anstrich
zu geben wußte, den Knöpfschuhe, bunte Krawatten und andere in Paris von den Fremden
übernommene, auf unsere Frauen wirkende Modesachen verleihen. In seinen
Manieren waltete eine gewisse gekünstelte, äußerliche Flottheit. Er sprach so
von allem, verstehen Sie, in Anspielungen und halben Sätzen, als ob Sie schon
alles wüßten, sich an alles erinnerten und alles selbst ergänzen könnten.
Dieser Mensch mit seiner Musik war also an allem schuld. In der
Gerichtsverhandlung wurde der Sachverhalt so dargestellt, als sei Eifersucht
die ausschließliche Ursache von allem gewesen. Dies war jedoch durchaus nicht
der Fall – das heißt, wenigstens nicht ausschließlich. In der Verhandlung wurde
festgestellt, daß ich der betrogene Gatte sei und daß ich sie getötet habe, um
meine beleidigte Ehre zu rächen – so nennen sie das ja wohl in ihrer Ausdrucksweise.
Aus diesem Grunde also sprachen sie mich frei. Ich wollte ihnen den tieferen
Zusammenhang der Dinge klar machen, sie aber verstanden es so, als wollte ich
die Ehre meiner Frau rehabilitieren.
Welcher Art
ihre Beziehungen zu diesem Musikanten gewesen sind, hatte weder für mich noch
für sie irgendeine tiefere Bedeutung. Bedeutung hatte nur das, was ich Ihnen
dargelegt habe, nämlich mein unlauteres Leben. Alles kam davon, daß zwischen
uns dieser entsetzliche Abgrund gähnte, den ich Ihnen beschrieb, diese furchtbare
Spannung gegenseitigen Hasses, bei dem der geringste Anlaß genügte, um eine
Krise herbeizuführen. Die Zänkereien zwischen uns waren in der letzten Zeit zu
etwas Schrecklichem geworden, verheerend namentlich dadurch,
daß sie sich gelegentlich in einer jähen, tierischen Leidenschaftlichkeit
auslösten.
Wäre er
nicht aufgetaucht, so wäre es eben ein anderer gewesen. Außer der Eifersucht
hätte sich ein beliebiger anderer Vorwand finden lassen. Ich bin der
Überzeugung, daß alle Männer, die so gelebt haben wie ich, entweder ganz und
gar dem Laster verfallen oder zur Scheidung schreiten, entweder Selbstmord
begehen oder, wie ich es getan, ihre Frau töten müssen. Wenn bei einem von
ihnen keine dieser Möglichkeiten zutrifft, so bildet er eine seltene Ausnahme.
Ich hatte, bevor ich den Ausweg wählte, dem ich schließlich den Vorzug gab,
mehrmals vor dem Selbstmorde gestanden, und auch sie hatte einige Male
versucht, sich zu vergiften.
XX
Ja, so lagen
die Dinge in der letzten Zeit.
Wir lebten
in einer Art Waffenstillstand und hatten keinen Anlaß, ihn zu verletzen.
Plötzlich kommen wir in der Unterhaltung auf einen bestimmten Hund zu sprechen:
ich sage, er habe auf der Ausstellung eine Medaille bekommen, und sie
behauptet, nicht eine Medaille sei es gewesen, sondern eine ehrenvolle
Erwähnung. Wir fangen an zu streiten, von einem Gegenstande geht's zum andern,
ein Wort gibt das andere: ›Na ja, wir wissen ja Bescheid, das ist ja immer so.
Du sagtest‹ . . . – ›Nein, ich habe nichts gesagt . . .‹
– ›So, dann lüge ich also! . . .‹
Es liegt so
etwas in der Luft, als ob jeden Augenblick wieder eine der entsetzlichen Szenen
ausbrechen sollte, bei der man am liebsten sie oder sich
selbst töten möchte. Man weiß: jetzt gleich wird es losbrechen, man fürchtet
sich davor wie vor dem Feuer und sucht sich zu beherrschen, doch die Wut packt
dein ganzes inneres Wesen. Sie ist in derselben, wenn nicht in noch ärgerer
Stimmung, verdreht absichtlich jedes deiner Worte und schiebt ihm einen
erlogenen Sinn unter; alles aber, was sie sagt, ist von Gift durchtränkt
und ihre Worte wissen mich gerade an den empfindlichsten Stellen zu treffen.
Immer weiter geht's, immer toller. Ich schreie: ›Schweig!‹ oder so etwas in der
Art. Sie läuft aus dem Zimmer nach der Kinderstube. Ich will sie zurückhalten,
um meine Rede und Beweisführung zu beenden, und fasse sie bei der Hand. Sie
stellt sich, als hätte ich ihr wehgetan, und schreit: ›Kinder, euer Vater
schlägt mich!‹ Ich schreie meinerseits: ›Lüg' nicht!‹ – Sie kreischt: ›Es wäre
ja nicht das erstemal!‹ – Die Kinder stürzen zu ihr hin und sie beruhigt sie.
Ich sage: ›Verstell' dich doch nicht!‹ Sie sagt: ›Für dich ist alles
Verstellung, du bist imstande, einen Menschen zu töten und zu behaupten, er
verstelle sich. Jetzt habe ich dich durchschaut: auf meinen Tod hast du es
abgesehen, weiter nichts!‹ – ›Ach, wenn du doch krepieren wolltest!‹ schrei
ich. Ich erinnere mich noch, wie ich bei diesen meinen Worten erschrak: ich
hatte nicht geglaubt, daß ich fähig wäre, so schreckliche, rohe Worte auszusprechen,
und war erstaunt, daß sie meinen Lippen entfuhren. Ich stoße diese
schrecklichen Worte aus, eile in mein Kabinett, setze mich hin und rauche. Ich
höre, daß sie sich ins Vorzimmer begibt und sich zum Ausfahren bereitmacht. Ich
frage sie: ›Wohin?‹ – Sie antwortet mir nicht. Na, dann hol'
sie der Teufel, denk' ich, kehre in mein Kabinett zurück, lege mich hin und
rauche. Tausend verschiedene Pläne, wie ich mich an ihr rächen, mich von ihr
befreien und das alles ungeschehen machen könnte, schwirren mir durch den Kopf.
Gedanke um Gedanke taucht empor und ich rauche, rauche, rauche. Ich will nach
Amerika entfliehen. So weit führen mich meine Gedanken, daß ich mir schon allen
Ernstes ausmale, wie schön das sein wird, von ihr befreit zu sein und mit einer
neuen, völlig anders gearteten, schönen Frau zusammenzuleben. Wie aber soll ich
von ihr frei werden? Dadurch, daß sie stirbt, oder daß ich mich von ihr
scheiden lasse – ja, aber wie soll das geschehen? Ich sehe, daß meine Gedanken
wirr werden, daß mir lauter dummes Zeug durch den Kopf geht, und um zu
vergessen, wie toll das alles ist, – rauche und rauche ich.
Zu Hause
aber nimmt das gewöhnliche Leben seinen Fortgang. Die Gouvernante kommt und
fragt, wo Madame sei, wann sie zurückkommen werde. Der Diener fragt, ob er den
Tee servieren solle. Ich komme ins Eßzimmer; die Kinder, namentlich Lisa, die
Älteste, die schon begreift, sieht mich fragend und mißbilligend an. Schweigend
trinken wir den Tee. Sie kommt und kommt nicht. Der ganze Abend vergeht, ohne
daß sie zurückkehrt, und zwei Gefühle wechseln in meiner Seele: der Zorn
darüber, daß sie mich und die Kinder durch ihre Abwesenheit quält, die doch
schließlich nur mit ihrer Rückkehr enden könne, und die Angst, daß sie am Ende doch nicht kommt und sich etwas antut. Ich möchte sie holen –
doch wo soll ich sie suchen? Bei ihrer Schwester? Aber das sieht so dumm aus:
man kommt hin und fragt nach ihr! Schließlich, Gott mit ihr: wenn sie andere
quälen will, so soll sie sich auch selbst quälen! Das will sie ja nur, daß man sie
hole. Das nächste Mal wird sie es dann nur um so toller treiben. Wie aber, wenn
sie nicht bei der Schwester ist, wenn sie sich etwas antut oder schon angetan
hat? . . . Elf Uhr, zwölf Uhr. Ich gehe nicht ins Schlafzimmer, es
sieht so dumm aus, wenn man dort so allein herumliegt und wartet. Ich gehe
überhaupt nicht schlafen. Ich will mich lieber irgendwie beschäftigen, einen
Brief schreiben, etwas lesen . . . ach, zu nichts hab' ich Lust! Ich
sitze allein im Kabinett, quäle mich, ärgre mich und horche zum Zimmer hinaus.
Drei, vier Uhr – sie ist noch immer nicht da. Gegen morgen schlafe ich ein.
Nach einiger Zeit erwache ich – noch immer bin ich allein.
Alles im
Hause geht seinen alten Gang, alles jedoch ist erstaunt und sieht mich
vorwurfsvoll an, in der Meinung, daß ich an allem schuld sei.
In mir wütet
immer noch der Kampf zwischen dem Zorne darüber, daß sie mich so martert und
der Unruhe um ihr Verbleiben.
Gegen elf
Uhr morgens erscheint ihre Schwester bei mir als ihre Abgesandte. Die gewohnte
Unterhandlung beginnt: ›Sie ist in einer schrecklichen Verfassung
. . . Ja, aber wie denn? Es ist doch nichts geschehen!‹ Ich spreche
von ihrem unerträglichen Charakter und sage, daß mich jedenfalls keine Schuld
treffe.
›Auf keinen Fall darf das so bleiben‹, sagt die
Schwester.
›Alles kommt
auf ihr Konto, nicht auf meines‹, sage ich. ›Ich werde jedenfalls den
ersten Schritt nicht tun. Wenn sie sich scheiden lassen will – mir soll es
recht sein.‹
Der Besuch
der Schwägerin war ergebnislos verlaufen. Ich hatte ihr ohne Umstände erklärt,
daß ich den ersten Schritt nicht tun würde, kaum jedoch war sie fort, kaum war
ich aus dem Zimmer getreten und hatte die verstörten, erschrockenen Gesichter
der Kinder gesehen, als ich auch schon bereit war, dennoch den ersten Schritt zu
tun. Wie aber soll ich es anfangen? Wieder gehe ich umher und rauche, trinke
beim Frühstück Likör und Wein und erreiche damit, was ich unbewußt wünsche: daß
ich das Törichte, Abgeschmackte meiner Lage nicht sehe.
Gegen drei
Uhr kommt sie angefahren. Ohne ein Wort zu sagen, geht sie an mir vorüber. In
der Meinung, daß sie sich beruhigt hat, beginne ich ihr auseinanderzusetzen,
ihre Vorwürfe hätten mich gereizt. Mit abweisendem, bis zum äußersten
abgespanntem Gesicht erklärt sie mir, wir könnten nicht miteinander
weiterleben. Ich sage, mich träfe keine Schuld, sie hätte mich geradezu
herausgefordert. Sie sieht mich ernst und feierlich an und sagt darauf: ›Sprich
nicht weiter, es wird dir leid tun.‹ Ich entgegne ihr, ich könne kein
Komödienspiel leiden. Da schreit sie mir irgend etwas ins Gesicht, was ich
nicht verstehe, und läuft in ihr Zimmer. Der Schlüssel knarrt von innen; sie
hat sich eingeschlossen. Ich klopfe, keine Antwort erfolgt, und ich entferne
mich wütend. Eine halbe Stunde darauf kommt Lisa weinend herbeigelaufen. – ›Was gibt es? Ist etwas vorgefallen?‹ – ›In Mamas Zimmer ist
es so still.‹ – ›Komm schnell!‹ – Ich rüttle aus Leibeskräften an der Tür. Der
Riegel schloß nicht dicht, und die beiden Flügel springen auf. Ich trete an ihr
Bett heran. Sie liegt recht unbequem da, in Unterkleidern und hohe
Stiefeletten. Auf dem Tische steht ein geleertes Opiumfläschchen. Wir bringen
sie ins Bewußtsein zurück; Tränen – und schließlich Versöhnung. Doch nein,
nicht Versöhnung: jeder von uns trägt in der Seele den alten Grimm, noch
verstärkt durch den Schmerz, den die Erregung dieses neuen Streites
hervorgerufen hat, und den natürlich jeder vollständig auf die Rechnung des
andern setzt. Aber schließlich mußte doch alles das ein Ende nehmen, und das
Leben kam wieder ins alte Geleise. Zank und Streit gab es unaufhörlich, bald
einmal in der Woche, bald einmal im Monat, bald auch Tag für Tag. Und immer war
es dasselbe Spiel. Einmal hatte ich bereits einen Auslandspaß genommen – der
Zank hatte zwei Tage gedauert. Dann aber kam wieder eine halbe Erklärung, eine
halbe Aussöhnung – und ich blieb.
XXI
So also sah
es in unserem ehelichen Leben aus, als jener Mensch auf der Bildfläche
erschien. Er kam nach Moskau – Truchatschewskij hieß er – und machte mir seinen
Besuch. Es war am Vormittag. Ich empfing ihn. Wir hatten uns einstmals geduzt.
Er schwankte in der Unterhaltung zwischen dem ›Sie‹ und dem ›Du‹ hin und her
und schien dem letzteren den Vorzug zu geben, ich betonte
jedoch von vornherein das ›Sie‹, und er gab sogleich nach.
Er mißfiel
mir sehr, und zwar auf den ersten Blick. Seltsamerweise jedoch trieb mich eine
verhängnisvolle Macht, ihn an mich zu ziehen, statt ihn von mir fernzuhalten.
Was wäre schließlich einfacher gewesen, als daß ich nach einer kühlen
Unterhaltung mich von ihm verabschiedet hätte, ohne ihn meiner Frau
vorzustellen? Statt dessen jedoch kam ich wie absichtlich auf sein Spiel zu
sprechen und sagte, man habe mir erzählt, er habe sein Geigenspiel aufgegeben.
Er sagte, er spiele im Gegenteil jetzt eifriger denn je, und erinnerte mich
daran, daß auch ich früher gespielt hätte. Ich erklärte, daß ich nicht mehr
spielte, daß jedoch meine Frau gut spiele. Ganz seltsamerweise gestalteten sich
meine Beziehungen zu ihm gleich am ersten Tage, in der ersten Stunde unseres
Wiedersehens so, als ob alles auf den Endzweck, der schließlich erzielt wurde,
abgesehen gewesen wäre. Es war etwas Gespanntes in unseren Beziehungen: jedes
Wort, jeder Ausdruck, der über seine oder meine Lippen kam, schien mir ein
besonderes Gewicht zu haben.
Ich stellte
ihm meine Frau vor. Sogleich entspann sich eine Unterhaltung über Musik, und er
bot sich an, mit ihr zusammen zu spielen. Meine Frau war, wie stets in dieser
letzten Zeit, sehr elegant und schick, ja von bestrickendem Reize. Er gefiel
ihr anscheinend auf den ersten Blick. Vor allem war sie hocherfreut darüber,
einen Geiger zum Zusammenspiel zu haben, was sie sehr gern hatte, so daß sie zu
diesem Zweck auch öfters einen Violinisten vom Theater zu engagieren pflegte.
Man sah ihr die Freude über die neue Bekanntschaft am
Gesichte an, als sie mich jedoch anschaute, begriff sie sogleich mein Gefühl
und änderte ihren Gesichtsausdruck. Und nun begann dieses Spiel des
gegenseitigen Belügens. Ich lächelte zuvorkommend und tat, als ob mir das alles
sehr angenehm wäre. Er sah meine Frau so an, wie alle sittenlosen Männer
hübsche Frauen anzusehen pflegen, wobei er sich so anstellte, als ob für ihn
nur der Gegenstand der Unterhaltung von Interesse sei, während gerade dieser
ihn am wenigsten interessierte. Sie suchte gleichgültig zu erscheinen, aber das
ihr wohlbekannte, künstlichlächelnde Mienenspiel meines von Eifersucht erregten
Gesichtes und der lüsterne Blick des Gastes machten sie offenbar befangen. Ich
sah, daß vom ersten Augenblick an ihre Augen in eigentümlicher Weise
erglänzten, und meine Eifersucht bewirkte es wohl, daß zwischen ihm und ihr
sozusagen ein elektrischer Strom entstand, der bei beiden den gleichen Ausdruck
in Blick und Lächeln hervorrief. Sie errötete, er errötete. Sie lächelte, er
lächelte. Wir plauderten von Musik, von Paris, von allen möglichen Bagatellen.
Er erhob sich, um zu gehen, stand den Hut am zuckenden Schenkel, lächelnd da
und sah bald sie, bald mich an, als wartete er, was wir wohl beginnen würden.
Ich habe diesen Moment ganz besonders im Gedächtnis behalten: hätte ich ihn
nicht eingeladen, so wäre gar nichts geschehen. Doch ich sah ihn und sie an. ›Glaube
nicht etwa, ich sei deinetwegen eifersüchtig,‹ sprach ich in Gedanken zu ihr
und fuhr dann, zu ihm gewandt, fort: ›oder ich fürchtete deine
Nebenbuhlerschaft‹, und ich lud ihn ein, gelegentlich am Abend seine Geige mitzubringen und mit meiner Frau zu musizieren. Sie sah
mich erstaunt an, wurde rot, meinte erschrocken, sie spiele doch nicht gut
genug, und weigerte sich, mit ihm zusammen zu spielen. Ihre Weigerung reizte
mich noch mehr und ich bestand nun erst recht auf meinem Vorschlage. Ich
erinnere mich des seltsamen Gefühls, das mich beschlich, als ich ihn mit seinem
hüpfenden Vogelschritt hinausgehen sah und seinen weißen Nacken mit dem in der
Mitte gescheitelten schwarzen Haar betrachtete. Ich sagte mir im stillen, daß
die Anwesenheit dieses Menschen mir unbedingt peinvoll sei. Es hinge nur von
mir ab, dachte ich, es so einzurichten, daß sie ihn niemals zu Gesichte bekäme
– aber das hätte dann so ausgesehen, als ob ich Angst vor ihm habe. Nein, ich
hatte keine Angst! Das wäre gar zu erniedrigend, redete ich mir ein. Und so lud
ich ihn denn im Vorzimmer, wohl wissend, daß meine Frau es hörte, noch auf
diesen Abend ein. Er nahm es an, versprach, seine Geige mitzubringen, und
empfahl sich.
Am Abend
erschien er mit der Geige, und sie spielten. Aber das Spiel klappte nicht
recht: die Noten, die sie brauchten, waren nicht vorhanden, und was vorhanden
war, konnte meine Frau ohne Vorbereitung nicht spielen. Ich war ein großer
Musikfreund und verfolgte ihr Spiel mit Interesse, hatte für ihn ein Notenpult
aufgestellt und wandte die Notenblätter um. Sie spielten einige Sachen, Lieder
ohne Worte und eine Mozartsche Sonate. Er spielte ausgezeichnet: er besaß im
höchsten Maße das, was man Tonfülle nennt, und außerdem einen zarten, edlen
Geschmack, der im übrigen seinem Charakter zu widersprechen schien.
Er spielte natürlich weit besser als meine Frau, half ihr, wo es ging, und
lobte zugleich ihr Spiel in reservierter Weise. Er hielt sich sehr gut. Meine
Frau schien sich nur für die Musik zu interessieren und gab sich sehr einfach
und natürlich. Ich stellte mich, als sei ich ganz von der Musik in Anspruch
genommen, in Wirklichkeit jedoch wurde ich den ganzen Abend von
Eifersuchtsqualen gepeinigt.
Vom ersten
Blick an, den sie miteinander gewechselt hatten, sah ich, daß das Tier, das in
ihnen stak, ohne irgendwelche Rücksicht auf die gesellschaftliche Situation
bereits geforscht hatte: ›Darf ich?‹ worauf die Antwort erfolgt war: ›O ja
– bitte sehr!‹ Ich sah es ihm an, daß er nicht erwartet hatte, in meiner Frau,
einer schlichten Moskowiterin, eine so anziehende Dame zu finden, und daß er
darüber sehr erfreut war – denn einen Zweifel an ihrer Zustimmung hielt er
offenbar für ausgeschlossen. Die Frage war nur, ob nicht vielleicht der Gatte
sich allzu unbequem erweisen würde. Wäre ich selbst rein gewesen, so hätte ich
das nicht so klar durchschaut, aber ich hatte, wie die meisten Männer, als
Junggeselle von den Frauen dieselbe Meinung gehabt und las deshalb in seiner
Seele wie in einem offenen Buche.
Ganz
besonders quälte mich die Erkenntnis, daß sie gegen mich kein anderes Gefühl
hegte als diese beständige, nur durch die üblichen Sinnlichkeitsausbrüche
unterbrochene Erregtheit, während dieser Mensch durch seine äußere Eleganz,
durch die Neuheit seiner Erscheinung, durch sein unzweifelhaft großes
musikalisches Talent und die intime Annäherung, die das Zusammenspiel, zumal bei Mitwirkung der Geige, bei empfänglichen Naturen
hervorbringt, ihr nicht nur gefallen, sondern sie unbedingt beim ersten Angriff
erobern, sie nach seinem Willen ummodeln und sich völlig gefügig machen mußte.
Ich mußte das einsehen, und ich litt unsagbar unter dieser Erkenntnis.
Gleichwohl oder vielleicht eben darum trieb mich eine geheime Macht wider
Willen an, nicht nur besonders höflich, sondern geradezu zuvorkommend gegen ihn
zu sein. Ob ich das um meiner Frau oder um seinetwillen tat, etwa um zu zeigen,
daß ich ihn nicht fürchte, oder ob es um meinetwillen in der Absicht des
Selbsttäuschung geschah, weiß ich nicht, jedenfalls vermochte ich vom ersten Augenblick
an nicht einfach und natürlich gegen ihn zu sein. Ich mußte ihn streicheln, um
nicht dem Wunsche nachzugeben, ihn sofort zu töten. Ich bewirtete ihn beim
Abendessen mit teuren Weinen, schwärmte von seinem Spiel, setzte, wenn ich mit
ihm sprach, das freundlichste Lächeln auf und lud ihn für den nächsten Sonntag
zum Mittagessen ein. Sie sollten dann wieder zusammenspielen, und ich
versprach, ein paar musikliebende Bekannte einzuladen, die ihn anhören sollten.
Damit schieden wir voneinander.«
In heftiger
Erregung rückte er auf seinem Platze hin und her und ließ seinen eigentümlichen
Laut vernehmen.
»Höchst
seltsam,« begann er wieder, sichtlich bemüht, seine Ruhe zu bewahren, »wie die
Anwesenheit dieses Menschen auf mich wirkte.
Zwei oder
drei Tage darauf kam ich aus einer Ausstellung nach Hause. Ich betrete das
Vorzimmer, verspüre einen Druck, wie wenn sich mir ein Stein schwer auf die Brust legte, und kann mir keine Rechenschaft geben,
was das eigentlich bedeutet. Erst allmählich kam es mir zum Bewußtsein: ich
hatte im Vorzimmer etwas bemerkt, was im Zusammenhang mit ihm stehen mußte. Im
Kabinett angelangt, machte ich kehrt, um mir Klarheit über den Sachverhalt zu
verschaffen. Ich ging ins Vorzimmer zurück und fand die Richtigkeit meiner
Beobachtung bestätigt: nein, ich hatte mich nicht geirrt – dort hing sein
Mantel. Solch ein moderner, geckenhafter Mantel, wissen Sie? Alles, was sich
auf ihn bezog, erregte immer meine besondere Aufmerksamkeit, wenn ich mir auch
nicht sofort volle Rechenschaft darüber gab. Ich frage nach ihm: ja, er ist da.
Ich gehe nicht durch das Besuchszimmer, sondern durch das Unterrichtszimmer der
Kinder nach dem Salon. Lisa, meine Tochter, sitzt mit einem Buche in der Hand
da, und die Kinderfrau mit der Kleinsten am Tische läßt einen Deckel tanzen.
Die Salontür ist geschlossen. Ich höre von dort her ein gleichmäßiges Arpeggio
und seine und ihre Stimme; ich horche, vermag jedoch nichts von ihrem Gespräch
zu unterscheiden, offenbar sollte das Klavier ihre Worte, oder ihre Küsse – wer
weiß? – übertönen. Mein Gott, was sich da in mir aufbäumte! Wenn ich nur an die
reißende Bestie denke, die damals in mir lebte, packt mich das Entsetzen. Das
Herz krampfte sich mir plötzlich zusammen, es blieb stehen und begann dann wie
mit Hammerschlägen zu pochen. Das vorwiegende Gefühl, das ich empfand, war wie
bei allen meinen Zorneswallungen, Mitleid mit mir selbst. ›In Gegenwart der
Kinder, der Kinderfrau!‹ dachte ich. Ich muß schrecklich ausgesehen
haben, denn Lisa sah mich mit ganz verängstigten Augen an. ›Was soll ich tun?‹
fragte ich mich, ›hineingehen kann ich nicht, ich richte Gott weiß was an. Doch
ich kann auch nicht fortgehen. Die Kinderfrau sieht mich gerade so an, als ob
sie alles erriete.‹
›Ja, ich muß
hineingehen,‹ sprach ich zu mir selbst und öffnete rasch die Tür. Er saß am
Klavier, spielte mit seinen gebogenen, langen, weißen Fingern diese Arpeggien,
und sie stand an der Ecke des Flügels über den aufgeschlagenen Noten. Sie hatte
mich zuerst erblickt oder gehört und schaute mich an. Ob sie erschrocken war
und sich nur so stellte, als sei sie nicht erschrocken, oder ob sie tatsächlich
nicht erschrocken war – jedenfalls zuckte und bewegte sie sich nicht, sondern
errötete nur, und zwar erst nachträglich.
›Wie freue
ich mich, daß du gekommen bist – wir haben uns noch nicht entschlossen, was wir
am Sonntag spielen sollen‹, sprach sie in einem Tone, in welchem sie nicht mit
mir gesprochen hätte, wenn wir allein gewesen wären. Dieser Ton sowie der
Umstand, daß sie sich und ihn in dem Worte ›wir‹ zusammenfaßte, beunruhigte
mich. Ich begrüßte ihn schweigend. Er drückte mir die Hand und begann mir mit
einem Lächeln, worin von vornherein eine gewisse Ironie zu liegen schien, zu
erklären, er habe die Noten für die sonntägliche Musikunterhaltung mitgebracht,
sie seien noch nicht einig, was sie spielen sollten, eine schwierigere
klassische Sache, etwa eine Beethovensche Sonate für Violine oder einige
kleinere Stücke? Alles war so natürlich und einfach, daß man an nichts Anstoß
nehmen konnte; dennoch war ich überzeugt, daß alles erlogen
war, daß es ihnen nur darauf ankam, sich zu verabreden, wie sie mich
hintergehen könnten.
Eine der
quälendsten Eigentümlichkeiten unseres gesellschaftlichen Verkehrs ist für
eifersüchtige Leute – und das sind wohl alle, die unsere Salons bevölkern – die
allzu freie, gefährliche Annäherung, die zwischen Männern und Frauen möglich
ist. Man macht sich einfach lächerlich, wenn man auf Bällen, im Verkehr des
Arztes mit seiner Patientin, im Bereich der Künste, der Malerei, besonders aber
der Musik, diese Annäherung verhindern wollte. Die Leutchen widmen sich zu
zweien der edelsten aller Künste, der Musik; zu diesem Zweck muß ein gewisses
Näherrücken stattfinden, das nichts Verdächtiges hat: nur der dumme,
eifersüchtige Ehemann kann darin etwas Unerwünschtes sehen. Und dabei wissen
doch alle nur zu gut, daß gerade die erwähnten Beschäftigungen, zumal mit der
Musik, zu den meisten Ehebrüchen in unseren Gesellschaftskreisen Anlaß geben.
Ich hatte
sie augenscheinlich durch die Verwirrung, die sich in meinen Zügen malte,
gleichfalls in Verwirrung gebracht. Ich konnte eine ganze Weile kein Wort sagen
und war wie eine umgestülpte Flasche, aus der das Wasser nicht herausquillt,
weil sie zu voll ist. Ich brannte darauf, ihn auszuschelten und hinauszuwerfen,
doch ich fühlte, daß ich wieder freundlich und zuvorkommend gegen ihn sein
müßte. Ich stellte mich, als hieße ich alles gut, versicherte ihm, daß ich mich
ganz auf seinen guten Geschmack verlasse, und riet ihr, sich ebenso zu
verhalten. Er blieb noch so lange, als notwendig war, um
den peinlichen Eindruck zu verwischen, als ich plötzlich mit erschrockenem
Gesicht ins Zimmer trat und schweigend stehen blieb, und er empfahl sich,
nachdem er angeblich mit ihr darüber einig geworden, was sie morgen spielen
würden. Ich war meinerseits fest davon überzeugt, daß im Vergleich zu dem, was
sie tiefinnerlich beschäftigte, die Frage, was sie spielen sollten, ihnen
höchst gleichgültig war. Ich begleitete ihn mit ganz besonderer Höflichkeit ins
Vorzimmer – wie sollte ich das nicht bei einem Menschen, der erschienen war, um
die Ruhe einer ganzen Familie zu stören und ihr Glück zu vernichten? Mit
ausnehmender Freundlichkeit drückte ich seine weiße, weiche Hand.
XXII
An diesem
ganzen Tage sprach ich nicht mit ihr, ich war dazu nicht imstande. Ihre Nähe
rief in mir eine solche Wut hervor, daß ich mich vor mir selbst fürchtete. Bei
Tisch fragte sie mich in Gegenwart der Kinder, wann ich verreise. Ich hatte in
der nächsten Woche vor, zu einer Kreisversammlung zu fahren. Ich gab ihr
Bescheid. Sie fragte mich, ob ich nicht irgend etwas für die Fahrt mitnehmen
möchte. Ich antwortete ihr nicht und begab mich schweigend in mein Kabinett. In
letzter Zeit war sie nie in mein Zimmer gekommen, namentlich nicht um diese
Zeit. Ich lag im Kabinett und war im höchsten Maße aufgebracht. Da vernehme ich
einen bekannten Schritt. Und plötzlich kommt mir der furchtbare, tolle Gedanke in den Kopf, daß sie, wie die Frau des Urias, ihre
bereits begangene Sünde verbergen wolle und daß sie deshalb zu so ungewohnter
Stunde zu mir komme. ›Kommt sie denn wirklich zu mir?‹ dachte ich und horchte
auf die sich nahenden Schritte. ›Wenn sie zu mir kommt, dann ist meine
Vermutung richtig‹ . . . Und in meiner Seele erhebt sich eine
unaussprechliche Wut gegen sie. Die Schritte kommen näher und näher –
vielleicht geht sie doch vorüber, in den Salon? Nein, die Tür knarrte, und in
der Türöffnung erschien ihre hohe, schöne Gestalt; aus ihren Mienen und Blicken
spricht Scheu und Schmeichelei, die sie verbergen möchte, die mir jedoch nicht
entgehen, und deren Bedeutung ich wohl begreife. Ich war fast dem Ersticken
nahe, so lange hatte ich meinen Atem angehalten, und ohne ein Auge von ihr zu
wenden, griff ich nach meiner Zigarettentasche und zündete mir eine Zigarette
an.
›Sieh doch!
Man kommt zu dir, um zu plaudern, und du steckst dir eine Zigarette an?‹ sagte
sie, setzte sich neben mich auf den Diwan und wollte sich an mich lehnen.
Ich rückte
fort, um ihrer Berührung auszuweichen.
›Ich sehe,
es paßt dir nicht, daß ich am Sonntag spielen will?‹ sagte sie.
›O, doch,
doch, es paßt mir sehr gut‹, erwiderte ich.
›Ja, aber
ich sehe doch . . .‹
›Freut mich
sehr, daß du es siehst. Ich sehe nur das eine, daß du dich wie ein kokettes
Weib benimmst . . . Du schwärmst eben für alles Gemeine, während ich
es verabscheue.‹
›Wenn du
schimpfen willst wie ein Kutscher, dann geh' ich lieber.‹
›Geh' – aber
merk' es dir: wenn dir an der Familienehre nichts liegt, so werde ich
sie zu schützen wissen, dich aber . . . dich . . . mag der
Teufel holen!‹
›Ja, was . .
. was denn?‹
›Pack' dich
– um Gottes willen, pack' dich!‹
Ob sie sich
nur so stellte, als verstände sie meine Worte nicht, oder ob sie sie wirklich
nicht verstand – kurzum, sie wurde böse, ging jedoch nicht hinaus, sondern
blieb beleidigt mitten im Zimmer stehen.
›Du bist
wirklich ganz unmöglich geworden‹, begann sie, ›du hast eine Art, an die auch
ein Engel sich nicht zu gewöhnen vermöchte‹ – und wie immer, suchte sie mich an
einer möglichst schmerzlichen Stelle zu treffen, indem sie mich an einen
Zusammenstoß mit meiner Schwester erinnerte, der ich damals im Ärger einige
Grobheiten gesagt hatte. Sie wußte, daß mir dieser Streit sehr peinlich gewesen
war, und darum spielte sie gerade jetzt auf ihn an.
›Nach jenem
Vorfall wundere ich mich über nichts mehr‹, sagte sie.
›Ja, mich
beleidigen, erniedrigen, mich mit Schmach und Schuld
bedecken . . .‹, sagte ich mir im stillen – und plötzlich
erfaßte mich eine so entsetzliche Wut gegen sie, wie ich sie noch niemals
empfunden hatte. Zum erstenmal verspürte ich das Verlangen, diese Wut physisch
zum Ausdruck zu bringen. Ich sprang auf und drang auf sie ein, im Augenblick
jedoch, da ich aufsprang, kam mir mein Wutzustand zum Bewußtsein, und ich fragte mich, ob ich recht daran täte, mich diesem Zustande zu
überlassen. Und alsbald gab ich mir zur Antwort: ›Ja, ja, du tust recht daran,
denn das wird sie einschüchtern‹, und statt die Flamme zu löschen, begann ich
sie vielmehr zu schüren und empfand eine wahre Lust, wie sie mehr und mehr in
mir emporloderte.
›Scher dich
hinaus oder ich schlage dich tot!‹ schrie ich, auf sie zutretend, und erfaßte
ihre Hand. Ich verstärkte dabei absichtlich den wütenden Ausdruck meiner
Stimme. Und ich muß wohl furchtbar ausgesehen haben, denn sie war so
eingeschüchtert, daß sie nicht einmal mehr die Kraft fand, sich zu entfernen,
und nur die Worte hervorbrachte:
›Wassja, was
ist denn mit dir? Was ist dir?‹
›Hinaus mit
dir!‹ brüllte ich noch lauter, ›du bringst mich, weiß Gott, zum äußersten! Ich
stehe für mich nicht mehr ein!‹
Ich überließ
mich ganz meiner Wut, berauschte mich förmlich an ihr und verspürte nicht übel
Lust, noch irgend etwas ganz Außergewöhnliches zu vollbringen, das den Grad
meiner Raserei zum Ausdruck bringen könnte. Ich brannte vor Verlangen, sie zu
schlagen, zu töten, doch sagte ich mir, daß das doch nicht so ohne weiteres
gehe, und um meinem Jähzorn wenigstens einen Ausweg zu schaffen, ergriff
ich den Briefbeschwerer vom Tische, schrie noch einmal: ›Hinaus mit dir!‹ und
schleuderte den Briefbeschwerer neben ihr auf den Fußboden. Dann ging sie aus
dem Zimmer, blieb jedoch in der Tür stehen. Und da, während sie noch nach mir
hinsah – ich tat es bloß damit sie es sähe – nahm ich auch
den Leuchter und das Tintenfaß vom Schreibtische, warf beides auf den Boden und
schrie: ›Geh, pack dich, ich stehe nicht für mich ein!‹
Sie ging,
und ich beruhigte mich sogleich. Eine Stunde später kam die Kinderfrau und
sagte mir, daß meine Frau einen hysterischen Anfall habe. Ich ging in ihr
Zimmer: sie schluchzte, lachte, konnte nicht sprechen und zuckte am ganzen
Leibe. Sie verstellte sich nicht, sondern war wirklich krank.
Am Morgen,
nachdem wir uns versöhnt und ich ihr eingestanden hatte, daß ich auf
Truchatschewskij eifersüchtig gewesen, war sie nicht im geringsten verlegen,
sondern lachte auf die natürlichste Weise; schon die Möglichkeit, sagte sie,
sich in einen solchen Menschen zu verlieben, käme ihr sonderbar vor.
›Kann eine
anständige Frau wohl für einen solchen Menschen eine andere Empfindung hegen,
als eben jene, die die Musik hervorruft?‹ sagte sie. ›Wenn es dir recht ist,
will ich ihn niemals wiedersehen. Auch an diesem Sonntag nicht, obgleich schon
alle eingeladen sind; schreib ihm, daß ich unpäßlich sei und damit Schluß.
Unangenehm ist nur, daß jemand – womöglich er selbst – denken könnte, er sei
gefährlich. Ich bin jedenfalls viel zu stolz, um einen solchen Gedanken
aufkommen zu lassen!‹
Und sie log
damals wirklich nicht, sie glaubte an das, was sie sagte, sie hoffte,
Geringschätzung gegen ihn durch diese Worte in sich hervorzurufen und sich so
gegen ihn zu schützen, was ihr freilich nicht gelang. Alles hatte sich gegen
sie verschworen, insbesondere diese fluchwürdige Musik. So
endete alles – am Sonntag versammelten sich die Gäste, und sie spielten wieder
zusammen.
XXIII
Ich halte es
für überflüssig zu sagen, daß ich sehr ehrgeizig war. Wenn man in unserem
gewöhnlichen Durchschnittsleben nicht ehrgeizig ist, fehlt es einem eigentlich
an einem Lebenszweck. Nun, so machte ich mich denn am Sonntag mit all dem
Geschmack, den ich besaß, an das Arrangement des Diners nebst anschließender
musikalischer Abendunterhaltung. Ich selbst besorgte die meisten Einkäufe zum
Essen und lud die Gäste ein. Um sechs Uhr versammelten sich die Gäste, und auch
er erschien im Frack, mit brillantenen Manschettenknöpfen von schlechtem
Geschmack. Er benahm sich ganz ungezwungen, gab seine Antworten rasch, mit
einem Lächeln der Zustimmung und des Einverständnisses – jenem besonderen
Lächeln, verstehen Sie, welches besagt, daß alles, was Sie tun oder reden
mögen, gerade das ist, was er erwartet. Alles Unvornehme, das mir jetzt an ihm
auffiel, vermerkte ich mit besonderem Wohlgefallen, da es mich beruhigen und
mir zum Beweis dafür werden mußte, daß er für meine Frau auf einer viel zu
niedrigen Stufe stand, auf die sie, wie sie sagte, sich nie herablassen könnte.
Ich gestattete mir nun nicht mehr, den Eifersüchtigen zu spielen. Erstens hatte
ich die Qualen dieser Leidenschaft schon zur Genüge kennen gelernt, so daß ich
der Ruhe bedurfte, und zweitens wollte ich den Versicherungen meiner Frau Glauben schenken und glaubte ihnen in der Tat. Aber obschon
ich nicht eifersüchtig sein wollte, war mein Benehmen beiden gegenüber doch
recht unnatürlich, und während des Mittagessens wie auch während der ersten
darauf folgenden Stunde, bevor noch die Vorträge begannen, hörte ich nicht auf,
ihre Bewegungen und Blicke zu verfolgen.
Das
Mittagessen hatte als solches etwas Langweiliges, Gespreiztes. Die
musikalischen Vorträge begannen ziemlich früh. Ach, wie lebhaft mir die
Einzelheiten dieses Abends noch vor Augen stehen! Ich erinnere mich, wie er die
Geige hereinbrachte, den Geigenkasten abstäubte, die Decke mit Stickereien von
Damenhand abnahm, das Instrument hervorholte und zu stimmen anfing. Ich
erinnere mich, wie meine Frau mit erkünstelt-gleichgültiger Miene, hinter der
sich, wie ich wohl merkte, eine große Ängstlichkeit wegen ihres geringen
Könnens verbarg, am Klavier Platz nahm, wie vom Klavier die üblichen Pas und
von der Geige das Pizzicato sich vernehmen ließen und die Noten verteilt
wurden. Ich erinnere mich, wie sie dann einander ansahen und wie das Spiel
begann. Er griff die ersten Akkorde. Sein Gesicht nahm einen ersten, strengen,
sympathischen Ausdruck an, mit vorsichtigen Fingern tastete er über die Saiten.
Das Klavier gab ihm Antwort. Und das Spiel fing an.«
Posdnyschew
hielt inne und stieß ein paarmal hintereinander seinen Laut aus, wollte von
neuem zu reden beginnen, brachte es jedoch nur zu einem Nasenschnauben und
hielt wieder inne.
»Sie
spielten Beethovens Kreutzersonate«, fuhr er dann fort.
»Kennen Sie das erste Presto? Kennen Sie es? Oh!« schrie er auf. »Oh, oh! Was
für ein furchtbares Ding, diese Sonate, und zwar gerade dieser Teil! Und
überhaupt die Musik – was für eine entsetzliche Sache! Was tut sie? Und warum
tut sie eben das, was sie tut? Es heißt, die Musik erhebe die Seele – Unsinn,
Lüge! Sie wirkt überaus stark, gewiß – ich spreche von mir – doch von einer
seelischen Erhebung ist bei ihrer Wirkung nicht im geringsten die Rede; sie
wirkt auf die Seele weder erhebend noch niederdrückend, sondern erregend. Wie
soll ich es Ihnen sagen? Die Musik zwingt mich, mich selbst und das, was meine
Wirklichkeit ist, zu vergessen, sie versetzt mich in eine andere Wirklichkeit,
die nicht die meine ist; ich habe unter dem Einflusse der Musik den Eindruck,
daß ich etwas fühle, was ich im Grunde genommen gar nicht fühle, etwas
begreife, was ich nicht begreife, etwas vermag, was ich nicht vermag. Ich
erkläre das damit, daß die Musik wie das Gähnen oder das Lachen wirkt: ich bin
nicht schläfrig, doch ich gähne, wenn ich andere gähnen sehe; ich habe keinen
Grund zum Lachen, doch ich lache, wenn ich andere lachen höre. Die Musik
versetzt mich plötzlich, unmittelbar, in jenen seelischen Zustand, in dem sich
der Urheber der Musik befunden hat. Unsere Seelen verschmelzen, und ich schwebe
mit ihm zusammen aus dem einen Zustande in den andern hinüber. Warum ich das
tue, weiß ich freilich nicht. Wer beispielsweise die Kreutzersonate geschrieben
hat, Beethoven also – der wußte wohl, warum er sich in einen solchen
veränderten Seelenzustand versetzte, er löste gewisse Handlungen bei ihm aus,
und daher hatte dieser Zustandswechsel für ihn einen Sinn,
für mich jedoch hat er keinen Sinn. So wirkt denn diese Musik zwar erregend,
ohne aber zu einem Ergebnis zu führen. Ein Militärmarsch – nun ja, nach dem
marschieren die Soldaten, damit hat diese Musik ihren Zweck erfüllt; eine
Tanzmelodie – ich tanze danach, das Ergebnis ist da; der kirchliche Meßgesang –
ich nehme das Abendmahl, auch hier dient die Musik einem Zweck; bei der bloßen
Musik aber läuft alles nur auf die Erregung hinaus, und was in dieser Erregung
getan werden soll, bleibt ungetan. Daher wirkt die Musik zuweilen so grausig,
so entsetzlich. In China ist die Musik eine Staatsangelegenheit. Und das soll
sie auch sein. Wie kann man zulassen, daß jeder beliebige Mensch seinen
Nächsten – oder auch eine ganze Gesellschaft – hypnotisiert, um dann mit ihnen
zu machen, was er will? Wie kann man vor allem zulassen, daß jeder beliebige unsittliche
Mensch sich so als Hypnotiseur betätige?
Und dieses
schreckliche Mittel befindet sich nun in jedermanns Händen. Nehmen wir
beispielsweise eben diese Kreutzersonate, das erste Presto – darf man von
Rechts wegen dieses Presto im Salon inmitten dekolletierter Damen spielen, die
hinterher Beifall klatschen, Gefrorenes essen und über die letzte
Skandalgeschichte plaudern? Solche Stücke sollten nur bei gewissen wichtigen,
bedeutsamen Gelegenheiten gespielt werden, um gewisse, der Musik entsprechende,
wichtige Handlungen auszulösen. Dem Spiel hat die Tat zu folgen, zu der die
Musik begeistert hat. Die Erregung einer Gefühlsenergie jedoch, die sozusagen
gegenstandslos bleibt und weder der Zeit noch dem Ort
entspricht, kann nur verderblich wirken.
Auf mich wenigstens
übte dieses Stück eine furchtbare Wirkung aus: es war mir, als ob sich mir neue
Gefühlswelten, neue Möglichkeiten eröffneten, von denen ich bisher keine Ahnung
gehabt. ›So also soll es sein – keineswegs so, wie ich bisher gedacht und
gelebt, sondern so!‹ sprach gleichsam eine Stimme in meiner Seele. Was das Neue
war, das ich erkannt hatte, davon vermochte ich mir noch keine Rechenschaft zu
geben; doch das Bewußtsein dieses neuen Zustandes war von außerordentlich
freudiger Art. Alle die Menschen ringsum, darunter auch meine Frau und er,
erschienen mir in völlig neuem Lichte.
Nach diesem
Presto spielten sie noch das schöne, aber nicht ungewöhnliche und nicht neue
Andante mit den abgeschmackten Variationen und das ganz schwache Finale. Dann
spielten sie noch auf Bitten der Gäste eine Elegie von Ernst und verschiedene
andere kleine Sachen; alles das war hübsch, doch machte es auf mich nicht den
hundertsten Teil des Eindrucks, den die erste Nummer des Programms
hervorgebracht hatte. Alles das errang seinen Erfolg schon gleichsam auf dem
Hintergrunde des Eindrucks, den das erste Stück hervorgerufen hatte. Ich war
den ganzen Abend leicht und heiter gestimmt. Meine Frau hatte ich noch niemals
so gesehen, wie sie an jenem Abend war: diese strahlenden Augen, dieser Ernst,
dieser bedeutsame Ausdruck während des Spiels, die völlige Hingabe und das
reiche, schmachtende, selige Lächeln am Ende des Spiels. Ich sah das alles,
doch schrieb ich diese Wirkung derselben Ursache zu, die auch
mich in ihren Bann gezogen hatte, und glaubte, daß auch ihr, wie mir, sich,
gleichsam aus der Erinnerung wiedererstehend, eine Welt von neuen Gefühlen
eröffnet hatte. Der Abend nahm ein gutes Ende, und die Gäste begaben sich nach
Hause. Truchatschewskij wußte, daß ich zwei Tage später zur Kreisversammlung
fahren mußte. Beim Abschied sagte er, daß er bei seinem nächsten Besuche in
Moskau abermals das Vergnügen des heutigen Abends zu haben hoffe. Aus seinen
Worten konnte ich schließen, daß er einen Besuch in meiner Abwesenheit für ausgeschlossen
halte, was mir sehr erwünscht war. Da ich bis zu seiner Abreise von der
Kreisversammlung nicht zurück sein konnte, sollten wir uns somit vorläufig
nicht mehr sehen. Zum erstenmal drückte ich ihm mit aufrichtigem Vergnügen die
Hand und dankte ihm für den mir bereiteten Genuß. Auch von meiner Frau nahm er
endgültig Abschied, und ihr Abschied erschien mir als durchaus natürlich und
jeder Zweideutigkeit bar. Alles war in bester Ordnung. Meine Frau war gleich
mir von dem Abend sehr befriedigt.
XXIV
Zwei Tage
darauf fuhr ich, nachdem ich in der besten, ruhigsten Stimmung von meiner Frau
Abschied genommen, nach der Kreisstadt. Dort gab es stets sehr viel zu tun, ein
Leben ganz besonderer Art, eine kleine Welt für sich. Zehn Stunden täglich
brachte ich an den beiden Tagen in den verschiedenen Sitzungen zu. Am zweiten
Tage brachte man mir in das Amtslokal einen Brief von
meiner Frau. Ich las ihn sogleich – sie schrieb von den Kindern, von einem
Onkel, von der Kinderfrau, von allerhand Einkäufen und beiläufig, wie von einer
ganz alltäglichen Sache, daß Truchatschewskij dagewesen sei und die
versprochenen Noten mitgebracht habe, daß er sich erboten habe, noch zu
spielen, sie ihm jedoch abgesagt habe. Ich wußte mich nicht zu erinnern, daß er
versprochen hätte, uns Noten zu bringen; ich hatte den Eindruck, daß er damals
für die Dauer Abschied genommen hatte, und darum berührte mich die Sache
eigentümlich. Ich hatte jedoch so viel zu tun, daß ich nicht lange nachdenken
konnte, und erst am Abend, in meinem Quartier, las ich den Brief zum zweitenmal
mit Aufmerksamkeit durch. Abgesehen davon, daß Truchatschewskij nochmals in
meiner Abwesenheit einen Besuch gemacht hatte, erschien mir der ganze Ton des
Briefes unverständlich. Das wilde Tier der Eifersucht begann in seinem Käfig zu
toben und wollte herausspringen, doch ich hatte Angst vor diesem Tier und
sperrte es schleunigst ein. ›Was für ein abscheuliches Gefühl, diese
Eifersucht,‹ sagte ich mir, ›und was kann natürlicher sein als das, was sie da
schreibt!‹ Und ich legte mich zu Bett und begann über die Amtsgeschäfte
nachzudenken, die für morgen vorlagen. Ich hatte immer einen schlechten Schlaf,
wenn ich solch eine Sitzung an einem fremden Orte mitzumachen hatte, diesmal
jedoch schlief ich sehr bald ein. Da – Sie wissen, wie das so zu sein pflegt:
plötzlich geht's wie ein elektrischer Schlag durch den ganzen Menschen, und man
erwacht. So erwachte auch ich, mit dem Gedanken an sie, an meine sinnliche
Liebe zu ihr, an Truchatschewskij und daran, daß sie beide
einig wären. Wut und Entsetzen preßten mir das Herz zusammen. Ich suchte jedoch
Vernunft anzunehmen. ›Wie töricht‹, sagte ich mir, ›es liegt doch gar kein
Grund vor, gar nichts ist da und gar nichts ist gewesen. Wie kann ich überhaupt
sie und mich selbst so tief erniedrigen, indem ich so schreckliche Vermutungen
zulasse! Ein hergelaufener Geiger, eine Art Mietling, der allgemein als ein
Mensch von schlechten Sitten gilt, und eine geachtete und geschätzte Frau, eine
Familienmutter, meine Gattin! Was für ein Unsinn! sagte ich mir auf der
einen Seite. ›Und doch – warum sollte es nicht sein?‹ klang es mir von der
anderen Seite ins Ohr. ›Warum sollte nicht dasselbe einfache, leicht
begreifliche Prinzip, auf Grund dessen ich sie geheiratet und mit ihr
zusammengelebt habe, auch hier wirksam gewesen sein? Was ich einzig und allein
bei ihr suchte – warum sollten das nicht auch andere, wie zum Beispiel dieser
Musikant, bei ihr suchen? Er ist unverheiratet, ist gesund – ich erinnere mich,
wie er knirschend in sein Kotelett einhieb und mit den roten Lippen gierig das
Weinglas umfing – er ist wohlgenährt, von glatten Manieren und keineswegs ohne
Grundsätze, sondern dem einen Grundsatze ergeben: jeden Genuß, der sich
ihm darbietet, auszukosten. Das Band, das sie verknüpfte, war die Musik, die
raffinierteste Gefühlsvermittlerin. Was sollte ihn zurückhalten? Nichts. Alles
muß ihn im Gegenteil zu ihr hinziehen. Und sie? Wer ist sie? Sie war stets ein
Rätsel und ist es geblieben. Ich kenne sie nicht. Ich kenne sie nur als Tier.
Und für ein Tier gibt es keine Hemmung, darf es keine
Hemmung geben.‹ Nun erst erinnerte ich mich ihrer Gesichter an jenem Abend, als
sie nach der Kreutzersonate irgendeine leidenschaftliche kleine Sache, ich weiß
nicht von wem, spielten, ein Stück von geradezu gemeiner Sinnlichkeit. ›Wie
konnte ich nur abreisen?‹ sagte ich mir, als ich mich ihrer Gesichter
erinnerte; war es nicht klar, daß an jenem Abend bereits alles zwischen ihnen
abgemacht war, und war es nicht zu sehen, daß es schon an jenem Abend nicht nur
zwischen ihnen keine Scheidewand mehr gab, sondern daß sie beide, vor allem sie,
nach dem, was zwischen ihnen geschehen, ein gewisses Schamgefühl empfanden? Ich
erinnerte mich, wie sie sanft, selig und schmachtend lächelte und sich den
Schweiß von dem geröteten Gesichte wischte, als ich an das Klavier herantrat.
Schon da vermieden sie es, einander anzusehen, und erst beim Abendessen, als er
ihr Wasser eingoß, sahen sie einander mit kaum merklichem Lächeln an. Mit
Entsetzen erinnerte ich mich jetzt ihres Blickes mit dem kaum merklichen
Lächeln. ›Ja, alles ist zu Ende‹, sagte mir eine Stimme, doch sogleich
widersprach eine andere Stimme: ›Nicht doch, was fällt dir ein? Das kann ja
nicht sein‹, sagte diese zweite Stimme. Es schauerte mich, so im Dunkeln
dazuliegen, ich zündete ein Licht an, und es wurde mir seltsam bang zumute in
dem kleinen Zimmer mit den gelben Tapeten. Ich zündete mir eine Zigarette an
und rauchte, wie man immer zu tun pflegt, wenn man sich in einem Kreise
unlöslicher Widersprüche bewegt, rauchte eine Zigarette nach der andern, um
mich zu betäuben und die Widersprüche nicht zu sehen. Die ganze Nacht konnte ich nicht einschlafen und um fünf Uhr, nachdem
ich zu dem Entschlusse gekommen, daß ich nicht länger in diesem Zustande
nervöser Spannung bleiben könne, erhob ich mich, weckte den Kellner, der mich
bediente, und schickte ihn nach einem Wagen, da ich sogleich abfahren müsse. In
die Kreisversammlung sandte ich eine Zuschrift, ich wäre in einer eiligen Sache
nach Moskau berufen und bäte um Vertretung. Um acht Uhr war ich bereits in
meinem Reisewagen unterwegs.«
XXV
Der Schaffner
kam in unsern Wagen, und als er bemerkte, daß unser Licht fast heruntergebrannt
war, löschte er es aus, ohne ein neues anzuzünden. Draußen dämmerte es bereits.
Während der Anwesenheit des Schaffners schwieg Posdnyschew und seufzte nur
schwer. Erst als jener gegangen war, und man in dem halbdunklen Kupee nur das
Klirren der Fensterscheiben und das gleichmäßige Schnarchen des
Handlungsgehilfen vernahm, setzte Posdnyschew seine Erzählung fort. Im
Zwielicht des Morgengrauens konnte ich Posdnyschew gar nicht mehr sehen. Ich
vernahm nur seine Stimme, aus der mehr und mehr Leid und Erregung
hervorklangen.
»Ich hatte
35 Werst zu Wagen und 8 Stunden mit der Bahn zu fahren. Die Wagenfahrt war
wundervoll. Es war ein sonniger Herbsttag mit leichtem Frost – so die Zeit,
wissen Sie, wo die Radschienen sich im halbharten Straßenschmutz abdrücken. Die
Wege waren glatt, das Licht grell und die Luft erfrischend.
Die Fahrt im Reisewagen war wirklich ein Genuß. Als es hell geworden war und
ich so dahinfuhr, wurde mir leichter ums Herz. Ich sah die Pferde, die Felder,
die Leute, die des Weges daher kamen, und vergaß, wohin ich fuhr. Zuweilen
schien es mir, daß ich einfach nur so fuhr, daß nichts von alledem, was meinen
Geist beschäftigte, in Wirklichkeit existierte. Dieses Selbstvergessen stimmte
mein Gemüt ganz besonders freudig. Wenn ich mich dann erinnerte, wohin ich
fuhr, sprach ich zu mir selbst: ›Du wirst schon weitersehen, denk nicht darüber
nach.‹ Unterwegs hatte ich überdies ein kleines Erlebnis, das mich stark aufhielt
und zugleich zerstreute: die Wagenachse zerbrach und mußte ausgebessert werden.
Der Achsenbruch war insofern von Bedeutung, als ich nicht um fünf Uhr, wie ich
gedacht, sondern erst um zwölf Uhr in Moskau und um ein Uhr in meiner Wohnung
sein konnte, da ich den Kurierzug verpaßte und den Personenzug benutzen mußte.
Die Wagenfahrt mit Hindernissen, die Reparatur, die Abrechnung in der Herberge,
die Unterhaltung mit den Herbergsleuten – alles das gab mannigfache
Zerstreuung. Als die Dämmerung hereinbrach, war alles fertig und ich fuhr
weiter. Die Abendfahrt war noch schöner als die Fahrt am Tage. Es war Neumond
und der Weg ausgezeichnet; der leichte Frost, die Pferde, der muntere Kutscher
– alles war dazu angetan, meine Stimmung zu heben und mich vergessen zu machen,
was mich erwartete, oder vielleicht auch mich diese Stimmung auskosten zu
lassen, weil ich wußte, was mich erwartete, und daß es sich nun um den Abschied
von den Freuden des Lebens handelte. Doch diese ruhige
Gemütsverfassung samt der Möglichkeit, meine Gefühle zu bezwingen, fand mit der
Wagenfahrt ein Ende. Sobald ich im Zuge saß, nahm alles sogleich ein
verändertes Aussehen an. Diese achtstündige Bahnfahrt war für mich etwas
Entsetzliches, was ich mein Lebtag nicht vergessen werde. Ob ich mir vielleicht
im Zuge lebhafter vorstellte, ich sei bereits zu Hause angekommen, oder ob die
Eisenbahnfahrt überhaupt so aufregend auf die Menschen wirkt, jedenfalls war
ich von dem Augenblick an, da ich im Zuge saß, nicht mehr Herr meiner
Einbildungskraft. Sie begann mir ununterbrochen, mit auffallender Grellheit
ganze Reihen von Szenen vorzugaukeln, die meine Eifersucht schürten, Serien von
Bildern, eines immer zynischer als das andere, sie alle schilderten den Verrat,
den sie dort in meiner Abwesenheit an mir beging. Ich verzehrte mich vor
Unwillen, Zorn und einer besonderen Art Lustgefühl angesichts meiner Demütigung
bei der Vertiefung in jene Szenen, von denen ich mich nicht loßreißen, nicht
befreien, und die ich nicht hervorzaubern konnte. Ja noch mehr: je tiefer ich
mich in diese Phantasieszenen versenkte, desto mehr glaubte ich an ihre
Wirklichkeit. Die grelle Deutlichkeit, in der ich die Szenen sah, dienten mir
gleichsam zum Beweise, daß das, was ich sah, der Wirklichkeit entsprach.
Irgendein Teufel ersann da gleichsam wider meinen Willen die scheußlichsten
Bilder und schob sie meiner Vorstellung unter. Eine frühere Unterhaltung mit
einem Bruder Truchatschewskijs fiel mir ein, und mit wahrer Begeisterung zerriß
ich mein Herz in der Erinnerung an jene Unterhaltung, indem
ich diese auf Truchatschewskijs Beziehungen zu meiner Gattin übertrug. Es war
schon lange her, aber ich hatte mir die Sache wohl gemerkt. Auf meine Frage, ob
er öffentliche Häuser besuche, hatte Truchatschewskijs Bruder mir erwidert, daß
ein ordentlicher Mensch dies nicht tue, da er dort leicht krank werden könne
und Schmutz und Ekel mit in den Kauf nehmen müsse, während er stets eine
anständige Frau als Geliebte finden könne. Nun hatte sein Bruder – meine Frau
gefunden. Sie stand allerdings nicht mehr in der ersten Jugendblüte, ein
Seitenzahn fehlte ihr schon, und die Statur war ein bißchen zu rund, aber
schließlich – was blieb einem übrig? Man muß nehmen, was man findet. Es ist am
Ende noch ganz schmeichelhaft für sie, daß er ihr die Ehre antut, sie zu seiner
Geliebten zu wählen; jedenfalls war sie ungefährlich für seine kostbare
Gesundheit. Nein, das ist unmöglich, sprach ich voll Entsetzen zu mir selbst.
Es kann, es kann einfach nichts Derartiges geben! Es liegt auch nicht der
geringste Anlaß vor, etwas Derartiges anzunehmen. Sagte sie mir nicht, der
Gedanke, ich könnte ihretwegen auf den andern eifersüchtig sein, habe für sie
etwas Demütigendes? ›Ja, aber sie lügt in einem fort, lügt in einem fort‹,
schrie es in mir auf, und die Aufregung begann von neuem. Außer mir waren nur
noch zwei Reisende im Wagen, eine alte Frau mit ihrem Gatten, ein mürrisches
Paar, das auf einer der nächsten Stationen ausstieg, so daß ich ganz allein im
Kupee blieb. Ich saß wie ein wildes Tier im Käfig; bald sprang ich auf, um ans
Fenster zu treten, bald begann ich schwankend auf und ab zu
gehen, als wollte ich den Waggon zur Eile antreiben – der aber rüttelte und
zitterte mit seinen Bänken und Fenstern ganz so wie unserer hier.«
Posdnyschew
sprang auf und machte ein paar Schritte, um sich dann wieder zu setzen.
»Ach, diese
Eisenbahnwagen!« fuhr er auf – »ich fürchte mich förmlich vor ihnen. Ein Grauen
überfällt mich, wenn ich darin sitze. Ich sagte mir: ich will an etwas anderes
denken – vielleicht an den Herbergswirt, bei dem ich Tee getrunken hatte. Die
Gestalt des langbärtigen Herbergsknechtes und seines Enkels, der in gleichem
Alter mit meinem Wassja stehen mochte, tauchte vor mir auf. Mein Wassja! Er muß
es nun mit ansehen, wie der Musikant seine Mutter küßt. Was muß in seiner armen
Seele vorgehen? Doch was fragt sie danach? Sie liebt . . . Und wieder
bäumt sich alles in mir auf. Nein, nein! Ich will lieber an die Besichtigung
des Krankenhauses in der Kreisstadt denken – wie der eine Patient sich gestern
über den Arzt beklagte, – den Arzt, der den Schnurrbart so trägt wie
Truchatschewskij. Wie frech er doch log, als er sagte, daß er von Moskau
abreise – überhaupt, wie frech sie mich beide betrogen! Und wieder begann es
von vorn. Alles, woran ich nur dachte, hing mit ihm zusammen. Ich litt ganz
entsetzlich. Das Schlimmste war, daß ich nicht wußte, woran ich mich halten
sollte, daß Zweifel und Ungewißheit, ob ich sie lieben oder hassen sollte, mir
die Seele zerrissen. Ich litt so furchtbar, daß mir sogar der Gedanke kam, aus
dem Zuge zu springen, mich auf die Schienen zu legen und allem ein Ende zu
machen. Dann gab es wenigstens keine Zweifel mehr für mich.
Das einzige, was mich abhielt es zu tun, war das Mitleid mit mir selbst, das
sogleich wieder durch den Haß, den ich ihr gegenüber empfand, abgelöst wurde. Ihm
gegenüber empfand ich ein eigenartiges Gefühl des Neides, ein Bewußtsein meiner
Unterlegenheit und seines Sieges, für sie aber hatte ich nichts als einen
grenzenlosen Haß. Es geht nicht an, daß ich mit mir ein Ende mache und sie am
Leben lasse; sie soll leiden, wenigstens so viel, daß sie begreift, wie
furchtbar ich gelitten habe, sagte ich mir. Auf allen Stationen stieg ich aus,
um mich zu zerstreuen. Auf einer Station sah ich am Büfett, daß die Leute
tranken, und alsbald trank auch ich ein Glas Branntwein. Neben mir stand ein
Jude, der gleichfalls trank. Er redete mich an, und um nicht allein in meinem
Wagen zu bleiben, stieg ich mit ihm in seinen schmutzigen, verräucherten Wagen
dritter Klasse ein, dessen Fußboden ganz von den Schalen zerkauter
Sonnenblumenkerne bedeckt war. Dort nahm ich neben ihm Platz, und er begann
allerhand Anekdoten zu erzählen. Ich hörte zu, verstand jedoch nicht, was er
sagte, da ich in Gedanken stets bei meinen eignen Angelegenheiten verweilte. Er
bemerkte das und verlangte von mir mehr Aufmerksamkeit, worauf ich mich erhob
und wieder in meinen Wagen zurückging. Ich muß es doch einmal gründlich
überlegen, sagte ich mir, ob ich mit meinen Gedanken auch wirklich auf dem
richtigen Wege bin und überhaupt einen Grund habe, mich so zu quälen. Ich
setzte mich, um ruhig nachzudenken, alsbald jedoch begann statt des ruhigen
Nachdenkens wieder die alte Litanei: statt klarer Gedanken
– wüste Szenen und Vorstellungen.
›Wie oft
habe ich mir schon diese Qualen bereitet‹, sagte ich mir und dachte dabei an
die vielen früheren Eifersuchtsanfälle – und schließlich kam nichts dabei
heraus. So werde ich sie vielleicht, ja sogar bestimmt, ruhig schlafend
antreffen: sie wird erwachen, wird sich freuen, daß ich da bin, und an ihren
Worten und ihrem Blicke werde ich fühlen, daß nichts vorgefallen ist und alle
meine Vermutungen töricht waren. Oh, wie herrlich wäre das! Doch nein, das ist
zu oft gewesen, es kann nicht noch einmal sein, sagte mir irgendeine Stimme,
und wieder begann es von neuem. Das ist die wahre Höllenqual! Nicht in ein
Syphilishospital würde ich einen jungen Menschen führen, um ihm die Lust am
Weibe zu benehmen, sondern in meine eigne Seele in ihrem damaligen Zustande,
damit er die Teufel sähe, die sie zerfleischt haben. Empörend war es schon, daß
ich mir ein zweifelloses Recht auf ihren Körper anmaßte, als ob es mein
Körper wäre, während ich auf der andern Seite fühlte, daß mir ein Eigentum an
diesem Körper durchaus nicht zustand, daß er keineswegs mir gehörte, daß sie
darüber verfügen dürfe, wie sie will, und wenn sie darüber nicht so verfügt,
wie ich es will, so darf ich eben weder ihm noch ihr etwas antun. Er singt, wie
Hans der Schließer unterm Galgen, sein Lied – wie er sie auf den süßen Mund
geküßt usw., und er hat gewonnenes Spiel. Und gegen sie kann ich noch weniger
ausrichten. Wenn sie noch nichts getan hat, aber die böse Absicht hegt, und ich
weiß, daß dies der Fall ist: um so schlimmer; dann wäre es
schon besser, sie hätte es wirklich getan und ich wüßte es, damit endlich die
Ungewißheit aufhöre. Ich hätte nicht sagen können, was ich eigentlich wünschte.
Ich wünschte, sie möchte das nicht wollen, was sie ihrerseits wiederum wollen
mußte. Es war schon der reine Wahnsinn.
XXVI
Auf der
vorletzten Station, als der Schaffner hereinkam, um die Fahrkarten abzunehmen,
suchte ich meine Sachen zusammen und trat auf die Plattform hinaus. Das
Bewußtsein der bevorstehenden Entscheidung hatte meine Aufregung immer mehr
gesteigert. Ich fror, und meine Kiefer bebten so heftig, daß die Zähne
aneinanderschlugen. Mechanisch verließ ich mit der Menge das Stationsgebäude,
nahm eine Droschke, stieg ein und fuhr heim. Unterwegs beobachtete ich die
wenigen Fußgänger und die Hausknechte, die Schatten, die die Straßenlaternen
und die Laternen meiner Droschke bald vorn, bald hinten warfen, und dachte an
nichts weiter. Als ich eine halbe Werst gefahren war, wurde mir kalt in den
Füßen, und es fiel mir ein, daß ich meine Wollstrümpfe im Zuge ausgezogen und in
die Reisetasche gelegt hatte. Wo war die Tasche? Hatte ich sie bei mir? Ja, da
ist sie; aber wo ist der Korb? Ich sah, daß ich mein Gepäck ganz und gar
vergessen hatte; ich holte den Gepäckschein hervor, überlegte einen Augenblick,
und nachdem ich zu dem Entschluß gekommen, daß es sich nicht verlohne, deshalb
zurückzufahren, fuhr ich weiter. So sehr ich mir jetzt auch
Mühe gebe, mir meinen damaligen Zustand, was ich dachte, was ich wollte, ins
Gedächtnis zu rufen – es will mir nicht gelingen. Ich erinnere mich nur, daß
ich das Bewußtsein hatte, irgendeinem furchtbaren, ungemein wichtigen
Ereignisse meines Lebens gegenüberzustehen. Ob dieses Ereignis eintrat, weil
ich so und so dachte, oder das und das wollte, weiß ich nicht. Vielleicht ist
nach dem, was nun geschah, auf all die vorhergehenden Minuten in meiner
Erinnerung ein trübender Schatten gefallen.
Ich fuhr an
meinem Hause vor. Es war in der ersten Stunde nach Mitternacht, es schlug eben
ein Uhr. Ein paar Droschken hielten vor dem Hause; sie sahen an der Hausfront
erleuchtete Fenster – es waren die Fenster des Saales und des Empfangszimmers
unserer Wohnung und sie rechneten auf Fahrgäste. Ohne mir lange Rechenschaft
davon abzulegen, warum unsere Fenster noch so spät erleuchtet sind, stieg ich
in dem gleichen Zustande der Erwartung irgendeines schrecklichen Ereignisses
die Treppe hinan und klingelte.
Der Diener,
der gutmütige, fleißige und sehr beschränkte Jegor, öffnete. Das erste, was mir
im Vorzimmer in die Augen fiel, war – sein Mantel, der neben anderen
Garderobenstücken am Riegel hing. Ich hätte mich eigentlich wundern sollen,
wunderte mich jedoch nicht, da ich es ja erwartet hatte. ›Es stimmt also‹,
sagte ich mir im stillen, nachdem ich Jegor gefragt hatte, wer da sei und er
mir Truchatschewskij genannt hatte. Ich fragte, ob noch sonst jemand da sei. Er
antwortete: ›Nein, niemand.‹ Ich erinnere mich, daß er mir in einem Tone antwortete, als wollte er mir eine Freude machen und
meine Zweifel zerstreuen, daß vielleicht doch noch jemand da sein könnte. ›So,
so‹, sprach ich gleichsam zu mir selbst. ›Und die Kinder?‹ – ›Sind, Gott sei
Dank, gesund. Sie schlafen schon lange.‹
Ich konnte
weder Atem schöpfen noch die bebenden Kiefer zum Stillstand bringen. Es war
also nicht so, wie ich es gedacht hatte: daß ich erst ein Unglück befürchten,
es sich aber dann herausstellen würde, daß alles in Ordnung, alles beim alten
sei. Nun war aber doch nicht alles beim alten, und alles das, was ich in meiner
Phantasie gesehen und für bloße Einbildung gehalten – alles das war
Wirklichkeit, leibhaftige Wirklichkeit.
Ich wollte
schon in Schluchzen ausbrechen, aber der Teufel flüsterte mir flugs ins Ohr:
›Immer flenne du und gib dich deiner weinerlichen Stimmung hin und sie werden
inzwischen in aller Ruhe auseinandergehen, du wirst keine Beweise in der Hand
haben und wirst dein Leben lang zweifeln und Qualen leiden.‹ Und sogleich
entschwand jede Spur von weichem Mitleid mit mir selbst, und an seine Stelle
trat – Sie werden es nicht glauben – ein seltsames Gefühl, nämlich die Freude,
daß meine Qual nun ein Ende finden, daß ich sie nun strafen, mich von
ihr befreien und meiner Wut freien Lauf lassen würde. Und ich ließ meiner Wut
freien Lauf und wurde zum reißenden Tier. ›Nicht doch, nicht doch‹, sagte ich
zu Jegor, der ins Gastzimmer gehen wollte –, ›kümmre dich um nichts
weiter, sondern nimm rasch eine Droschke, und hier hast du meinen Gepäckschein,
hol' rasch meine Sachen von der Bahn ab. Beeil' dich!‹ Er ging durch den Korridor, um seinen Paletot zu holen. Ich fürchtete, daß
er sie aufscheuchen könnte, begleitete ihn nach seiner Kammer und wartete, bis
er sich angezogen hatte. Vom Gastzimmer her vernahm man durch einen
Zwischenraum ihr Gespräch und das Klirren von Messern und Tellern. Sie aßen und
hatten mein Klingeln überhört. ›Daß sie nur jetzt nicht herauskommen!‹ dachte
ich. Jegor hatte seinen Paletot angezogen und ging hinaus. Ich ließ ihn hinaus
und schloß die Tür hinter ihm; ein unheimliches Gefühl überkam mich, als ich
mich allein wußte und mir sagte, daß ich nun sogleich handeln müsse. Wie? –
wußte ich noch nicht. Ich wußte nur, daß nun alles zu Ende sei, daß es einen
Zweifel an ihrer Schuld nicht geben könne, und daß ich sie nun sogleich
bestrafen und meinen Beziehungen zu ihr ein Ende machen würde. Bisher hatte ich
immer noch geschwankt und hatte mir gesagt: ›Vielleicht ist alles nicht wahr,
vielleicht ist alles doch nur Täuschung.‹ Jetzt war jede Möglichkeit dieser Art
ausgeschlossen. Alles war für immer entschieden. Da saß sie nun mit ihm mitten
in der Nacht, während sie mich abwesend glaubte. Das hieß wirklich schon alle
Scham vergessen! Oder noch schlimmer: vielleicht sollte diese offene Frechheit,
diese Kühnheit des Verbrechens gar als Beweis ihrer Unschuld gelten. Jedenfalls
war alles klar und jeder Zweifel ausgeschlossen. Ich fürchtete jetzt nur, daß
sie sich trennen, daß sie einen neuen Betrug ersinnen und mich um den
augenscheinlichen Beweis und die Möglichkeit der Überführung bringen könnten.
Um sie
möglichst sicher zu ertappen, schlich ich mich auf den Zehenspitzen näher zum
Speisesaal, in dem sie saßen, nicht durch das
Empfangszimmer, sondern durch den Korridor und die Kinderzimmer. Im ersten
Kinderzimmer schliefen die Knaben. Als ich ins zweite Zimmer trat, bewegte sich
die Kinderfrau, als wollte sie erwachen. Ich stellte mir vor, was sie denken
würde, wenn sie alles erführe, und ein solches Mitleid mit mir selbst ergriff
mich bei diesem Gedanken, daß mir die Tränen in die Augen traten. Um die Kinder
nicht zu wecken, schlich ich auf den Fußspitzen wieder in den Korridor zurück
und begab mich in mein Kabinett, wo ich mich auf den Diwan warf und zu
schluchzen begann.
Ich, ein
ehrenhafter Mensch, der Sohn meiner Eltern, der ich mein Leben lang von einem
reinen Familienleben geträumt hatte, ich, ein Mann, der seiner Frau nie untreu
geworden war, stand vor diesem furchtbaren Bilde! Hier schliefen unsere fünf
Kinder, und dort umarmte sie einen Musikanten, nur weil er rote Lippen
hatte. Nein, das war kein Mensch, das war eine Hündin, eine räudige Hündin
. . . Neben dem Zimmer der Kinder, denen sie ihr Leben lang Liebe
vorgeheuchelt hatte! Und mir einen solchen Brief zu schreiben! Und sich dann
dem ersten besten so frech an den Hals zu werfen! Ach, was weiß ich überhaupt!
Vielleicht ist es immer so gewesen. Vielleicht stammen alle diese Kinder, die
als die meinigen gelten, von meinen Lakaien. Und morgen wäre ich heimgekehrt
und sie wäre mir entgegengekommen mit ihrer Frisur, ihrer Taille, ihren
lässigen, graziösen Bewegungen – die ganze reizvolle, verhaßte Gestalt sah ich vor
mir aufsteigen – und dieses reißende Tier der Eifersucht würde sich für immer
in meinem Herzen eingenistet und meine Seele zermürbt
haben. Die Kinderfrau . . . und Jegor . . . was werden die
denken? Und die arme Lisotschka? Sie hatte schon einiges Verständnis für die
Dinge ringsum. Und diese Frechheit! Diese Lüge! Diese tierische Sinnlichkeit,
die mir so wohl bekannt ist, sagte ich mir.
Ich wollte
mich erheben, vermochte es jedoch nicht. Mein Herz schlug so heftig, daß ich
mich nicht auf den Beinen halten konnte. Ja, ein Schlaganfall wird mich töten.
Sie ist mein Tod. Das würde ihr so recht sein! Doch nein, das hieße doch, es
ihr zu bequem machen. Dieses Vergnügen will ich ihr nicht bereiten
. . . Hier sitze ich nun – und sie schmausen und lachen dort, und?
. . . Warum habe ich sie damals nicht erwürgt, sagte ich mir, als ich
sie vor acht Tagen aus meinem Kabinett warf und ihr die Sachen nachschleuderte?
Ich vergegenwärtigte mir lebhaft den Zustand, in dem ich mich damals befunden;
und nicht nur das – ich fühlte auch dasselbe Bedürfnis, zuzuschlagen und zu
zerstören, das ich damals empfunden hatte. Ich erinnere mich, wie ich auf
einmal den Drang verspürte zu handeln, wie alle Vorstellungen außer jenen, die
diesem Drange dienten, in meinem Hirn zurückwichen und ich in den Zustand eines
reißenden Tieres verfiel oder eines Menschen, der unter dem Einflusse
physischer Erregung steht, im Augenblick der Gefahr etwa, wenn er folgerichtig
und ohne Übereilung handelt, doch auch ohne einen Augenblick zu verlieren, alles
im Hinblick auf ein bestimmtes Ziel.
XXVII
Das erste,
was ich tat, war, daß ich die Stiefel auszog und in bloßen Strümpfen zu der
Wand über dem Diwan hintrat, wo meine Schußwaffen und Dolche hingen. Ich nahm
einen noch nie gebrauchten, sehr scharfen Damaszenerdolch von der Wand und zog
ihn aus der Scheide, die, wie ich mich erinnere, hinter den Diwan fiel. ›Später
will ich sie dort hervorholen,‹ sagte ich mir noch, ›sonst geht sie verloren.‹
Dann zog ich den Paletot aus, den ich die ganze Zeit über angehabt hatte, und
ging, leise auftretend, in bloßen Strümpfen nach dem Salon zu. Als ich mich
sacht herangeschlichen hatte, öffnete ich plötzlich die Tür.
Ich sehe
noch den Ausdruck ihrer Gesichter. Ich erinnere mich dieses Ausdrucks deshalb,
weil er mir eine qualvolle Wonne bereitete. Es war der Ausdruck des Entsetzens.
Das war es, was ich brauchte. Niemals werde ich den Ausdruck verzweifelten
Entsetzens vergessen, der im ersten Augenblick auf den Gesichtern der beiden
hervortrat, als sie mich erblickten. Er saß, glaube ich, am Tische, sobald er
mich jedoch sah oder hörte, sprang er auf und blieb mit dem Rücken gegen das
Büfett stehen. In seinen Zügen malte sich einzig und unverhohlen der Ausdruck
des Entsetzens. In ihrem Gesichte lag derselbe Ausdruck, doch war noch ein
zweiter ihm beigemengt. Wäre nur der Ausdruck des Entsetzens darauf zu lesen
gewesen, dann wäre vielleicht das nicht geschehen, was schließlich geschehen
ist, doch prägte sich in ihrem Gesichte, wie mir wenigstens schien, im ersten Augenblick noch der Unwille und die Empörung darüber
aus, daß man ihren Liebesrausch und ihr Glück an seiner Seite zu stören wage.
Sie hatte jetzt sozusagen kein anderes Bedürfnis, als daß man sie in ihrem
Glück nicht störe. Doch der Ausdruck ihrer Gesichter blieb nur einen Augenblick
unverändert. Der Ausdruck des Entsetzens in seinem Gesichte wechselte sogleich
mit dem fragenden Ausdruck: ›Kann ich leugnen oder nicht? Wenn Leugnen noch
einen Zweck hat, dann heißt es sofort beginnen. Sonst heißt es die Sache anders
anfangen. Doch wie?‹ Und er sah sie fragend an. Der Ausdruck des
Unwillens und der Empörung in ihrem Gesichte schien mir gewichen zu sein,
nachdem sie ihm einen besorgten Blick zugeworfen hatte. Ich war, den Dolch im
Rücken haltend, einen Augenblick in der Tür stehengeblieben. In diesem Moment
lächelte er und begann in einem bis zur Lächerlichkeit gleichgültigen
Tone: ›Wir hatten gerade musiziert . . .‹ – ›Ich hatte nicht
erwartet . . .‹, bemerkte sie, sich seinem Tone anpassend.
Keiner von beiden sprach seinen Satz zu Ende. Dieselbe Wut, die mich damals,
vor einer Woche, überkam, bemächtigte sich meiner auch jetzt. Wiederum empfand
ich diesen Drang des Zerstörens, des gewaltsamen Austobens, der Freude an der
Raserei und gab mich ihr hin.
Keiner von
beiden hatte seinen Satz beendet. Es begann nun jenes andere, das er
fürchtete und das ihre Worte mit einemmal gegenstandslos machte. Ich stürzte
mich auf sie, immer noch den Dolch verbergend, damit er mir nicht in den Arm
fiele, wenn ich nach der Stelle stechen würde, die ich von Anfang an zum
Angriff ausgewählt hatte – nämlich nach ihrer linken Brust
unterhalb der Rippen. Im Augenblick, da ich mich auf sie stürzte, sah er, was
ich vorhatte, faßte, was ich nie von ihm erwartet hätte, nach meiner Hand und
schrie: ›Kommen Sie zu sich! Was haben Sie vor? Zu Hilfe!‹
Ich entriß
ihm meine Hand und stürzte mich schweigend auf ihn. Seine Blicke kreuzten sich
mit meinen. Er wurde plötzlich bleich wie ein Linnen, die Augen glänzten ganz
seltsam, und er schlüpfte, was ich gleichfalls nicht erwartet hätte, unter dem
Flügel hindurch zur Tür hinaus. Ich stürzte ihm nach, verspürte jedoch eine
schwere Last an meinem linken Arm. Es war meine Gattin. Ich wollte mich
losreißen, sie hängte sich jedoch noch schwerer an mich und ließ mich nicht
los. Das unerwartete Hindernis, ihr Gewicht und ihre mir widerwärtige Berührung
erregten mich noch mehr. Ich fühlte, daß ich ganz toll war vor Raserei und
furchtbar aussehen mußte, und ich freute mich darüber. Ich holte aus voller
Kraft mit dem linken Arme aus und versetzte ihr mit dem Ellbogen einen Stoß
mitten ins Gesicht. Sie schrie auf und ließ meinen Arm los. Ich wollte ihm
nacheilen, sagte mir jedoch, daß es lächerlich sein würde, dem Liebhaber seiner
Frau in Strümpfen nachzulaufen, und ich wollte nicht lächerlich, sondern
furchtbar sein. In all meiner Wut dachte ich die ganze Zeit über doch auch
daran, welchen Eindruck ich auf die anderen machte, und dieser Eindruck war zum
Teil sogar bestimmend für mein Handeln. Ich wandte mich nach ihr um. Sie war
auf das Sofa gefallen, hielt die Hand vor die Augen, in die mein Stoß sie
getroffen, und sah mich an. In ihrem Gesicht waren Angst
und Haß gegen mich, ihren Feind, zu lesen – derselbe Haß, der aus den Augen der
Ratte spricht, wenn man die Falle emporhebt, in die sie geraten ist. Ich konnte
wenigstens nichts anderes an ihr wahrnehmen, als Angst und Haß gegen mich, den
die Liebe zu dem anderen in ihr hervorrief. Aber ich hätte mich vielleicht noch
bezwungen und meine Tat nicht vollbracht, wenn sie geschwiegen hätte. Doch sie
begann plötzlich zu sprechen und nach meiner Hand, die den Dolch hielt, zu
fassen. ›Komm doch zur Besinnung! Was tust du denn? Was ist mit dir? Nichts ist
geschehen, nichts, nichts! Ich schwöre es dir!‹ Ich hätte noch gezögert, aber diese
ihre letzten Worte, aus denen ich auf das Gegenteil schloß – nämlich, daß alles
geschehen sei, forderten eine Antwort heraus. Und die Antwort mußte der
Seelenstimmung entsprechen, in die ich mich versetzt hatte, und die sich in
einem ständigen crescendo befand. Auch die Wut hat ihr Gesetz. – ›Lüge nicht,
Elende!‹ rief ich und faßte mit der Linken nach ihrer Hand, die sie mir jedoch
entriß. Da packte ich sie, ohne den Dolch loszulassen, mit der linken Hand an
der Kehle, warf sie hinten über und begann sie zu würgen. Was für einen feisten
Hals hatte sie doch! Sie faßte mit beiden Händen nach meinen Händen, suchte
ihren Hals zu befreien, und als wenn ich das erwartet hätte, stach ich sie aus
aller Macht mit dem Dolche unterhalb der Rippen in die linke Seite . . .
Wenn die
Leute behaupten, daß sie in einem Wutanfall nicht wissen, was sie tun, so ist
das unsinnig und unwahr. Ich wußte alles, nicht für einen Augenblick verlor ich
das klare Bewußtsein. Je stärker ich selbst in mir meine Wut
anfachte, desto greller leuchtete das Licht des Bewußtseins in mir auf, das
mich alles das deutlich sehen ließ, was ich tat. Ich kann nicht sagen, daß ich
alles voraus wußte, was ich tun würde, in dem Augenblick jedoch, da ich
handelte, ja vielleicht noch ganz kurz vorher, wußte ich, was ich tun würde,
und hatte gar noch, im Falle des Bereuens, die Möglichkeit, einzuhalten. Ich
wußte, daß ich sie unterhalb der Rippen treffen und daß der Dolch dort
eindringen würde. Im Augenblick, da ich es tat, wußte ich, daß ich etwas Entsetzliches
tue, etwas, das ich noch nie getan und das noch furchtbarere Folgen haben
würde. Aber dieses Bewußtsein fuhr nur wie ein Blitz durch mein Hirn, und
diesem Blitz folgte sogleich die Tat. Die Tat selbst spiegelte sich im
Bewußtsein mit ungewohnter Grellheit. Ich spürte den jähen Widerstand des
Korsetts und noch irgendeines Gegenstandes, hörte irgendeinen Laut und fühlte
dann das Eindringen der Klinge ins Weiche. Sie griff mit den Händen nach dem
Dolche, schnitt sich dabei und ließ los. Ich habe später im Gefängnis, nachdem
die sittliche Wandlung sich in mir vollzogen hatte, lange über diesen
Augenblick nachgedacht und mir davon ins Gedächtnis zurückzurufen versucht, was
ich nur irgend konnte. Ich erinnere mich eines Augenblicks, nur eben eines
Augenblicks, der der Tat vorausging, in dem ich das furchtbare Bewußtsein
hatte, eine Frau, meine Gattin, getötet zu haben. Das Entsetzen dieses
Bewußtseins ist mir noch im Gedächtnis, und ich nehme an und entsinne mich
sogar dunkel, daß, nachdem ich ihr den Dolch in die Brust gestoßen, ich ihn
sogleich wieder herauszog in dem Wunsche, das Geschehene wieder
gutzumachen und einzuhalten. Eine Sekunde lang stand ich unbeweglich in der
Erwartung, was wohl geschehen würde: ob es wohl möglich sei, hier noch etwas
gutzumachen. Sie sprang auf und schrie: ›Amme, er hat mich getötet!‹
Die
Kinderfrau, die den Lärm gehört hatte, stand in der Tür. Ich stand da und
wartete und wollte noch immer nicht recht an das Geschehene glauben. Doch da
strömte das Blut schon unter ihrem Korsett hervor. Und da begriff ich, daß
nichts mehr gutzumachen sei, und entschied mich auch gleich dahin, daß das gar
nicht nötig sei, daß ich es so gewollt und daß ich das, was geschehen, auch
habe tun müssen. Ich wartete, bis sie hinfiel und die Kinderfrau mit dem Rufe:
›Um Gottes willen!‹ zu ihr hineilte – dann erst warf ich den Dolch fort und
verließ das Zimmer. ›Ich darf mich nicht aufregen, ich muß wissen, was ich
tue‹, sprach ich zu mir selbst, ohne nach ihr und der Kinderfrau hinzublicken.
Die Kinderfrau schrie und rief das Mädchen.
Ich ging den
Korridor entlang, schickte das Mädchen hinein und begab mich in mein Zimmer.
›Was soll ich nun tun?‹ fragte ich mich und begriff sogleich, was ich zu tun
hätte. Ich trat an die Wand in meinem Kabinett, nahm einen Revolver herunter,
untersuchte ihn – er war geladen – und legte ihn auf den Tisch. Dann holte ich
die Dolchscheide hinter dem Diwan hervor und setzte mich auf diesen. Lange saß
ich da, ohne an etwas zu denken oder mich an etwas zu erinnern. Ich hörte, daß
draußen irgendwelches Getriebe war. Ich hörte, wie dort jemand kam und dann
noch jemand. Dann hörte und sah ich, wie Jegor meinen
Reisekorb ins Kabinett trug. Als ob ihn jetzt noch jemand hätte brauchen
können!
›Hast du
gehört, was geschehen ist?‹ sprach ich zu ihm. ›Sag' dem Hauswart, man solle es
der Polizei melden.‹ Er erwiderte nichts und ging hinaus. Ich erhob mich,
schloß die Tür, zog eine Zigarette und Zündhölzer heraus und begann zu rauchen.
Ich hatte die Zigarette noch nicht zu Ende geraucht, als ich in einen dumpfen,
schweren Schlaf verfiel. Ich schlief wohl an die zwei Stunden. Mir träumte, wir
hätten uns vertragen und seien beinahe wieder Freunde, nur eine Kleinigkeit
stehe noch zwischen uns, doch sonst sei alles in Ordnung. Ein Klopfen an der Tür
weckte mich. ›Das ist die Polizei,‹ dachte ich beim Erwachen, ›ich habe ja wohl
jemanden getötet. Aber vielleicht ist sie es auch, die da klopft, vielleicht
ist gar nichts geschehen.‹ Noch einmal klopfte es an der Tür. Ich öffnete nicht
und beschäftigte mich mit der Frage: ›Ist es Wirklichkeit oder nicht?‹ Ja, es
ist Wirklichkeit. Ich dachte an den Widerstand des Korsetts, an das Eindringen
der Klinge in den Körper, und ein Schauer lief mir über den Rücken
. . . Ja, es ist wahr; es ist wahr. ›Nun muß ich auch mich töten‹,
sprach ich zu mir selbst. Aber ich sprach es – und wußte doch, daß ich mich
nicht töten würde. Dennoch erhob ich mich und nahm den Revolver wieder zur
Hand. Aber, wie seltsam: so nahe ich auch früher oft dem Selbstmord gewesen war
und so lebhaft ich noch kürzlich während der Bahnfahrt an diese Möglichkeit,
durch die ich sie erschrecken wollte, gedacht hatte – jetzt lag mir der
Gedanke, mich zu töten, völlig fern. ›Warum sollte ich das tun?‹
fragte ich mich. Und ich fand keine Antwort auf die Frage. Wieder wurde an die
Tür geklopft. Jedenfalls muß ich erst einmal nachsehen, wer da klopft. Das
andere eilt noch nicht. Ich legte den Revolver auf den Tisch und deckte ein
Zeitungsblatt darüber. Dann ging ich nach der Tür und schob den Riegel zurück.
Es war die Schwester meiner Frau, eine gutmütige, beschränkte Witwe. ›Wassja,
was hast du da angerichtet?‹ und ihre stets bereitgehaltenen Tränen begannen zu
fließen. – ›Was wünschst du?‹ fragte ich sie grob. Ich sah sehr wohl, daß gar
kein Grund vorlag, gegen sie grob zu sein, doch ich konnte keinen anderen Ton
für unsere Unterhaltung finden. – ›Wassja, sie stirbt. Iwan Sacharytsch hat es
gesagt.‹ Iwan Sacharytsch war der Hausarzt, ihr Arzt und Berater. – ›Ist er
denn hier?‹ fragte ich, und der ganze Zorn, den ich gegen sie gehegt, kam
wieder zum Durchbruch. ›Nun also – was soll ich?‹ – ›Wassja, geh doch zu ihr!
Ach, wie entsetzlich ist das doch!‹ sagte sie. – ›Zu ihr gehen?‹ fragte ich
mich selbst und gab mir alsbald zur Antwort, das müsse ich wohl tun, das sei
wahrscheinlich immer so, daß, wenn ein Gatte seine Frau getötet hat wie ich, er
dann unbedingt zu ihr hingeht. Wenn das so üblich ist, so muß auch ich
hingehen, sagte ich mir. Und was das andere betrifft – ich dachte an meine
Absicht, mich zu erschießen – so werde ich, falls es notwendig sein sollte,
immer noch Zeit dazu haben. Und so ging ich denn zu ihr. ›Jetzt wird es Phrasen
geben und Grimassen,‹ sprach ich zu mir selbst, ›aber ich lasse mich nicht von
ihr unterkriegen.‹ ›Halt,‹ sagte ich zu ihrer Schwester, ›es sieht dumm aus,
wenn ich ohne Stiefel hineingehe, laß mich wenigstens die
Pantoffel anziehen.‹
XXVIII
Und, wie
seltsam: als ich das Zimmer verließ und die gewohnten Räume durchschritt, da
lebte in mir von neuem die Hoffnung auf, daß nichts gewesen sei, aber der
Geruch dieses ekelhaften Zeugs – Jodoform oder Karbol – schlug mir gar zu
penetrant entgegen. Ja, es ist doch alles gewesen. Als ich durch den Korridor
am Kinderzimmer vorüberschritt, erblickte ich Lisanjka. Sie sah mich mit
erschrockenen Augen an. Es war mir sogar, als ob alle fünf Kinder da wären und
mich ansähen. Ich ging zu der Tür, und das Dienstmädchen öffnete mir von innen
und kam heraus. Das erste, was mir in die Augen fiel, war ihr hellgraues Kleid
auf dem Stuhle, das von Blut ganz schwarz war. Sie lag mit hochgestreckten
Knien auf unserem zweischläfrigen Bett, zum Teil sogar auf meinem Bett, zu dem
der Zutritt leichter war. Sie lag ganz schräg, auf den bloßen Kissen, in
offener Nachtjacke. Dort, wo die Wunde sein mußte, war irgend etwas aufgelegt.
Im Zimmer herrschte ein durchdringender Jodoformgeruch. Vor allem erschreckte
mich ihr gedunsenes, blau angelaufenes Gesicht, das in der Nasengegend und
unter den Augen dunkle Flecke aufwies. Sie rührten von dem Stoße mit dem
Ellbogen her, der sie getroffen hatte. Von ihrer Schönheit war keine Spur
vorhanden; sie erschien mir vielmehr häßlich. Ich blieb an der Schwelle stehen.
›Tritt doch näher, tritt doch näher heran‹, sprach die
Schwester zu mir. – ›Vielleicht will sie bereuen?‹ dachte ich. ›Soll ich
verzeihen? Ja, sie stirbt, da kann ich ihr verzeihen‹, dachte ich – ich will
recht großmütig sein. Ich trat ganz dicht heran. Sie richtete mit Mühe ihre
Augen, von denen das eine ganz verschwollen war, auf mich und sprach mühsam und
stockend: ›Nun hast du dein Ziel erreicht, hast mich getötet!‹ – und in ihrem
Gesichte spiegelte sich durch die physischen Leiden und die Nähe des Todes
hindurch der mir wohlbekannte, kalte, tierische Haß. ›Die Kinder
. . . lasse ich dir . . . aber nicht. Sie – die Schwester –
wird sie zu sich nehmen!‹ Das, worauf es mir vor allem ankam, ihre Schuld,
ihren Verrat, erwähnte sie überhaupt nicht, als ob es sich nicht verlohne,
davon zu reden. ›Ja, weide dich an deinem Werke‹, sagte sie, sah nach der Tür
und schluchzte auf. In der Tür stand die Schwester mit den Kindern. ›Sieh, was
du angerichtet hast!‹ Ich sah auf die Kinder und auf ihr entstelltes Gesicht
und vergaß zum erstenmal mich selbst, mein Recht und meinen Stolz und sah zum
erstenmal in ihr den Menschen. Und so klein und erbärmlich erschien mir meine
Eifersucht und alles das, was mich gekränkt hatte, und für so bedeutsam und
furchtbar erachtete ich das, was ich getan, daß ich mein Gesicht zu ihren
Händen niedersenken und sie um Verzeihung bitten wollte. Indessen ich wagte es
nicht. Sie hatte die Augen geschlossen und schwieg, offenbar war sie nicht mehr
imstande zu sprechen. Dann erbebte ihr entstelltes Gesicht und legte sich in
Falten. Sie stieß mich leise von sich. ›Warum war das alles? Warum?‹ – ›Verzeih
mir!‹ sagte ich, ›verzeih, alles ist Torheit!‹ – ›Wenn
ich nur nicht sterbe!‹ schrie sie, richtete sich auf und sah mich mit den
fieberhaft glänzenden Augen durchdringend an. ›Du hast dein Ziel erreicht! Ich
hasse dich! Oh! Oh!‹ rief sie offenbar im Fieber, vor irgend etwas
erschreckend. – ›Nun, töte nur, töte, ich habe keine Angst! . . .
Aber töte uns alle, alle, auch ihn. Er ist entflohen, entflohen!‹ Die
Fieberphantasien hörten die ganze Zeit nicht auf. Sie erkannte niemanden mehr.
Um die Mittagsstunde war sie tot.
Mich hatte
man schon vorher, um acht Uhr morgens, auf die Wache und von dort ins Gefängnis
gebracht. Dort saß ich, mein Urteil erwartend, elf Monate lang, dachte über
mich und meine Vergangenheit nach und begriff beides. Vom dritten Tage an
begann ich beides zu begreifen: am dritten Tage führte man mich ›dahin‹.«
Er wollte
etwas sagen, hielt jedoch inne, da er sich des Schluchzens nicht enthalten
konnte. Als er seine Kräfte wieder gesammelt hatte, fuhr er fort:
»Ich begann
erst dann zu begreifen, als ich sie im Sarge erblickte.«
Er
schluchzte auf, fuhr jedoch hastig fort:
»Erst als
ich ihr totes Antlitz sah, begriff ich alles, was ich getan hatte. Ich begriff,
daß ich, ich sie getötet hatte, daß es durch mich geschehen war, daß sie, die
bisher gelebt und sich bewegt hatte und voll Wärme gewesen war, nun
unbeweglich, wächsern und kalt da lag und daß dies niemals, nirgends und durch
kein Mittel geändert werden könne. Wer das nicht selbst erlebt hat, kann es
nicht begreifen . . . Oh! oh! oh!« rief er wehklagend aus und verstummte. – –
Wir saßen lange schweigend da. Er schluchzte und saß
bebend, ohne ein Wort zu sprechen, vor mir da.
»Nun,
verzeihen Sie.« – Er wandte sich von mir ab, streckte sich auf der Bank aus und
deckte sich mit seinem Plaid zu.
Auf der
Station, auf der ich aussteigen mußte – es war gegen acht Uhr morgens – trat
ich an ihn heran, um von ihm Abschied zu nehmen. Ob er schlief oder sich nur
schlafend stellte – jedenfalls bewegte er sich nicht. Ich berührte ihn mit der
Hand und sah, daß er nicht geschlafen hatte.
»Leben Sie
wohl«, sagte ich und reichte ihm die Hand.
Er reichte
mir seine Hand und lächelte, jedoch so traurig, daß ich nahe daran war, zu
weinen.
»Ja,
verzeihen Sie«, wiederholte er nochmals das Wort, mit dem er seine Erzählung
geschlossen hatte.
Den 26.
August 1889
Ende