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Kurt Eisner: Karl Marx' Kunstauffassung

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Kurt Eisner
 
Karl Marx' Kunstauffassung.


Vor etlicher Zeit erregte die kuriose Äußerung eines vorübergehenden Mitarbeiters des Vorwärts eine kleine parteipolitische Kunstdebatte. Jener interessante Kopf hatte die Meinung ausgesprochen, daß ein Proletarieroman von rechtem Humor eben doch nur von einem rechten Proletarier erzeugt werden könnte. Diese Prägung der „materialistischen“ Kunstformel war verdienstvoll. Denn sie widersprach so offensichtlich allen Kunsttatsachen, daß allgemein sofort die Empfindung erweckt wurde: So könne unmöglich, die Anwendung der Marxschen Geschichtslehre auf die Kunst aussehen. Der Erfinder des Programms: Klassenkunst durch Klassengenossen, vermochte anzuregen, aber nicht zu entwirren. Er hat sonst kein Unheil angerichtet, eher zur Klärung beigetragen.
    Weiter verbreitet, beliebter, unauffälliger, platter und deshalb gefährlich ist eine andre Art von Kunstbetrachtung, die im Namen des Geschichtsmaterialismus auftritt und der wir nicht ganz selten begegnen. Diese ästhetische Artikelpraxis beruht auf der Schlußfolgerung: Die Bourgeoisie ist eine niedergehende Gesellschaftsklasse. Folglich muß auch die Kunst der Bourgeoisie Niedergangskunst sein. Mit solcher philosophischen Suppenwürze läßt sich dann sehr bequem ohne größeren geistigen und wissenschaftlichen Aufwand jede fade Notizensammlung aus dem kleinen (bürgerlichen) Meyer entnehmen und in eine gediegene Kost gesinnungstüchtiger Erkenntnis verwandeln. Treibt man die Methode durch die Weltgeschichte der Kunst hindurch, so wird man nach und nach lauter Verfallskunst aneinanderreihen dürfen. Allerdings gibt es einige Schwierigkeiten. Warum ist zum Beispiel in der großen französischen Revolution der reaktionäre André Chenier ein unsterblicher Dichter und sein jakobinischer Bruder Marie-Joseph ein völlig leerer Phrasenschmied?
    In Wahrheit sieht diese ganze Betrachtungsweise das besondere ästhetische Problem gar nicht, weit entfernt, es zu lösen. Damit soll nicht gesagt sein, daß es ein unnützes Unternehmen wäre, auch die Zusammenhänge zwischen Kunst und Gesellschaft zu untersuchen. Das soll geschehen, besonders ist auch die Erforschung der jeweiligen wirtschaftlichen und rechtlichen Zustände notwendig, unter denen die Künstler produzieren müssen; ebenso bedingt die geistige und soziale Verfassung des den künstlerischen Konsum fristenden Publikums Abhängigkeiten des Künstlers, die leicht für die Kunst selbst richtungsweisend werden.
    Die Untersuchung über die Klassenherkunft der Künstler führt zu interessanten Ergebnissen, wenn auch schwerlich zu einer einheitlichen Gesetzmäßigkeit. Die Literaturgeschichte zeigt, daß der fruchtbarste Nährboden künstlerischen Dranges die Existenzerschütterung ist, die Angehörige einer höheren Schicht hinabstößt. So ist zum Beispiel auch der echteste und stärkste deutsche Proletarierdichter unsrer Zeit, Alfons Petzold, der Wiener, zwar ein Arbeiter des niedersten Daseins, ein Handlanger und Tagelöhner gewesen, er stammt aber aus einer behaglich lebenden Privatbeamtenfamilie, die die Kinderjahre des Dichters sorglos gestaltete, bis ihn der frühe Tod des Vaters ins soziale Nichts schleuderte. Umgekehrt sehen wir, wie ein wirklicher Abkömmling tiefster Proletarierschichten, Friedrich Hebbel, reiner Kunstaristokrat, trotz allem Philisterhaß bürgerlich ist.
    Endlich ist auch die Frage einer „Parteikunst“ ein ernsthaftes Problem, deren Möglichkeit, ja deren grundsätzliche Forderung ich seit jeher verteidigt habe. So schrieb ich etwa nach den Kunstdebatten auf dem Gothaer Parteitag 1896: „In Wahrheit ist es Aberglaube, daß Parteikunst das Ende der Kunst sei. Dieser Aberglaube, allezeit gehätschelt von den Müßiggängern der Kultur, der entwicklungsflüchtigen Romantiker, den Armen im Geiste und den Schwachen am Fleisch, ist das stärkste Hemmnis der Entwicklung echter Volkskunst. Gewiß, eine königlich sächsische konservative Hofratsparteikunst ist ein Unding. Auch die Programme von Plötz, Liebermann, Paasche und Eugen Richter lassen sich ... poetisch nicht ausmünzen. Wo aber eine große Kulturbewegung sich in einer Partei kristallisiert, und die moderne Form jeder Kulturbewegung ist die Partei, da muß auch die Kunst Parteikunst sein. Hier ist die Partei nicht ein ablösbares Etikett, sondern die Essenz jedes fortschreitenden Geistes. Der Dichter, der in der Kulturbewegung steht, kann nichts andres sein als Parteimann, er ist als ein solcher nicht schon Künstler, aber ist noch weniger ein Künstler universalen Stils, wenn das Parteiblut nicht in ihm pulsiert!" Solche Auffassung ist gut marxistisch, das bestätigt Karl Marx selbst, der in einem an Freiligrath gerichteten Briefe den gleichen Gedanken ausspricht. Als sich Freiligrath 1860 während der Karl-Vogt-Händel gegen die Behauptung seiner Kommunistischen Parteizu-gehörigkeit sträubte, erinnerte Marx den Dichter, wie in dem vor einem Jahre von Franz Mehring veröffentlichten Briefwechsel zu lesen ist, zuerst ärgerlich daran, daß er wenigstens zweihundert Briefe von Freiligrath besitze, „worin hinlängliches Material, um nötigenfalls dein Verhältnis zu mir und zur Partei zu konstatieren“. Freiligrath antwortete, er sei dem Banner der Arbeiterklasse stets treu geblieben. Aber sein Verhältnis sei lose und bald gelöst gewesen: „Meiner und der Natur jedes Poeten tut die Freiheit not! Auch die Partei ist ein Käfig, und es singt sich, selbst für die Partei, besser draus als drin. Ich bin Dichter des Proletariats und der Revolution gewesen, lange bevor ich Mitglied des Bundes und Mitglied der Redaktion der Neuen Rheinischen Zeitung war!“ Marx antwortete nun versöhnlich, und mit einem Wort das Mißverständnis beseitigend. Er habe unter Partei nicht einen seit acht Jahren verstorbenen Bund oder eine seit zwölf Jahren aufgelöste Zeitungsredaktion verstanden.
    „Unter Partei verstand ich die Partei im großen historischen Sinn.“ In diesem Sinne muß allerdings auch „Parteikunst“ sein.
    Indessen weder durch den Nachweis sozialer Abhängigkeiten und Zusammenhänge noch durch die Rechtfertigung und Forderung einer Parteikunst ist die Kunst und der Künstler erklärt; Kunst und Künstler sind damit so wenig begriffen, daß sie nicht einmal gesehen sind. Es ist immer nützlich, sobald es sich um Streitfragen geschichtsmaterialistischer Anwendungen handelt, zum Schöpfer selbst zu gehen.
    Karl Marx hat seine Geschichtstheorie in seinen Werken und seinem Wirken angewandt, aber er hat die Methode selbst niemals systematisch dargestellt. Zwar hat er, als er die Kritik der politischen Ökonomie begann, ursprünglich beabsichtigt, ihr eine systematische Darstellung seiner Geschichtslehre vorauszuschicken. Aber die Arbeit blieb als Fragment und Skizze liegen; denn es widerstrebte ihm eine Geschichtsauffassung, die ja erst sich aus der Summe der weltgeschichtlichen Erfahrungen ergeben sollte, der geschichtlichen Darstellung selbst vorauszunehmen, das hätte den Verdacht erwecken müssen, daß seine Geschichtsauffassung zwar die Ideologie Hegels umgestülpt habe, aber nichtsdestoweniger Ideologie geblieben sei. So sollte das System seiner Geschichtsauffassung der Epilog seines Werkes werden, die letzte Zusammenfassung seines ganzen Schaffens. Es kam nicht dazu, die Umstände seines Daseins und der allzufrühe Tod hinderten die Vollendung. So wird von Marx seine Geschichtsmethode immer nur in zerstreuten Bemerkungen gestreift, niemals wissenschaftlich erschöpft. Um den beiläufigen und knappen Bemerkungen gleichwohl anschaulich überzeugende Kraft zu geben, wählt er gern sinnlich kräftige Bilder und Vergleiche, die seinen Gedanken erhellen. Damit aber entstanden auch seine schillernden Unklarheiten und jene Mißverständnisse, die die zumeist armseligen Einwürfe der Gegner und die oft unglücklichen Anwendungsversuche der Freunde hervorriefen.
    Gerade über die Anwendung seiner Geschichtsauffassung auf die Kunst hat sich glücklicherweise Marx mit so zwingender Klarheit und durchsichtiger Einfachheit ausgesprochen, daß man hier wenigstens vor allen mißbräuchlichen Auslegungen und Ausführungen sicher sein sollte. Marx war viel zu sehr selbst Künstler und zugleich philosophisch zu tief durchgebildet, als daß er jemals jener Methode der Kunstauffassung hätte verfallen können, die nicht selten heute in seinem Namen versucht wird. Wenn der junge Student Marx seiner „teuren ewig geliebten Jenny v. Westphalen“ ein ganzes „Buch der Liebe“ widmet, so sind die jungen Verse freilich weniger lyrische Kunstwerke als beträchtliche Zeugnisse einer starken leidenschaftlichen und unbeirrbaren Gesinnung. Aber Marx blieb der Vertraute der großen Künstler aller Zeiten und Völker, wie er den bedeutendsten Dichtern seiner Epoche ein verständnisvoller Freund war. Seine Kunstfähigkeit und seine reiche Kunsterfahrung hinderte ihn vor allen theoretischen Verkümmerungen der ästhetischen Welt.
    Karl Marx teilt das Schicksal mit allen großen Denkern, daß ihre mißverständlichen, allzu leicht gefügten Formeln die größte Wirkung gehabt haben, daß sie aber unbekannt und unwirksam bleiben, wo die Quellen ihrer Erkenntnis am reinsten und tiefsten fließen. Der Geschichtsmaterialismus von Karl Marx entfaltet sich in seiner Bedeutung am klarsten in jener fragmentarischen „Einleitung“ zur Kritik der politischen Ökonomie aus dem Jahre 1857, die man ebensowenig zitiert, wie man das „Vorwort“ zu derselben Schrift bis zum Überdruß häufig anführt, um die Geschichtslehre von Karl Marx zu kennzeichnen. In jener Einleitung aber äußert sich Marx völlig unzweideutig über das eigentümliche Problem der Kunst. Von der Kunst sei es bekannt, daß bestimmte Blütezeiten keineswegs im Verhältnis zur allgemeinen Entwicklung der Gesellschaft, also auch der materiellen Grundlage, gleichsam des Knochenbaues ihrer Organisation, stehen. Marx skizziert dann gewisse Beziehungen zwischen der Kunst und der materiellen Grundlage der Gesellschaft. In der griechischen Kunst hätten Eisenbahnen, Lokomotiven, elektrische Telegraphen nicht bestehen können. Wo bliebe Jupiter gegen den Blitzableiter, Hermes gegen den Credit mobilier und was werde aus der Fama neben der Druckerei der "Times". „Die griechische Kunst setzt die griechische Mythologie voraus, d. h. die Natur und die gesellschaftliche Form selbst schon in einer unbewußt künstlerischen Weise verarbeitet durch die Volksphantasie. Dies ist ihr Material.“ Marx wirft die Frage auf, ob Achilles möglich sei mit Pulver und Blei, die Iliade überhaupt mit der Druckerpresse und der Druckmaschine, ob das Singen und Sagen und damit die notwendigen Bedingungen der epischen Poesie nicht verschwinden müßten mit dem Preßbengel, „Aber die Schwierigkeit“, fügt Marx hinzu, „liegt nicht darin, zu verstehen, daß griechische Kunst und Epos an gewisse gesellschaftliche Entwicklungsformen geknüpft sind. Die Schwierigkeit ist, daß sie für uns noch Kunstgenuß gewähren und in gewisser Beziehung als Norm und unerreichbare Muster gelten.“
    Damit ist in einem klassischen Satz das Eigenrecht der ästhetischen Probleme und die in sich ruhende Selbständigkeit der Kunst erkannt und gegen alle platten Anfechtungen gesichert.

[März 1913.]
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