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Kristin Schulz: gesammelte fehlmärchen

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Jan Kuhlbrodt


Form und Beschwörung


Man könnte das Jahr 2014 als das Jahr der Kristin Schulz bezeichnen. Immerhin zeichnet sie als Herausgeberin der schwergewichtigen Ausgabe der Gedichte des Weltdramatikers Heiner Müller verantwortlich. Daneben ist aber auch im Franfurter Gutleut Verlag ein Band mit Schulz' eigenen Gedichten erschienen. Dem Namen nach auch eine Gesamtausgabe, denn er heißt gesammelte fehlmärchen. Und natürlich ist es so, dass zumindest ich einige Zeit brauchte, Müller aus meinem Kopf zu verdrängen, zumal dem Band ein Zitat aus dessen Medea-Material vorangestellt ist. Dennoch merkt man sehr schnell, dass sich Schulz' Texte aus dem Bannkreis Müllers bewegen, ein eigenes Leben entfalten.

Die Autorin wurde 1975 in Jena geboren und studierte Theaterwissenschaften und Romanistik an der Humboldtuniversität Berlin.

Schulz' fehlmärchen arbeiten mit einem eingeschränkten, fast kargen Wortmaterial. Hervorsticht das Wort tot. Insofern trifft natürlich der Begriff fehlmärchen ins Schwarze, enden doch die meisten zumindest deutschen Märchen für die Guten gut und mit der Floskel: Und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie noch heute. Aber der Tod droht dennoch. Und so klopft Schulz Märchen und auch Sprichwörter auf ihr uneingestandenes Bedrohungspotential für die Protagonisten ab.

Eindringlich werden die Texte dadurch, dass sie das Identifikationsmodell, das im Märchen, aber auch in anderer landläufiger Prosa herrscht, nicht aufgeben. Der Tod, der die Protagonisten bedroht, bedroht gleichermaßen den Leser. Aber indem er beschworen wird, wird er gebannt. Das ist ein Moment der Lyrik, das ihr vor der Aufklärung eignete und sie bis heute mit einem gewissen Trotz versieht. Wer ins Unvermeidliche einwilligt, braucht kein Gedicht zu schreiben, auch kein Bild muss er malen, sondern er muss lediglich abwarten, bis ihn sein Schicksal ereilt. Mit dem Warten halten es aber Schulz' Texte nicht. Sie nehmen den Tod vorweg, um ihm zu entgehen. Wort und Beschwörung.


keine frohe Botschaft weckt dich
aus der ruhe des schlafes so


heißt es im Text 65. (Die Gedichte sind nummeriert, haben keine Titel, nur hin und wieder eine Widmung.)

Das formal Interessante an Schulz‘ Texten ist unter anderem, dass der Vers konsequent gegen Rhythmus und Sinn arbeitet, als wolle er den Eindruck einer Harmonie gar nicht erst aufkommen lassen. Dennoch stemmt sich die Rhythmik gegen die Willkür der Zeile. Als wolle sie die Verse retten, offenbart sie den Blankvers im stillen Vortrag. Und hier liegt auch der Link zu Müller, der, wie Brasch in seinen Shakespeareübersetzungen, den Blankvers fürs zeitgenössische Theater rettete und perfektionierte.
Das allerdings und der Verzicht auf Zeichensetzungen im einzelnen Text, die Sätze macht der Rhythmus, ihr Sinn wird durch die Zeile untergraben, macht es geradezu unmöglich, Passagen zu zitieren. Man müsste jeweils zumindest eine ganze Strophe wiedergeben.



Kristin Schulz: gesammelte fehlmärchen. Gedichte. Frankfurt a.M. (gutleut verlag) 2014. 80 Seiten. 15,00 Euro.

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