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Kerstin Preiwuß: Gespür für Licht

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Alexandru Bulucz


Und ist das verständige Wort eine Verschwendung?

Zu Kerstin Preiwuß' Gespür für Licht



I


„Wir wenden unsere Aufmerksamkeit dem zu, was ein Schriftsteller verschwiegen hat, dem, was er hätte sagen können, seinen stummen Tiefen. Hinterlässt er ein Werk, expliziert er sich, dann kann er sicher sein, von uns vergessen zu werden“, schreibt Cioran im ersten Aphorismus seiner Aphorismenreihe Syllogismen der Bitterkeit. Einerseits unterstellt er den Poeten und Philosophen seiner Zeit, absichtsvoll Sachen zu verschweigen, andererseits stellt er seinen Schreibstil vor: Zugänglichkeit und Stringenz sind ihm oberste Prinzipien. Damit nimmt er das Risiko in Kauf, sich und seine Schriften an das Vergessen zu verschwenden.

Es gehört zur Perfidie des Aphoristikers, durch Aphorismen, die auf den ersten Blick zugänglich erscheinen – und kaum eine/r wird von Ciorans Aphorismen das Gegenteil behaupten –, Verständigung vorzutäuschen: Gerade deren Fragmentcharakter erschwert doch massiv deren Verstehen. Das Verstehen von Fragmenten beginnt dort, wo sie aufhören, weil sie per se auf ihr Außerhalb, also auf das, was durch sie nicht gesagt ist, sie aber ergänzen würde, verweisen.

Bevor diese Zusammenhänge ersichtlich werden … Ehe man sich also versieht, dass man qua Licht hinters Licht, das heißt, qua Aufklärung in die stummen Tiefen der Literatur geführt wurde, ist man an sie, die Literatur, schon gefesselt. Aber an die Literatur gefesselt sein heißt zugleich, am Verstehen, das auch durch Literatur in Gang kommt, interessiert zu bleiben, und dies trotz aller Schwierigkeiten des Verstehens.

Zugänglichkeit von Literatur vorzutäuschen, ist die kleinste und daher notwendigste Schnittmenge zwischen den schier unendlichen Möglichkeiten der Literatur und der Ehrfurcht vor ihr, die nicht selten zu ihrer Ablehnung führt. Und Cioran, der keineswegs vorhat, sich und seine Schriften an das Vergessen zu verschwenden, weiß das. Anders gesagt: Er ist ein guter Vermarkter von Literatur.

Anders Oswald Egger – wie es scheint, der in seiner Berliner Rede zur Poesie anlässlich der Umbenennung der Berliner Literaturwerkstatt in Haus für Poesie wohl an einem mächtigen Umbau besagter Ehrfurcht vor Literatur und insbesondere Lyrik arbeitet: „Denn was wird ein Wort sein, wenn ich aufhörte, es zu verschwenden an die Verständigung?“ Diese aus seiner Rede entnommene (glänzend formulierte) rhetorische Frage stellt ganz richtig eine der Grundzüge der Literatur fest, auch wenn Egger mehr aus der eher wortzentrierten Lyrik spricht als aus der eher Narrative akzentuierenden Prosa. Diese postete vor wenigen Tagen die Autorin und unermüdliche Debattenentfacherin Sabine Scho auf Facebook über den ablehnenden Morgenpost-Artikel von Johanna Ewald Wirre Worte des Oswald Egger zur Eröffnung des Hauses. (Das von Sabine Scho Zitierte ist derart klar, dicht und suggestiv, dass es an seiner eigenen Suspension und Herauslösung aus seinem Kontext arbeitet, dessen es an dieser Stelle nicht bedarf.)

Darunter entfaltete sich eine lebhafte Debatte, die sich am besten an einer Kategorie erklären lässt, die Louis C.K. in einem seiner Auftritte als „Of-Course-But-Maybe“ bezeichnet. Natürlich stimmt Eggers Feststellung, wonach ein Wort zum Erlöschen käme, würde es an die Verständigung verschwendet. Das Wort wäre dann Mittel zum Zweck der Verständigung, weshalb es in deren Kontext versinken würde. (Spätestens seit 1960, als Celan seinen Meridian vortrug, stimmt diese Feststellung, auch wenn sie bei diesem nur unter dem Vorbehalt einer ganz bestimmten Geschichte, nämlich einer zwölfjährigen/ einer dreitausendjährigen, stimmen kann, die seiner Poesie eine einzigartige historische Notwendigkeit verleiht. Egger kann unmöglich diese Geschichte meinen, an deren Ende Celan sich an eine derart beispiellose deutsch-jüdische Wiederverständigung verschwendete, dass sie als Verständigung zunächst notwendigerweise zum Scheitern verurteilt war. Auf welcher historischen Notwendigkeit ist Eggers Aussage grundiert? Weswegen sein auf Sprachkritik zurückgehender Angriff auf den Lyrikleser? Um der Sprachkritik willen? Um der Belehrung des der Bildung bedürftigen Lyriklesers willen? Um der absichtlichen Überforderung des Lyriklesers willen?) Aber vielleicht geschieht der Lyrik Recht, dass eine Johanna Ewald in einem in der Tat „üblen Artikel“ (Andre Rudolph) der Morgenpost für die Verbreitung eines Gefühls sorgt, dessen Mitteilung, „auch wenn das nicht so abgesichert ist und nicht 100% korrekt“ (Dieter Gräf), sicher auch bei jenen Zustimmung finden wird, die der Lyrik weder zugeneigt noch abgeneigt begegnen und die daher potenziell als Lyrikleser zu gewinnen sind, denen aber an exponiertester Stelle, wie im Haus für Poesie, von Egger eine Binsenweisheit an den Kopf geschleudert wird, deren bloße Reformulierung als aggressiv und offensiv empfunden werden muss. Und jene sind Journalisten, Mäzene und Steuerzahler. Natürlich stimmt Eggers Feststellung. Aber vielleicht geschieht der Lyrik Recht, wenn ihr die dezidiert Kulturinteressierten den Rücken kehren, weil ihnen die Möglichkeit genommen wurde, sich in der großen Vielfalt deutschsprachiger Lyrik überhaupt umzusehen. Natürlich stimmt Eggers Feststellung. Aber vielleicht führt deren Reformulierung/ deren erneute In-die-Welt-Setzung durch einen unbestritten großartigen deutschsprachigen Lyriker wie Egger, dessen öffentliche Wahrnehmung überdurchschnittlich ist, dazu, dass die Vielfalt deutschsprachiger Lyrik es nicht einmal unter die Augen potenzieller Lyrikleser schafft, weil diese sich in ihrer unbegründeten Ehrfurcht vor Lyrik von Egger bestätigt fühlen und sich denken, es macht sowieso keinen Sinn, Lyrik zu lesen, deren Katz-und-Maus-Spiel ist sowieso nicht zu durchschauen. Natürlich stimmt Eggers Feststellung. Aber vielleicht ist sie verantwortungslos gegenüber der Vielfalt poetischer Schreibweisen, die aufgrund irgendwelcher, durch eine solche Aussage in Gang gebrachter marktbedingter Prozesse, es nicht einmal an die Oberfläche eines Blattpapieres schaffen. Aber vielleicht sollte jener Redner, der bei der Eröffnung des nächsten Poesiehauses sprechen wird, die Ehrfurcht potenzieller Lyrikleser vor Lyrik, die Ehrfurcht, in der durchaus Neugier und natürliche Erwartung stecken, als gut begründete Zensur der eigenen Rede ansehen (nicht der Lyrik). (Jedenfalls richten Forderungen nach mehr Zugänglichkeit in der Lyrik bei weitem nicht so viel Schaden an – auf rezeptionsästhetischer Ebene – wie Forderungen nach verminderter Zugänglichkeit. Denn ja, eine solche bloß reformulierte und geäußerte Feststellung wie diejenige von Egger kann man auch als Forderung verstehen.) Bekanntlich verfeinert Zensur den Stil. So, please don’t feed the troll named „unbegründete Ehrfurcht vor Lyrik“ anymore. Let the readers decide.

II

Und ist das verständige Wort eine Verschwendung? Nicht, wenn es expliziert ist und zugleich verschweigt; nicht, wenn es sich zurückhält, während es sich expliziert; und vor allem dann nicht, wenn es sich unter Zwang expliziert, aus Bedürfnissen und Notwendigkeiten heraus. In diesem Sinn ist Kerstin Preiwuß’ Gedichtband Gespür für Licht beeindruckend. Ihre Gedichte sind zugänglich und stringent. Sie schafft es qua Licht hinters Licht, das heißt qua Aufklärung/ Verarbeitung in die stummen Tiefen der Literatur als Ausdruck von Leiden und Leidenschaft zu führen. So viel Schmerz, auch Verlust, und so viel dann doch wieder Aufgehobenes in der Sprache, die – und das wusste schon Montaigne – die Mutter geistiger Kinder ist; die sind den Kindern aus Fleisch und Blut ebenbürtig, können diese nicht kompensieren, aber auch nicht von diesen kompensiert werden. Preiwuß drückt dies wie folgt aus: „Höre / alle Welt sagt noch geht der Wind. / Ebenso erhebt er sich. / Er legt sich auch nieder. / Die Sprache bekommt dann ein Kind. / Höre / was ich denke ist ein Weizenfeld / was ich fühle der Wind. / Ich bin ein Weizenfeld / durch das August geht / August und Wind.“ (79) Früh in der Lektüre des Gedichtbandes wird deutlich, dass die großen Themen, die behandelt werden, Geburt, Fehlgeburt oder Kindstod, Kindeserziehung sind. In einem Gedicht wird das „Walnusskind“ angesprochen: „Mein Kind ich weiß nicht wann dein Atem riss. / Ich war vergebens um dich.“ (95) In anderen Gedichten rücken Apathie und Gefühlstaubheit ins Zentrum: „Durch das Fenster hört man die Rufe von Kindern. / Es ist Zeit für den Schmerz. / Er ist am Anfang nur ein leises Ziehen. / Ein Wiederhall inmitten der Lautlosigkeit. / Aber er erinnert mich ständig ans Fühlen.“ (105) „Bin von innen wie von außen unberührt. / Nur noch Stimme ihr Gerede. / […] / Nur ein Tropfen fällt von der Nase aufs Kinn. / Wie kann man sich den so verfühlen.“ (133)

Bisweilen liest sich der Gedichtband wie ein trauriges Kinderbuch. Er führt durch alle Jahreszeiten hindurch, ist in vier Teilen gegliedert. Die Stimmung verdüstert sich hin zum Winter. Aber der inhaltlichen Traurigkeit/ Trauer prägt sich formal durchgehend eine kindliche Leichtigkeit ein, die ihren Ausdruck findet in einem – ja, wie sollte das am besten bezeichnet werden? – exzessiven, aber meisterhaften und modernen Umgang mit Assonanzen und reinen wie unreinen Reimen. Die Assonanzreihen und die Reime (ob verschleppte Reime, Binnenreime, Endreime etc.) werden keineswegs forciert eingesetzt – es gibt keine erkennbaren Reimformen, die systematisch verwendet würden –, sondern nur dort, wo die Wörter es erlauben. Zumindest ist dies der Eindruck. Als ob dies gar nicht gemacht sei. Jedenfalls finden sich im Gedichtband keine lästigen Wortumstellungen, etwa wegen einzuhaltenden Metrums oder Rhythmus’.

Im Deutschen Wörterbuch liest man unter dem Lexem „Sprache“ unter anderem: „mnd. sprāken ‚Funken sprühen‘, mnl. sparken, aengl. spearcian, anord. schwed. spraka ‚knistern, prasseln‘“. Durch ihre Assonanzenreihen und Reime bringt Preiwuß ihre Sprache buchstäblich zum Funkeln. Ihre Sprache glitzert. It sparkles, ab und an nüchtern, in den meisten Fällen aufgeladen, nicht nüchtern. Wörter und Redewendungen erhalten neue Bedeutungen, und zwar nicht nur durch die inhaltlichen, sondern auch die klanglichen Kontexte.

Selbst als ein Beitrag zu der durch Orna Donath ausgelösten Debatte um „regretting parenthood“ ließe sich der Gedichtband lesen. Aber den Fehler, schon im Titel Raum für Missverständnisse zu offerieren, macht er nicht. Donaths Studie heißt Regretting Motherhood. Das größte Missverständnis, auch wenn es inzwischen aus dem Weg geräumt wurde: zu verstehen, dass das Kind selbst gemeint und bedauert werde, das heißt der Mensch als Mensch in seiner Existenz, wie auch immer er sei. Das wäre eine Relativierung des Menschen.

In Preiwuß’ Gedichten kann von Bedauern keine Rede sein. Ihre Gedichte sind wie seismische Wellen, die zwischen Erschöpfung, Glück und Wut alles erfassen, was die Kindeserziehung an lebendigen Kräften freisetzt: „Vieles kann ich aushalten / aber du argwöhnische Kröte / hältst meinen Nistplatz besetzt. / Hast mir jeden Bissen aus dem Mund gelesen / und ihn mit deinem Speichel verätzt. / Alle Herrlichkeit mit der ich dich versah / machst du klein bin ich nur da. / Mein Stern geht nicht auf. / Ich hänge schwer daran. / Die Sonne ist ein Luftballon. / Ganz heliumarm. / Du beschwerst mich. / Ich gehe gerade. / Du krumm. / Du Beigewicht sagst noch dazu / du liebst mich so.“ (109) Oder: „Du hast ein Zerrbild von mir aufgestellt / in das du mich stürzen lässt. / Aber ich umarme es. / Du hast mir Linien in die Hand geritzt / mit denen du mir die Zukunft nimmst. / Aber ich kratz sie aus und leg sie neu fest. / Angst du Gespenst im Frolleinskleid. / Meine eiserne Eisheilige / wie du dich an mich hängst. / Ich scheiß auf dich.“ (127).

Und doch steht bei Preiwuß das ein oder andere Gedicht manchmal auf null, so, wenn die Resignation zu stark ist und resignierte Zustände nur noch wiederkehren. Aber sie schreibt vom Tod her, und das ist selten in der Literatur. Das Zentralgedicht des Bandes, und das überrascht nicht, ist eines der letzten Gedichte, ein eher langes, und zudem ein Celan-Gedicht, das wie folgt anfängt: „Heute ist gar nicht schon der vierundzwanzigste. / Heute ist immer noch der einundzwanzigste Januar. / Der heißt doch Januar nicht Jänner. / Aber dort wo ich war am einundzwanzigsten Januar / hieß er Jänner. / Das ist die größte Kraftanstrengung meines Lebens. / Ich bin immer noch da aber auch von gestern.“ (155) „Ich hatte mich, das eine wie das andere Mal, von einem ‚20. Jänner‘, von meinem ‚20. Jänner‘, hergeschrieben. Ich bin … mir selbst begegnet“, schreibt Celan in seinem Meridian via Büchners Lenz. Preiwuß’ lyrisches/ grammatisches Ich ist „auch von gestern“. Das sagt es heute: Wir haben den 21. Januar/ Jänner. Es ist „noch da“, hat irgendwie überlebt. Es kommt von Büchners Lenz, von Celan, von sich, vom Tod her … zu sich, mit einer persönlichen historischen Notwendigkeit. Ein furchteinflößendes Gedicht, ein beeindruckendes.

Dieser Gedichtband? Wie ein Gebäude, dessen Architektur mit Gespür für Dunkelheit, Licht und Schatten entworfen wurde; das setzt ein Gespür für Witterung und Jahreszeiten voraus. Seismographisch Stimmungen erfassend. Düster und heiter zugleich. Von Räumen und Träumen, von Glück und Schrecken. Märchenhaft. Manchmal impressionistisch, manchmal surreal. Im Selbstgespräch, das doch immer auch eine Wendung zum anderen bedeutet, zum unbedarften „Däumling“ (95). „Ich habe kein Gespür für mich selbst / aber ein Gespür für Licht.“ (9) Auf der Klippe zur Selbstaufgabe. „Jeden Tag springe ich / über die Klippe deiner Gegenwart.“ (53) Vielleicht geschrieben von einem Fisch, „bleich und blind“: „Er hatte keine Augen aber ein Gespür für Licht.“ (145)

Und immer diese auf der geraden Zahl freigelassene weiße Seite … vielleicht für weitere (Kalender-)Geschichten (auch der Leser), unverblümt, direkt und klar, nicht an Nüchternheit interessiert, verschwiegen …


Kerstin Preiwuß: Gespür für Licht. Gedichte. München und Berlin (Berlin Verlag) 2016. 18,00 Euro.

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